Bomb Run von KateFromHighburyPark (Eine US-Bomberbesatzung im 2. Weltkrieg) ================================================================================ Kapitel 5: Begegnungen ---------------------- Einen Schritt nach dem anderen. Ganz langsam, nur keine Aufregung. Curtis schnaufte und stützte sich schwer auf Don’s Schulter. Wieso machte der Weg vor ihm Kurven? Wieso blieb er nicht gerade? Und wieso, zum Teufel, sah er alles verschwommen? Er hatte doch nur fünf oder sechs Gläser Whiskey gekippt. War er schon soweit, dass er sich nach so einer lächerlichen Menge einliefern lassen konnte? Don ächzte und schimpfte: „Ich frag’ mich wirklich, wieso ihr Penner euch immer besaufen müsst?“ „Weiß’ nich’, “ murmelte Curtis. „Vielleicht weil das alles sich dann besser ertragen lässt?“ Don gab ihm eine Antwort sondern schleifte ihn weiter den Weg zum Flugplatz entlang. Nach Einsatz Nummer sechs hatten alle ihr Heil in der Flucht gesucht. Sobald die Motoren der Liberty Lilly abgestellt worden waren, stürmten alle aus dem Flugzeug. Der Einsatz war ein Graus gewesen. Das De-Briefing danach zog sich ewig in die Länge, dann endlich konnten sie gehen. Gunny schien direkt losgewandert zu sein, auf nach nirgendwo. Dahin wo ihn garantiert niemand finden würde. Der Mann schien ein Arsenal an Plätzen zu haben, wo niemals jemand nach ihm suchen, geschweige denn ihn finden würde. Sogar Davis, der sonst so trockene Eugene Davis, war mit zum Pub gekommen und saß mit dem vierten Glas Bier an der Theke. Den Kopf hatte er in die Hände gestützt. Ansprechbar war er nicht. Nicht mal das nette Mädchen an der Bar vermochte ihn zu wecken. Oder er wollte nicht geweckt werden, zumindest nicht von dem Bar-Mädchen. Wenn es dagegen Lilly Farrell gewesen wäre… Matt, Don und Curtis waren ebenfalls im Pub zugange gewesen. Zumindest solange bis Curtis stockbesoffen vom Stuhl gekippt war und seinen Mageninhalt über den Boden verteilt hatte. Matt war daraufhin plötzlich weg gewesen. Nur Don war übrig, um Curtis zurück zu den Baracken zu schleifen. Thomps hatte sich mit seinem Mädchen getroffen, Sophie oder wie sie auch immer, heißen mochte. Schon nach gut einer halben Stunde hatten die beiden sich ebenfalls verabschiedet. Auf ins Bett, dachte Don grimmig. Gorsky und Danny waren auf dem Flugplatz geblieben. Wohl die einzigen zurechnungsfähigen Menschen der ganzen Besatzung, dachte Don wütend, als Curtis ihm beinahe wieder von der Schulter gekippt und in den Straßengraben gekippt wäre. Verge hatte sich mit dem Fahrrad abgeseilt. Am Abend noch mit dem Fahrrad in der Landschaft herumzugondeln, Don schüttelte verständnislos den Kopf. Nach weiteren zehn Minuten, in denen er den halb bewusstlosen Curtis Richtung Heimat herumschleifte, hatte Don genug. Er setzte ihn, der nur müde protestierte, am Straßenrand ab. Dann ließ er sich neben ihm, auf dem weichen Grasboden nieder. Trotz dem es Abend war, war es noch sehr warm. Frühjahr 1944, dachte Don. Er konnte es beinahe nicht fassen. Sie waren erst vor gut einem Jahr in die United States Army Air Force eingetreten und hatten ihre Grundausbildung absolviert. November ’43 waren sie nach England gekommen. Genauer gesagt, nach Schottland. Und vor drei Monaten dann in den aktiven Einsatz versetzt worden. Don kam es vor wie eine Ewigkeit. Mittlerweile machten die Alliierten sich zur Invasion auf das europäische Festland bereit. Laut sagen