Das fünfte Zeitalter von Gabriel_deVue (1. Die Suche) ================================================================================ Prolog: Das Debakel ------------------- Ein dünnes Lächeln begleitete Fanfans überrascht in die Stirn gezogenen Augenbrauen. „Sind wir unerwünscht?“ Lydia sagte trotzig: „Ja!“, wurde aber von Sjus „Nein, natürlich nicht“ übertönt. Er fuhr ausdruckslos fort: „Wir fühlen uns durch Eure Anwesenheit geehrt, Fanfan von den Kulangalay.“ Eisklar und grau durchbrach Fanfans Blick eine Schicht nach der anderen in Lydias kindlichem Schutzwall. Die Taube und der Frosch Die Torwachen zur Universitätsstadt Elidée unterdrückten mit Mühe ihr Gelächter, als die Nachhut der lange erwarteten Gesandtschaft der Hochmagier eintraf. Die Nachzügler bestanden aus einem verhältnismäßig kleinen Elfen mit feuerrotem Haar und einem beeindruckend dreckigen Kind. Der Elf saß von seinem erschöpften Pferd ab und stellte sich vor: „Sju von den Fabilé, Leibwächter von Lydia von Cuurône.“ Das war alles, was er sagte, um das kleine Schlammmonster vorzustellen. Der Hauptmann der Wache, der heute zum Empfang der hohen Gäste selbst den Vorposten besetzt hatte, stellte seinen dampfenden Krug ab erhob sich. „Ihr seid nicht um Eure Arbeit zu beneiden, Sju.“ Sju stieß einen langen Seufzer aus, beschloss aber zur allgemeinen Freude, das Thema zu wechseln: „Wann beginnt die Konferenz?“ Der Hauptmann antwortete in einem sachlicheren Ton: „In zwei Stunden. Die Kammern sind vorbereitet.“ Liebenswert zornig verkündete das Kind: „Und ich werde kein Kleid tragen!“ Sju schürzte die Lippen, ignorierte den Kommentar und fragte den Hauptmann. „Ich sehe Euch heute Abend im Ratskeller?“ Der Hauptmann klopfte dem Pferd des Elfen auf die Flanke. „Auf meine Rechnung.“ Als die beiden sich ein Stück vom Stadttor entfernt hatten, hörte man die Kleine wieder zetern und Sju geduldig antworten. Erst, als die zweite Torwache kommentierte: „Er hat Lydia von Cuurône tatsächlich am Sattel festgebunden“, brach die Runde in schadenfrohes Gelächter aus. Lydia zerrte an den weichen Seilen. „Dafür verlierst du deinen Rang! Du kannst mich nicht einfach anketten! Bin ich ein Sklave?!“ Sju löste zwar die Bänder vom Sattel, dachte aber nicht daran, Lydia freizugeben. Er hob sie von dem Pferd und warf sie über seine Schulter. Wenig später fand sich Lydia mitsamt ihrer Kleidung in einem warm gefüllten Waschzuber wieder. „Das kannst du mir nicht antun!“, schimpfte Lydia in einer Mischung aus Ersticken und Gurgeln, als Sju sie unter Wasser drückte. Er zog ihren Kopf an den Haaren heraus und ließ seine kräftigen Hände Schaum in ihrem Kopfgestrüpp verteilen. „Ich kann das selbst! Ich bin keine zwei Jahre mehr alt!“ „Ich hatte dich sogar in deiner Sprache darum gebeten, in der Nähe der Pferde zu bleiben. Wir mussten die halbe Stunde Rastzeit einhalten! Kurz darauf klettere ich in eine Felsspalte, weil mein kleines, königliches Monster in ein unterirdisches Schlammloch gefallen ist!“ Lydia packte die Aufregung. Sie zog sich am Rand des hölzernen Waschzubers hoch und wich seinen erschöpften Händen munter aus: „Sju, Sju, hör mir doch mal zu! Du wirst es nicht glauben! Ich hab das Nrojerg Petila gesehen!“ Ihr Lehrer sah für einen Augenblick aus, als wäre ihm tatsächlich gekündigt worden, dann lächelte er: „Und ich glaube es auch nicht.“ Lydia fluchte: „Dummelf! Wir haben’s doch in Ennis Büchern gefunden und die stimmen immer und als ich das letzte Mal mit Enni in der Schatzkammer war, hat sie mit Jumot auch darüber geredet! Das gibt es! Und ich hab es gesehen!“ Lydia hatte also wieder einmal die Magier belauscht. Als sie das erste Mal mit dem Nrojerg Petila anfing, nutzte Sju das aus, um sie drei Tage mit einer spannenden Suche und einer gefälschten Karte zu beschäftigen, aber dass es sich bei diesem Artefakt um einen reinen Mythos der Menschen handelte, hatte sie noch nicht begriffen. Er hatte sogar Schwierigkeiten, ihr überhaupt zu beweisen, dass die Drachen die Welt schon längst verlassen hatten. „Es sah aus wie eine Krone! Nein, es war ein Stab! Ein ganz großes Juwel! Mit Glitzer!