durfte man es nicht, aber natürlich wurde getratscht unter den Mannschaften und Besatzungen. Wieso sonst wurden plötzlich die Bomber verstärkt nach Nordfrankreich geschickt? Als ob Deutschlands Großstädte platt zu bomben noch nicht genug war. Die 8th Air Force hatte so hohe Verluste wie noch nie. Don lehnte sich zurück. Alles was er wollte, war, seine fünfundzwanzig Einsätze heil zu überstehen. Danach wollte er nur noch heim. Heim nach Kansas, auf die Farm seiner Eltern. Und zu Frances, die im Nachbarort wohnte. Allerdings ging mittlerweile das Gerücht um, dass die Air Force- Generäle die Zahl der zu fliegenden Einsätze auf dreißig erhöhen wolle. Don war wütend, die selber mussten ja nicht fliegen. Und sie begründeten es so: Nach fünfundzwanzig Einsätzen befanden sich die Besatzungen auf dem Höhepunkt ihres Könnens, und sie dann abzuziehen wäre Verschwendung. Doch ob dieser Vorschlag durchkam, stand Gott sein Dank noch in den Sternen. Der Abend war noch warm. Sie waren gegen fünf Uhr vom Einsatz nach Essen im Ruhrgebiet zurück gewesen. Ruhrgebiet. Wenn er diesen Namen schon hörte, überzog eine Gänsehaut seine Arme. Die Su Su hatte es erwischt. Die gute alte Su Su. Direkt vor ihnen hatte sie eine Flakgranate erwischt. Sie war aufgeplatzt wie eine überreife Tomate. Geschütze, Fetzen von Uniformen, einfach alles, war umhergeflogen, der Liberty Lilly entgegen. Und plötzlich war bei Gorsky und Chase vorne in der Nase alles voller Blut gewesen. Die ganze Plexiglasscheibe. Die war voller dunkelrotem Blut gewesen. Es zog im Fahrtwind Schlieren. Chase hatte es erblickt und war erstarrt, Gorsky hatte es Don so erzählt. Dann hatte er in aller Seelenruhe eine seiner Papiertüten herausgenommen und seinen Magen darin entleert. Gorsky hatte gesagt, so hatte er Chase noch nie gesehen. So als ob in seinem Körper niemand mehr gewesen sei. So als ob er nur noch automatisch funktionierte. Chase hatte sich wieder an seinen Tisch gesetzt und weitergemacht, als sei nichts gewesen. Vielleicht war das alles zuviel, dachte Don. Vielleicht hatte Chase deshalb, nach dem De-Briefing, die Beine in die Hand genommen und war davongelaufen. Bisher war er noch nicht zurückgekehrt. Und wohin er gelaufen war, wusste auch keiner. Erst nach der Landung war der Schock gekommen, hatte Davis vermutet. Und damit musste Chase erstmal allein fertig werden. Sie konnten nichts dagegen tun. Sie konnten nicht zu ihm sagen, ‚Alles wird wieder gut’, denn das wurde es nicht. Chase’ Blick war auf den Feldweg gerichtet. Doch er sah nichts. Vor seinem inneren Auge sah er nur die blutverschmierte Scheibe, dann zog alles wieder wie ein Film, ein schlechter Film, an ihm vorbei. Zuerst der Bombenzielanflug, überall Flak und kleine Explosionswolken. Das ganze Flugzeug hatte gebebt. Danach die Wende, dann plötzlich überall Jäger, und die Flak war weg. Die Jäger begannen ihr Gemetzel mit der oberen Staffel. Und dann sah er sie vor sich. So, als ob er von hinten zusehen würde. Er sah sich, und Gorsky, wie er über dem Bombenzielgerät hing. Dann hörte er den Knall und erblickte die Su Su, in dem Moment, in dem sie getroffen wurde. Sie platzte. Sie platzte einfach so. Mitten im Rumpf hatte es sie erwischt, auf Höhe des Funkers. Der Funker musste sofort tot gewesen sein. Dann sah er das Blut, wie es gegen die Scheibe klatschte, oder was gegen die Scheibe geknallt war, konnte er nicht sagen. Aber es hinterließ einen sternförmigen Fleck, der im Wind Schlieren zog. Ihm wurde plötzlich schwarz vor Augen und er sank auf die Knie. Er spürte die Steine auf dem Weg, wie sie sich schmerzhaft in seine Knie bohrten. Er hatte den dicken Schaffelanzug irgendwo hinter der Baracke ausgezogen und liegen lassen. Er trug nur noch seine normale Uniform. Ihm war alles egal. Er wollte nichts mehr sehen und hören, nur noch weg vom Flugplatz und allen Leuten dort. Und er wollte die Plexiglaskuppel der Lilly nicht sehen, wie sie vom Blut eines der Männer der Su Su befreit wurde. Er kam irgendwie wieder auf die Beine und schleppte sich mühsam weiter. Dabei stützte er sich an dem Weidezaun ab, um nicht wieder umzukippen. Denn dann würde er am Boden liegen bleiben. Er zerrte sich weiter und weiter, einen leicht ansteigenden Hügel hoch und hielt dann inne. Vor ihm lag das flache Lincolnshires. Verdunkelt zwar, aber ein fahler Mondschein hüllte es in blasses Licht. Bombermond, dachte er unwillkürlich. Sein Blick richtete sich zum Himmel. Zu dem Himmel, wo sie vor ein paar Stunden noch die härteste Abreibung aller Zeiten abbekommen hatten. Die Staffel hatte von zwölf Flugzeugen vier verloren. Wenn das so weiterging, dann waren die Verluste schon bald nicht mehr ersetzbar. Chase wusste, dass spätestens übermorgen neue Besatzungen mit Flugzeugen eintreffen würden. Sie würden nicht mal so lange dableiben, damit man sich ihre Namen merken konnte. Ihm kam es vor wie eine halbe Ewigkeit. Verge trat heftig in die Pedale, um sein klappriges Fahrrad über den Hügel zu zwingen. Dann stöhnte er. Der Weg schlängelte sich vor ihm weiter in die Ferne. Er wusste nun genau, dass er sich völlig verfahren hatte. Auf dem Hinweg war er garantiert über keinen Hügel gefahren. Nach dem Einsatz hatte er nur so schnell wie möglich weggewollt. Genau wie der Rest der Crew. Er warf einen Blick unter sich. Vor einer Weile hatten er und die anderen zusammengelegt und dieses alte Fahrrad einem Dorfjungen abgekauft und wieder instand gesetzt. Es war eine Heidenarbeit gewesen, aber es hatte sich gelohnt. Jetzt konnte immer derjenige damit fahren, der es sich als erstes packte. Heute war er der glückliche. Normalerweise hatten sie gegen Gunny selten den Hauch einer Chance. Gunny war immer sehr schnell aus dem Flugzeug heraußen, dass die anderen sich nur fragen konnte, wohin er eigentlich so schnell wollte. Matt vermutete, dass er ein Mädel im Dorf hatte. Davis sagte, der Gute wolle eben auch mal seine Ruhe haben. Woraufhin Matt sich wieder aufregte, dass sie alle doch gar nicht so schlimm seien, dass man gleich seine Ruhe brauchte. Davis schmunzelte dann nur vielsagend. Verge bremste und stützte sich und das Rad mit einem Bein ab. Es war stockdunkel. Obwohl nicht ganz, der Mond schien ja. Allerdings hatte das Fahrrad keine Lampe und er wollte auch nicht irgendwo blind dagegen scheppern. Deshalb fuhr er langsam, zu langsam wie es ihm vorkam. Zumindest bewegte er sich seiner Meinung nach im Kreis. Aus den Augenwinkeln erblickte er plötzlich einen Lichtschein, der gleich wieder verschwand. Irgendwo war gerade eine Tür geöffnet und wieder geschlossen worden. Er hielt es für ein Bauernhaus, stieg ab und schob das Fahrrad in diese Richtung. Chase saß ihm kam es schon mindestens eine Stunde vor, neben einem Weidegatter und starrte in den Himmel. Um ihn herum zirpten Grillen ihr letztes