“ Sju wusste genau, was Lydia gesehen hatte und pellte ihre Hände vom Rand des Waschzubers. „Das war dein Spiegelbild im Höhlensee. Wenn es dieses Zauberding überhaupt gibt, dann findest du’s garantiert nicht in einem Menschenland! Und jetzt...“ „Sju! Ich bin groß und vernünftig! Ich weiß, was ich gesehen habe! Und der Marschall Chrenos hat es auch gefunden!“ Sju stupste ihr auf die Nase: „Maschall Chrenos ist ein Märchenheld, der mit seinen zwei Gesichtern und vier Armen eindeutig Glaubwürdigkeit verdient! Jetzt halte endlich still!“ Sie starrte ihn so finster an, dass Sju sich ein Lächeln nicht versagen konnte; seine kleine Schülerin war kaum zehn Jahre alt. „Du hast angefangen!“, beharrte sie und spritzte ihm Wasser ins Gesicht. „Hol tief Luft!“ Bevor Lydia einatmen konnte, presste er sie wieder unter Wasser und löste den gröbsten Teil des Schaums aus dem rabenschwarzen Haar. „Ah!“, er zog seine Hand aus dem Wasser. Lydias dunkler Blick tauchte unter einer Schaumkrone mit fürchterlich geröteten Augen und Sternchenwimpern durch die Oberfläche. „Hör zu, Elf, ich beiß so was wie dich nicht noch einmal, das nächste Mal steche ich zu!“ Sju lachte vergnügt und goss ihr kaltes Wasser über den Kopf. Mit einem Mal sah das kleine Gespenst wie ein recht verlorenes Mädchen aus. „Mit deinen eingerissenen Fingernägeln? Mit deinen Milchzähnchen? Mit deinen Holzschwertern?“ Sju staunte, als er ein silbernes Funkeln auf sein Bein zielen sah. Er fing den Dolch ab und schaute ihn sich an. „Du bist tatsächlich lernfähig. Das ist eine von Enetias Waffen und keiner weiß so recht, was sie verursachen könnten.“ Lydia knurrte: „Die habe ich Elfentöter getauft. Besonders rothaarige Elfen verenden qualvoll, Fabilé. Nervige, ungehorsame Fabilé, die ... WAGE ES NICHT!“ Er stupste sie wieder unter Wasser und zog sie mit einem Mal aus der Wanne. Für sie folgten ein Schlag aus eiskaltem Wasser und dann ein warmes, weiches Handtuch. Sju rollte sie mitsamt ihrer triefenden Kleidung ein und warf sie wieder über seine Schulter. Er pfiff eines seiner Liedchen, als er aus dem Badesaal trat, der nun eher einem Schlachtfeld von Seife gegen Schlamm und Handtücher glich. Seine eigenen roten Haare hatten jedem Versuch widerstanden, in einen Zopf gebannt zu werden und die farbenfrohe Kleidung hinterließ eine breite Wasserspur, als er in den Gästebereich der Konferenzhallen Elidées stieg und dank des Geschreis seiner Schülerin einige besorgte Kammerzofen aus den Gemächern lockte. Sju ließ sich erschöpft neben Lydia auf das Gastbett fallen. „Und dafür bin ich den ganzen Weg aus Solay angereist!“ Lydia zerrte an ihren Handfesseln. „Das ist nicht gerecht! Du hast keine Chance gegen mich, wenn ich meine Hände frei habe! Feigling! Komm her, du, du, du Baumhausbauer!“ Sju rollte sich herum und stützte das Kinn in eine Handfläche. „Ich gehörte zu den besten Kämpfern an der Schule von Kuren Erit! Ich bin ein Geistwandler, ein Beschützer. Du bist noch zu jung, um wirklich mit dem Training anzufangen. Dein Geist sprüht zu viele Funken, um von einem erwachsenen Geistsseher gebannt zu werden. Zudem hast du alle deine Kammerdamen - selbst die Eunuchen, welche dich wirklich goldig fanden - vergrault und so bleibt es sogar an mir, dich herzurichten.“ Sie schob ihr Kinn vor. „Wir können es auskämpfen! Komm. Sei ein Mann, Elf.“ Sju grinste sie an und sprang auf sie zu, um ihr mit einem Handtuch durch die Haare zu wuscheln. Kurz vor der Eröffnungsrede hatte Sju seine schwierige Arbeit beendet. Vor ihm stand Lydia von Cuurône mit verschränkten Armen und schaute demonstrativ zur Seite. Nie hatte man eine Prinzessin mit einem finstereren Blick gesehen und schon gar nicht eine Repräsentantin des Kronhofes der Weißmagie. Ihre Hände waren vor dem Korsett verschränkt und die blassen Lippen formten einen Schmollmund. Wenn er Lydia herrichten wollte, war es am wichtigsten, die ganze Zeit mit ihr zu streiten, um sie davon abzulenken, dass sie für ihre Rolle aufgeputzt wurde. Sein freundliches Gesicht wurde plötzlich etwas ernster. Er ging in die Hocke und strich ein paar ungeschnittenen Haare aus dem Rabengesicht. „Ich muss dir nicht erzählen, wie wichtig das für uns alle ist. Von dir wird nur erwartet, dass du auf deinem Platz sitzt, ‚Ja, Euer Ehren’ oder ‚Mylady' oder ‚Eure Majestät' sagst und brav und artig bist.“ Sju wartete auf ihre Zustimmung. Da er so lange still war, schielte sie ihn aus einem Auge an. Als sich die Blicke trafen, hob sie ihre Nase noch höher und schloss die Lider wieder. Sju fiel seufzend ein: „Da du sicherlich nicht die Titel der anwesenden Personen gelernt hast, sag lieber gar nichts. Es geht hier nicht mal um dich.“ Lydia gab sich selbst einen kleinen Stoß. „Waffenstillstand, aber das heißt nicht, dass ich aufgebe. Wenn ich da raus bin, kannst du was erleben!“ Sju schüttelte den Kopf. „Enetia hat wirklich alles versucht, dich von dem Fest ausschließen zu können, aber nicht einmal sie konnte etwas ausrichten. Es kann doch nicht angehen, dass gerade unser Königshaus in Cuurône ein derartiges Problem mit seinen Nachfolgern hat! Du könntest Enetia dankbar sein, dass sie dir zuliebe wenigstens etwas versuchte!“ Lydia war am Tiefpunkt ihrer Verbitterung: „Was erwartest du von einer vierzehnjährigen Besserwisserin, die allen beweisen muss, wie erwachsen und großzügig sie ist?“ Sju ermahnte sie: „Vorsicht. Gerade du solltest deiner Schwester etwas Resp...“ „Ja, sie ist toll. Und schön. Und allwissend. Und begabt. Wenn sie den Mund aufmacht, fliegen die Schmetterlinge heraus und Blumen blühen wieder und die Für Immer Versiegte Quelle sprudelt einen Jungbrunnen. SJU! Sie hat auch Fehler!“ Sju sah aus, als hätte er dieses Gespräch nicht zum ersten Mal geführt. Er wandte sich ab und sammelte die benutzten Handtücher auf. „Beispiele?“ „Sie... sie... sie...“ Es wurde eine Weile still. „SIE IST MEINE SCHWESTER!“ Unzufrieden mit sich, dem Tag, der ganzen Welt drehte sich Lydia weg und befahl: „Na los, mach mir die Haare fertig! Und, ja, ich werde ein braves Mädchen sein.“ Lydia hasste Himmelblau und sie kam sich vor, als wäre sie nur als Kontrast neben ihre Schwester gesetzt worden. Lydia sah körperlich älter aus, Enetias Wachstum hatte seit ihrem sechsten Lebensjahr stark zu stagnieren angefangen. Die Fünfzehnjährige wirkte kaum älter als acht Jahre. Dennoch hatte Enetia einen weitaus wärmeren und beeindruckenderen Effekt auf die Menschen. Wenn Enetia einen Raum betrat, begleiteten Licht und Frühling ihre Gestalt. Ihr Lächeln ließ selbst die hartnäckig störrischen Falten auf Lydias Stirn ab und zu verschwinden. Lydia wusste ganz genau, dass ihre Schwester das Paradebeispiel einer Königin sein würde und ihre Reife bezauberte manche älteren Gesprächspartner. Sie war höflich und bescheiden und schön und fütterte Tauben. Lydia hatte für diese Fälle Steinschleudern. Leider konnte sie ihrer Schwester kaum noch Streiche spielen, da Enetia zu allem Übel eine hervorragende Magierin war und noch nie in ihrem Leben mit Lydia spielte. Der Norm entsprach ihr jetziger Magiergrad keineswegs und Lydia schien die Einzige zu sein, der das unheimlich vorkam. Lydia beruhigte sich damit, dass ihre Schwester noch nie in der Kanalisation Räubern folgte und gesehen hatte, wie die Gossenviertel lebten oder schon einmal betrunken war. Sie würde wahrscheinlich sowieso nur Brot in die Menge werfen. Zum Alljahresfest, vielleicht. Lydia hatte natürlich auch noch keines dieser Dinge gemacht, was sie nicht davon abhielt, trotzdem davon zu erzählen. Lydia verstand nicht ganz, was die Würdenträger hier versuchten und hatte insgeheim einen kleinen Trick vorbereitet: Tischdecke verschwinden lassen. Doch als sie ein paar der Gesichter um den legendären Tischring aus fossilem Holz erkannte, ließ sie ihre Hände in den Schoß sinken. Nicht nur ihre sonst so vielbeschäftigte Mutter hatte an der Tafel platzgenommen, da waren Mons Gremium, die Zeitenwächter, die Vereinigten Königreiche