Lied, bevor sie ebenfalls zur Nachtruhe verstummten. Er warf einen Blick auf die Uhr. Schon elf. Aber sie würden morgen nicht fliegen, soviel wusste er. Davis hatte es ihm nachgebrüllt, als er nach dem De-Briefing losgezogen war. Sie würden auch am übernächsten Tag nicht fliegen. Die Lilly sah ziemlich mitgenommen aus. Als Verge’s Kugelturm weggeschossen worden war, hatten die Mechaniker vier Tage gebraucht, um sie wieder fit zu machen. Dann waren sie wieder in der Luft gewesen. Verge’s Armverletzung hatte sich als nicht sehr schlimm herausgestellt. Es hatte nur viel geblutet. Der Sani hatte ihn zusammengeflickt und ihm vier Tage Ruhe verordnet. Genauso lange wie die Lilly außer Gefecht gewesen war. Und dann war es weitergegangen. Als ob niemals etwas gewesen wäre. Nur dass die Lilly ein wenig mehr im Flugwerk knirschte, als sonst. Zehn Einsätze standen nun auf ihrem Rumpf. Und ein neues Balkenkreuz, für den Jäger den Danny heute erwischt hatte. Plötzlich hörte er ein Rascheln hinter sich. Er fragte sich, ob ihm seine überreizten Sinne einen Streich gespielt hatten. Doch da war es wieder. Ein leises Rascheln. Wie ein Tier, das durchs Gebüsch kroch. Er drehte sich langsam um. Da legte sich eine Hand auf seine Schulter und er erschrak beinahe zu Tode. Er machte einen Sprung zur Seite und hörte jemanden kichern. Nun war er wirklich verrückt geworden. Es konnte gar nicht anders sein. Entweder hier gab es ein Moor und Irrlichter spukten herum, oder er hatte diese Krankheit, die mit den überlasteten Nerven zusammenhing. Vielleicht hätte er doch keine so großen Schlucke aus dem Flachmann nehmen sollen. Doch dann tauchte die Gestalt vor ihm auf und er erkannte einen Menschen. Und dieser Mensch ging vor ihm in die Hocke. Dann wurde eine Taschenlampe angeknipst und ihm ins Gesicht geleuchtet. Es blendete ihn, er begann zu fluchen und hielt sich die Hand vors Gesicht. „Was soll denn der Mist?“ „Sind Sie einer vom Flugplatz?“ kam es als Gegenfrage. Er nickte und griff nach der Taschenlampe. Als er sie der Gestalt entgegenleuchtete erkannte er einen jungen Burschen mit einem Schopf kurzer blonder Haare. Moment, das war kein Bursche. Chase stutzte. „Sie sind ’ne Frau?“ Sein Gegenüber kicherte leise. „Die Frage bekomm’ ich öfters zu hören. Vor allem wenn’s dunkel ist.“ „Was wollen Sie hier?“ Sie nahm ihm wieder die Lampe aus der Hand. Ließ sie aber ausgeschaltet. Dann setzte sie sich neben ihn und lehnte sich ans Weidegatter. Er fragte sich, was hier ablief, da tanzte jemand mitten in der Nacht an und störte ihn. „Ich kam denselben Weg wie Sie. Ich hab gesehen, als sie in die Knie gingen. Aber Sie kamen ja von selbst wieder hoch.“ Chase nickte nur, egal ob sie ihn sehen konnte, oder nicht. „Und was wollen Sie hier?“ „Ich arbeite auf dem Bauernhof als Landmädchen.“ Chase blickte sich um, er sah keinen Bauernhof. Sie lachte wieder. „Da unten.“ Sie zeigte geradeaus und Chase konnte vage einen dunkeln Umriss ausmachen. Er sah sie an. Im Dunkeln sah er nur die Silhouette ihres Gesichtes, die sich gegen den Sternenhimmel abhob. Sie hatte eine Stupsnase, volle Lippen und diesen widerspenstigen blonden Haarschopf, der ihm vorhin schon aufgefallen war. „Wie ist Ihr Name?“ „Erica Pomeroy. Und Sie?“ „Casey Brandt. Man nennt mich aber nur Chase.“ Sie sagte nichts, sondern lehnte sich ein Stück vor. Dann streckte sie die Hand aus und zeigte in den Himmel. „Sehen Sie den großen Wagen?