der Elementarländer, verschiedenste Repräsentanten der Elfenhäuser, die Grafen der Chaosländer und direkt gegenüber an der runden Tafel erblickte Lydia das erste Mal die Familie von Anfers. Sie hatte nie Bilder gesehen, aber sämtlicher Zweifel löschte sich aus ihrem Gesicht. Direkt neben ihnen saß der Clanführer der Kulangalay, Fanfan, und genau deshalb mied Sju hartnäckig den Blick in jene Richtung. Fabilé und Kulangalay hatten zwar offiziell Frieden miteinander, bekämpften sich in den reichen Wäldern Solays aber wie Feuer und Wasser. Lydia lächelte - eigentlich kamen die Elementarreiche trotz diesem Vergleich wie Erbsen miteinander aus. Jeder Versuch von ihr, eine Frage an Sju zu stellen, wurde mit einem kleinen Stoß seines Fußes unter dem Tisch unterbunden. Lydia warf feindselige, düstere Blicke zu dem Königshaus von Anfers. Sie hatte den Kulangalay-Führer öfter in Verhandlungen mit ihrer Mutter beobachtet und sie mochte diesen schleimig, schleichenden Diplomaten Fanfan nicht wirklich. Damit hörte sie erst auf, als der Kulangalay sie plötzlich direkt anstarrte. Seine einskalten Augen waren ihr so unheimlich, dass sie zusammenzuckte und nach Sjus Ärmel griff. Eine Zeremonie. Zu Ehren der Vereinigung der Länder. Frieden sei eingekehrt. Und dabei erzählte Sju ihr immer wieder von Stammeskriegen und Konflikten. Aber Politik war ihr sowieso viel zu gefährlich. Da konnte man keine Frage mit einem Wort beantworten, es sei denn, es hieß 'Krieg'. Nach zwei Stunden verließen die weltlichen Herrscher und Abgesandten die Zusammenkunft. Die Magier berieten ihr Übereinkommen weiter. Das Festtagsdebakel Lydias Königshaus hatte zu einer Abendgesellschaft geladen. Die war Sjus wirkliche Bewährungsprobe. Lydia für eine Stunde ruhig zu halten, funktionierte mit etwas Geschick und süßen Versprechen, aber hier wurde Diplomatie erwartet. Direkt nach der Konferenz begleitete Sju seinen Schützling in die geschäftigen Hallen, die sich allmählich mit Abgesandten füllten. Während sich die meisten Anwesenden grüßten, mied man Lydia, die als unfreundlich und unvernünftig galt. Sie füllte ihren Teller munter mit Süßigkeiten und bemerkte schnell, dass Sju sie nicht zu gesunderem Essen ermahnte. Mit vollem Mund konstatierte sie: „Du bist betrübt“. Sju regte sich künstlich auf: „All meine Vorträge und Spiele haben dir nicht beibringen können, dass Früchte so viel gesünder sind!“ Er selbst trug nur ein Glas Wasser in der Hand. Solange Sju Lydia in einer nicht ganz sicheren Umgebung wähnte, sorgte er dafür, dass er zumindest eine Hand frei hatte. Lydia betrachtete sein Gesicht aufmerksam. „Sag die Wahrheit.“ Er legte ihr einen Apfel zu den Süßigkeiten und antwortete: „Ich hätte mir gewünscht, dass die Geschichte für Enetia ein erwünschtes Ende nimmt. Sie hätte es wirklich verdient.“ Lydia grinste: „Du meinst, dass sie mit Jumot versprochen wird? Du hast wohl in die überreife Obstkiste gegriffen! Die lieben sich doch nicht, die beten sich gegenseitig an. Mit Gedichten und Briefen. Jumot letzter Brief hat sich sogar gereimt! Die wachsen da raus.“ Sju ließ sich von den Weisheiten seiner dreisten Schülerin nicht beeindrucken. „Hast du gehört, was stattdessen passieren wird?“ „Keine Ahnung, woher soll ich die Sprache der Mittelreiche kennen?“ „Du lernst sie schon seit vier Jahren. Die Bedingungen für den Waffenstillstand sind hart. Anfers verlangt, dass die Weißmagier endlich den Grenzwall abreißen. Diese Forderung ist eine reine Provokation. Tsura, die Thronfolgerin wird mit ihrer Volljährigkeit Jumot von Elidée heiraten. Sie wurden heute Nacht einander versprochen, um die Welt symbolisch zu einen.“ Lydia rief aus: „Ach deshalb wurden sie beide nach vorne gerufen!“ Sju ging nicht auf Lydias Unterbrechung ein: „In acht Jahren soll der Prozess auf Karten und in den Geschichtsbüchern abgeschlossen sein. Die Magier arbeiten an den Linien, die unsere ganzen Zauber einigen sollen. Ich dachte, dass wir irgendwann mal über Heiratspolitik hinauskommen, aber ihr scheint wohl irgendwas dran zu finden.“ „Solange ich meine Füße hab, lass ich mich darauf nieder! Bevor die mich an irgendeinen reichen Geldhaber verscherbeln, jage ich den Alchemieabteilung in die Luft!“ Sju hüstelte. „Das war ich nicht! Ich hab' keine Ahnung, warum das Feuer angefangen hat. Ja, ich war die einzige im Raum, aber... ach, lass mich doch in Ruhe.“ „Wer ist Tsura?“, wollte seine Schülerin plötzlich wissen. „Sie ist die Thronfolgerin von Anfers, diesem Ödland, dieser Hochburg der Schwarzmagie, ein Land, das sich seit Jahrzehnten isoliert und nach innen kehrt. Dabei wachsen dort große Talente heran. Wir können trotzdem von Glück reden, dass sie keinen Sohn hatten, mh?“ Er stieß sie an. „Der hätte dann Enni heiraten müssen oder wie?“ Sju nickte. „Enetia. Ja. Wenn sie’s bis dato aber geschafft hätte, den neunten Magiergrad zu erreichen, wärst sicherlich du drangekommen. Geht ja nicht, unsere erhabene Königin der Weißmagie an die Schwarzmagie zu schieben!“ Sein Lachen verschwand wieder. „Neunter? Es gibt immer nur einen und Graf Smenta hält sein Zepter seit drei Generationen! Woah! Sju, guck mal!“ Lydia schubste Sju an. Die meisten Leute im Saal hatten sich bereits dem Eingang zugewandt. Dadurch, dass die Gespräche langsam abebbten, wurde es still genug, um die wuchtigen Schritte der Krieger zu hören, die in einer Gruppe von dreizehn in den Saal marschierten. Bis auf den vordersten Elfen machten die schwer gerüsteten aber waffenlosen Streiter einen sehr imposanten Eindruck. „Das sind ja alles Kulangalay!“, flüsterte Lydia aufgeregt. Die Abendgesellschaft teilte sich für die Prozession, die von Fanfan von den Kulangalay angeführt wurde. Er war neben Sju und einigen Wachen der Einzige, der Kriegswerkzeug an sich hatte. Jeder Krieger trug einen stolzen weißen Zopf, der weit über einen hellen Umhang fiel. Nur Fanfans Haare rahmten sein karges Gesicht geöffnet ein. Er war der Einzige, bei dem die metallischen Schulterstücke notwendig waren, um den Eindruck eines Kriegers zu wahren. „Sju, er starrt mich schon wieder so an!“ Sju stellte sein Glas ab. Er fixierte den Heermeister Anfers’ mit einem wachen Blick. Tatsächlich näherte sich die Prozession der verunsicherten Lydia. Sie wischte sich die klebrigen Hände unbewusst an ihrem Rock ab und fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen. Sie rückte näher an Sju heran, als die Kulangalay deutlich machten, dass sie tatsächlich mit ihr reden wollten. Fanfan stellte sich vor der verwirrten Prinzessin auf. Die Krieger marschieren in einem Halbkreis um sie herum und knieten nieder. Dann erst bemerkte Lydia die fünf weißgekleideten Frauen, welche die Prozession abschlossen. Sie blieben gesenkten Hauptes außerhalb des Kreises stehen. Lydia drehte den Kopf nervös in alle Richtungen. Sie war nicht die Einzige, die sich keinen Reim auf das Verhalten der stolzen und gefährlichen Kämpfer machen konnte. „Wir danken dem Königshaus von Cuurône für die freundliche Einladung.“ Lydia platzte heraus: „Die habt ihr doch noch nie angenommen!“ Fanfans Miene war ausdrucksstarker als die der meisten Kulangalay. Ein dünnes Lächeln begleitete seine überrascht in die Stirn gezogenen Augenbrauen. „Sind wir unerwünscht?“ Lydia sagte trotzig: „Ja!“, wurde aber von Sjus „Nein, natürlich nicht“ übertönt. Für Zusammentreffen zwischen Würdenträgern herrschten feste Protokolle. Lydia hatte bewusst vermieden, diese zu lernen, aber auch ihr Vorbild Sju brach sie, indem er seiner Vorgesetzten vor versammelter Gesellschaft widersprach. Sju fuhr ausdruckslos fort: „Wir fühlen uns durch Eure Anwesenheit geehrt, Fanfan von den Kulangalay.“ Sju sprang die Lüge aus dem Gesicht und die Verwunderung darüber, dass er sich auf dieses Spiel einließ, nahm Lydia die Chance, mit einem Hinweis darauf noch mehr Schaden anzurichten. Fanfans Augen bohrten sich weiterhin in Lydias Gesicht. Eisklar und grau durchbrachen sie eine Schicht nach der anderen in Lydias kindlichem Schutzwall. Sie fühlte sich sehr unwohl und Fanfans nächster Ausspruch vertiefte ihren Argwohn. „Ich erinnere mich nicht daran, dass Fabilé dem Königshaus angehören.