“ fragte sie. „Klar“, sagte er verdutzt. Was wollte sie denn jetzt mit den Sternbildern? „Bei mir zuhause seh’ ich ihn aus dem gleichen Winkel wie hier jetzt.“ Chase dachte, jetzt müsse er wohl fragen, woher sie kam. Aber er wusste nicht, ob das nicht ein wenig seltsam war. Immerhin hatte sie ihn im Dunkeln erschreckt. Und er kannte sie nicht einmal. Und was sollten solche Gespräche mitten in der Nacht? „Ich komme aus Schottland“, fuhr sie fort. „Aus Montrose.“ Sie wandte sich zu ihm. „Das kennen Sie bestimmt nicht. Sie sind doch einer vom Flugplatz, oder? Ein Amerikaner?“ Er nickte. „Wo wohnen Sie?“ Er schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter, der sich immer dann bildete, wenn er an zuhause dachte. „Klamath Falls, Oregon.“ „Wie ist es dort?“ Er merkte, wie sehr ihm das zusetzte. Der Kloß wurde dicker. Er wischte sich hektisch über die Augen. Plötzlich merkte er, wie sie seine Hand nahm. „Tut mir leid“, flüsterte sie. „Tut mir leid, wenn ich zu direkt war. Ich verstehe es. Ich kann auch nicht an zuhause denken, ohne es zu vermissen.“ Er blickte in ihr Gesicht. Im fahlen Mondschein konnte er sie jetzt gut sehen. Ihre Augen glänzten, sie sah ihn verständnisvoll an. Dann plötzlich brach alles aus ihm heraus, wie eine Flut. Tränen schossen ihm in die Augen und er stöhnte gequält auf. Sie legte eine Hand an seine Wange und zog seinen Kopf sanft an ihre Brust. Dann flüsterte sie ihm leise Worte zu. Sie wusste, es würde ihm helfen, wenn er es herausließ. Die Männer, die da oben Schlachten schlugen, durften nicht alles in sich hineinfressen und daran kaputtgehen. Sie mussten weiterkämpfen. Auch gegen sich selbst und ihre Ängste. Verge stand vor der Tür des alten Bauernhauses und klopfte dann leise. Eine ältere Frau öffnete ihm und spähte misstrauisch hinaus. „Ja, bitte?“ Verge begann zu stammeln. „Ich wollte nur fragen, äh, wo es denn zum Flugplatz geht. Äh, ich hab’ mich nämlich verfahren, wissen Sie.“ Die ältere Dame blickte ihn zuerst an, als habe er nicht mehr alle beisammen, aber dann verzog sich ihr Gesicht zu einem Lächeln. „So spät noch am Weg, Junge?“ Verge nickte beklommen. „Leider.“ „Sie sehen mitgenommen aus, mein Junge. Wieso kommen Sie nicht kurz rein zu uns?“ Ehe er sich versah, stand er in einer großen, gemütlich eingerichteten, Stube. An einem Ende befand sich die Küche, dann wurde das Zimmer etwas breiter und ging in das Wohnzimmer über. In einem Sessel saß eine, Zeitung lesende, Gestalt, die sich jetzt umdrehte. Der ältere Herr sah Verge prüfend an. Verge zog sich seine Mütze vom Kopf und hielt den Blick gesenkt. Ihm war es unangenehm, mitten in der Nacht hier so hereinzuplatzen. Die Frau winkte ihn an den Tisch, gegenüber dem Sessel des Mannes, und bedeutete ihm Platz zu nehmen. Zwei Minuten später stellte sie ein dick mit Butter bestrichenes Brot und eine Tasse Tee vor ihm ab. „Lassen Sie es sich schmecken, Jungchen. Wir haben genug davon. Ich bin übrigens Margaret Winterbotham. Sie können mich Meggie nenne.“ Verge war überwältigt von soviel Freundlichkeit und griff nach dem Brot. Die beiden Bauersleute stellten ihm einige Fragen, hauptsächlich aber Meggie, ihr Mann hielt sich zurück und schaute ihn misstrauisch an. Zwischen den Bissen versuchte er sie weitestgehend zu beantworten. Sie fragte nach Amerika und nach seinen Kameraden. Nur, was sie in Deutschland bombardierten, das fragte Meggie nicht. Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und seufzte. „Sie erinnern mich an unseren Sohn.“ Verge schluckte seinen letzten Bissen Brot hinunter. „Ist er auch bei der Armee?“ Doch schon als er sie aussprach, kam ihm die Frage blöd vor. Die beiden Leute waren beide mindestens sechzig oder siebzig. Ihr Sohn würde wohl kaum mehr bei der Armee sein. Meggies Augen wurden feucht. „Er ist gefallen. 1916 bei Verdun.“ „Das tut mir leid.“ Verge senkte den Blick, doch sie legte ihm eine Hand auf den Arm. „Schon gut. Sie können das ja nicht wissen.“ Der Mann raschelte mit der Zeitung und lugte dann dahinter hervor. „Und jetzt sind wir so alt, dass wir nicht mal mehr allein den Bauernhof bewirtschaften können. Jetzt haben sie uns zwei Landmädchen geschickt.“ Mit ‚die’ meinte er wohl die Regierung, dachte Verge. Und von den Landmädchen sprach er auch abfällig. Meggie seufzte. „Mein Mann glaubt, dass die Mädchen die Arbeit nicht schaffen. Aber unsere beiden Mädchen, Erica und Anne heißen sie, sind beide sehr gute Arbeiterinnen. Außerdem haben wir ja noch den alten Reg, der ihnen hilft.“ Verge schaute fragend. „Reg ist unser Farmarbeiter. Schon seit vielen Jahren,“ erklärte sie. Der Mann schaute ihn wieder an. „Und wer sind Sie? Stellt man sich nicht vor? Ist das in Amerika so üblich?“ Verge wurde rot. „Lass’ den Jungen in Ruhe, Sam“, schimpfte Meggie. Doch Verge räusperte sich. „Ich bin Private Virgil Claiborne, ich bin Kugelturmschütze.“ Sam’s Gesicht erhellte sich. Anscheinend hatte Verge es doch irgendwie geschafft sein Interesse zu wecken. „Erzählen Sie mehr davon.“ Verge holte Luft, warf einen kurzen Blick zu Meggie, die ihm ermunternd zunickte, und erzählte ihm von seiner Grundausbildung, von seinen Aufgaben und erklärte ihm die Technik. Dann erzählte er von der Liberty Lilly. Zum Schluss fügte er hinzu: „Und Sie können mich Verge nennen.“ Sam lachte auf und Meggie lächelte ebenfalls. Schließlich machte Verge sich auf den Weg. Sam klopfte ihm auf die Schulter, als er und Meggie ihn zur Tür begleiteten und ihm kurz den Weg erklärten. „Besuch’ und doch bald wieder, “ rief ihm Meggie zum Abschied nach. Verge winkte zurück. Chase wusste nicht, wie lange er so mit Erica dagesessen hatte. Doch es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Sie flüsterte ihm sanfte tröstende Worte zu, solange bis er nicht mehr weinen konnte. Solange, bis alles aus ihm heraus war. Er richtete sich auf. Sie ließ ihre Arme los. „Tut mir leid“, murmelte er. „Sie müssen mich für ein absolutes Weichei halten.“ Sie schüttelte den Kopf und sagte nichts. Ihr Gesicht aber sagte ihm alles. Sie hielt ihn nicht für ein Weichei, sie hielt ihn für mutig, dass er seine Gefühle zuließ. „Ich muss gehen“, sagte er und stand auf. „Zurück zum Flugplatz?“ Er nickte. „Wir fliegen zwar zwei Tage nicht, aber …“ „Soll ich dir den Weg zeigen, Chase?“ Sie benutzte zögerlich seinen Namen und erhob sich ebenfalls. Die Grillen waren mittlerweile verstummt. Die Stille im Land war herrlich. Kein Motorengrollen, keine Geschützdonner, keine MG-Salven. Nur Stille. Nicht mal die Natur wagte es noch, Geräusche zu machen. Es war, als warte alles nur darauf, dass ein neuer Tag anbrach. Sie stand dicht vor ihm und blickte ihn an. „Zeigst du mir den Weg?“ fragte er leise und nahm ihre Hand. „Gern.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)