“ Lydia sagte weitaus leiser als vorher: „Tu nicht so. Du kennst Sju und er kennt dich!“ Plötzlich entspannte sich der Kulangalay und lachte amüsiert. „Lydia von Cuurône, ich bin sehr überrascht, dass man Euch noch nicht darin unterrichtete, eine diplomatische und offene Persönlichkeit wenigstens für Empfänge zu wahren.“ Die Festgemeinschaft lachte ebenfalls auf und einige Zuschauer begannen wieder damit, sich zu unterhalten. „Sagt, Majestät, gibt es einen Vertreter des Königshauses, der bereit wäre, mit uns eine gepflegte Unterhaltung zu führen und die neu geschlossenen Bande des Friedens angemessen zu festigen?“ Lydia hatte das Gefühl, dass sie beleidigt wurde, aber sie verstand die Situation kaum und antwortete unsicher: „Sju kann...“, doch ein stärker werdender Druck in ihrem Rücken bedeutete ihr, dass Sju mit ihrer Entscheidung nicht zufrieden war. „Ich – ich weiß nicht“, stammelte sie letztendlich. Fanfan verneigte sich halb. „Sehr wohl, Majestät. Wir werden auf die Ankunft Eurer Angehörigen warten und mit ihnen dieses Gespräch beenden.“ In den Augen des Kriegers glitzerte etwas, das Lydia noch näher an Sju heranrücken ließ. Fanfan drehte sich entschlossen auf dem Absatz um. Seine Männer erhoben sich und auch die Frauen fanden sich in die neue Ordnung ein. Lydia erschrak heftig. Die Kulangalay trugen allesamt auf ihren Umhängen das Symbol der Weißen Ritter. Diese Einheit gehörte zu den brutalsten und gefährlichsten in der gefürchteten Kulangalayarmee. Wenn man diesen Kriegern wirklich ihre Waffen abnehmen wollte, müsste man ihnen ihre Hände und Fanfan seinen Kopf abschlagen! Bald nahmen die Kulangalay und ihre Begleiterinnen im hinteren Bereich des Saales ein paar Tische für sich ein und unterhielten sich ausgelassen in ihrer Stammessprache. Lydia drehte sich rasch um und starrte wieder auf den reich gedeckten Tisch. Jegliche Freude an den Süßigkeiten war ihr vergangen. Ihr Kopf hatte fast die Farbe von Sjus Haaren angenommen. Tränen glitzerten in ihren Augen. Sju wusste, dass er nichts weiter sagen musste. Lydia irrte sich darin, dass es an diesem Abend für sie nicht mehr schlimmer werden sollte. Zu erst einmal verdeutlichte der Auftritt ihrer Schwester, was Lydia alles falsch gemacht hatte. Enetias goldene Locken fingen auch wirklich jeden Lichtstrahl ein und verwandelten ihn in glitzernde Reflexe. Unter Menschen konnte man kaum eine vollkommenere Gestalt als die ihre erreichen, auch wenn sie nur die Statur eines Kindes hatte. Weilte der Abend noch fünf Tage länger, hätte Enetia auch mit jedem der Anwesenden ein Gespräch begonnen. Wenn man auf die Weißmagierin traf, fand man sich auch in der Gegenwart ihres Vertauten Jumot. Lydia wusste nicht genau, was das Wort „adrett“ bedeutete, doch sie assoziierte es mit dem hochgewachsenen und höflichen Magier. Sie mochte Jumot sogar, obwohl es mit ihm schnell langweilig wurde. Die einzige Absonderlichkeit an ihm bestand in der Tradition seiner Familie, sich Wimpern und Brauen stechend blau zu färben. Seine Mutter hatte sich sogar die Haare Blau gefärbt. Die von Elidées waren auf eine bescheidene Art sehr stolz auf ihre lange Tradition als Hochmagier. Natürlich würde auch Jumot ein hervorragender Zauberer werden. „Oh nein, nicht schon wieder“, murmelte Lydia, als Enetia genau wie Fanfan zuvor auf sie zuhielt. „Sju, ich muss hier weg.“ Der Fabilé legte ihr die Hand auf die Schulter. Über Enetias lächelndes Gesicht huschte ein Schatten, als sie in Lydias Augen las. „Ist alles in Ordnung?“ Lydia knirschte mit den Zähnen. „Wo ist Mutter?“ Enetia warf Sju einen fragenden Blick zu. Sju murmelte: „Fanfan von den Kulangalay ist gekommen.“ Enetia nickte verstehend und antwortete Lydia: „Sie begleitet die Gräfin Si und den Grafen Yion aus Nuimen. Du weißt – das Kulangalayproblem.“ Lydia hielt sich mit ihrer sonst expressiven Gestik zurück und presste hervor: „Ja, ich weiß!“ Sju und Enetia konnten sich vorstellen, dass Lydia etwas ganz anderes meinte. Enetia stieß einen kurzen Seufzer aus und drehte sich dann mit neu aufleuchtendem Funkeln in den Augen der wartenden Menge zu. Sie erhob das Wort und hielt eine kurze Rede, welche hauptsächlich aus Danksagungen und Wünschen bestand. Als Repräsentantin des Königshauses nahm sie Geschenke entgegen und begrüßte die wichtigsten Anwesenden. Die Übergaben kamen Fanfan sehr gelegen. Enetia hatte gerade das letzte Geschenk einem Diener überreicht, da marschierten die Kulangalay wieder auf. Lydia, die zwischen Enetia und Sju stand, wäre am liebsten schon längst verschwunden, aber das schlechte Gewissen hieß ihr, Enetia zur Seite zu stehen und wenn schon kein freundliches, so doch zumindest ausdrucksloses Gesicht zu machen. Fanfan verneigte sich deutlich tiefer vor der Weißmagierin. Enetia deutete ein Kopfnicken an. „Fanfan von den Kulangalay, habt Dank, dass Ihr der Einladung gefolgt seid.“ Der Krieger straffte die Gestalt. „Cuurône hat uns deutlich zu verstehen gegeben, dass wir diesen Abend besser anders verbracht hätten.“ Lydia verlagerte unruhig ihr Gewicht. Enetia lächelte milde: „Geschätzter Fanfan, ihr konsultiertet Unsere zehnjährige Schwester, die für ihr unkontrollierbares Temperament und ihre ungewöhnlichen Manieren bekannt ist. Wir verstehen, dass Ihr Euch und die Gesellschaft hervorragend damit unterhieltet.“ Es war eher Lydias entrüsteter Seitenblick, der die Menge wieder zum Lachen brachte. Lydia verzog das Gesicht und rückte wieder näher an Sju heran. Fanfan lachte ebenfalls und so schnell, wie seine einladende Freundlichkeit kam, verschwand sie auch wieder. Die eisige Kälte weitete sich von seinen Augen aus wieder über die gesamte Gestalt. Er trat einen Schritt zur Seite. Die fünf Frauen huschten lautlos in den Halbkreis. „Enetia von Cuurône, ich freue mich, Euch zu treffen. Im Namen Anfers’ überreiche ich diese Sklaven. Sie sind alle wohlgenährt, tüchtig, gesund und besitzen einige Talente, welche auf jedem Markt teuer erkauft würden.“ Sklaverei gehörte zu den Sachen, die neben Piraterie und Tötung in Cuurône sehr hart bestraft wurden. Man durfte weder mit Menschen handeln, sie besitzen noch über sie bestimmen. Fanfans Geschenk war eine tiefe Beleidigung, doch Enetia hatte gute Gründe, anders als erwartet zu reagieren. „Richtet Anfers unseren tiefen Dank aus. Seid eingeladen, mit uns die reichen Speisen Elidées und die guten Weine zu probieren. Wir wären sehr an einem Gespräch mit Euch interessiert.“ Fanfan antwortete unter einer weiteren Verbeugung: „Das solltet Ihr. Verzeiht, Majestät, unsere Aufgaben warten. Wir kehren zu unseren Quartieren zurück. Wenn Ihr dafür noch Zeit findet, sind wir dort natürlich für Euch erreichbar.“ Enetia und Fanfan verabschiedeten sich voneinander und die Kulangalay donnerten aus dem Saal. Der schlechte Verlierer Selbst den obligatorischen Kissenkampf ließ Lydia an diesem Abend aus. Sju hockte auf einem Fensterbrett in ihrem Gästezimmer und sah in die hell erleuchtete Nacht. Seine Verabredung mit dem Hauptmann hatte er abgesagt. Sju hob plötzlich seinen Kopf und griff nach seinem Bogen. Lydia sagte: „Kein Grund zur Sorge, es ist nur Enetia.“ Lydia konnte noch nicht einmal gehört haben, dass sich jemand dem Zimmer näherte, doch spätestens jetzt erkannte Sju die Gangart wieder. Enetias Klopfen war sehr sachte. Sju sprang vom Fensterbrett und eilte zur Tür. Lydia bemühte sich nicht einmal um einen Blick für ihre eintretende Schwester. Als die Kerzen im Zimmer ihre Flammen aufrichteten und das Licht freundlicher wurde, rollte Lydia mit den Augen. „Bist du wenigstens alleine gekommen?“, schnarrte sie. Jumot hüstelte. Lydia fuhr erst dann herum. „Ja, natürlich, wie sollte es anders sein.“ Enetia sagte: „Wir wollten uns vergewissern, dass Ihr eine ruhige Nacht haben werdet.“ Lydia hob sofort abwehrend die Hände. „Wage es ja nicht! Wehe, Sju fängt wieder mit seinem Schlafflötenkram an!“ Sju senkte das Haupt. „Ich bitte vielmals um Verzeihung. Es war meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Lydia sich an das Protokoll hält.“ Enetia trat an ihre Schwester heran und lächelte ihr liebevoll zu. Lydia fiel es schwer, ihren Groll zu hegen und diesen finsteren Gesichtsausdruck beizubehalten. „Sju, Wir wissen es zu schätzen, dass Ihr Eure Arbeit immer noch so ernst nehmt, obwohl Lydia es Euch schwer macht.“ „Majestät“, Sjus Stimme klang ungewohnt ernst, „gestattet mir eine Frage.“ Enetia sah ihn abwartend an. „Jeder im Saal wusste, dass Fanfans Friedensgeschenk ein Affront war. Warum habt Ihr nichts dagegen gesagt?“ Lydia ereiferte sich: „Ja! Genau! Du kannst doch nicht einfach Sklaven annehmen!“ Enetia wandte ihren Kopf Jumot zu, welcher stellvertretend antwortete: „Die Kulangalay profitieren am wenigsten von diesem Frieden. Sie führen im Namen Anfers’ Krieg und besiedeln das Land unter der roten Flagge. Dem Stamm lag es sehr daran, Cuurône zu vernichten, um die eigene Stärke zu demonstrieren, vielleicht sogar unser Land einzunehmen. Diese Verhandlungen halten sie davon ab. Sie werden sich an die Weisungen ihres Heimatlandes halten. Um ihren eindeutigen Standpunkt zu dieser Sache darzulegen, verschenkten sie heute Abend Frauen. Offiziell können sie es als einen alten Brauch aus Anfers verkleiden. Dies zu enttarnen, hätte ihnen vielleicht genug Grund gegeben, gefährlich zu werden. Ich kann mir nicht denken, dass dies von Anfers ausging. Die Sklaven sind eindeutig aus Protektoraten der Kulangalay.“ Lydia stützte sich auf die Bettkante. „Aber wir werden die Sklaven befreien, oder?“ Enetia entgegnete ihr: „Wie stellst du dir das vor? Sie sprechen nicht einmal unsere Sprachen und sie in Cuurône auszusetzen wäre herzlos. Natürlich werden sie in die Dienste des Hofes treten - als Bürger mit freien Rechten.“ Da Lydia zu wenig Zuspruch bekam, stachelte sie Sju an: „Da war eine Fabilé dabei! Die war sicher nicht älter als Enni!“ Jumot erklärte: „In Anfers verschenkt man Sklaven recht früh, damit sie formbar sind. Mir macht eher die Kaste Sorgen, aus der die Krieger kamen: Die Kulangalay sind uns nicht wohl gesonnen, aber sie sind ein Stamm und können weder alle als ‚kriegerisch’ noch als Anfersvolk bezeichnet werden. Die Weißen Ritter sind dagegen sehr radikal, geradezu gefährlich. Diese Art von Machtdemonstration war weitaus unhöflicher als das Geschenk.“ Lydia dachte in sehr viel kleineren Maßstäben. Sie verschränkte die Arme und maulte: „Wenigstens haben sie der Fabilé nicht die Haare geschoren – wie den anderen.“ Es entstand ein betretendes Schweigen. Die drei anderen Anwesenden konnten sich zu gut denken, warum man bestimmten Sklavinnen ihre Haare ließ. Enetia sagte: „Wir haben nach dieser Konferenz keine tragenden Argumente mehr dafür, diesen Rittern den Zugang zu unserem Land zu verwehren.“ Lydia rief entrüstet aus: „Was?! Das kannst du nicht machen! Diese fiesen, brutalen, gemeinen Humusköpfe dürfen nicht in Alonnes Straßen laufen!“ Enetia und Jumot schauten gleichzeitig Sju an. Der Fabilé wachte aus seinen Gedanken auf, packte Lydia und wuschelte ihr durch die Haare. „Ah! Wer fängt denn plötzlich an, sich für Politik zu interessieren?“ Lydia ging sofort darauf ein. Sie tobte mit Sju durch das Bett und kam so doch noch zu ihrer Kissenschlacht. Die Hochmagier waren längst aus dem Raum, als der Fabilé seine Flöte an die Lippen setzte und Lydia in den Schlaf geleitete. Er setzte die Flöte ab, mit deren Liedern er ihren Geist beruhigte. Leise tasteten seine Sinne in Lydias Gedankenwelt. Ihr Geist ähnelte einem bunten Wald aus übergroßen Blumen und Fabeltieren sonderbarer Farben. Selbst Sjus rote Haare wirkten blass gegen einige Gewächse. Auch an diesem Abend folgte er seiner Schülerin zu einem Teich, an dem sie nach Fischen haschte, die größer als sie selbst waren und sie zum Träumen mit in den See zogen. Das war der Zeitpunkt, in welchem Sju sich aus dem Kindergeist entfernte, um ihre Träume nicht weiter zu stören. Seine Arbeit als Geistwandler konnte noch nicht beginnen, noch war dieser Wald zu wild. Jede Störung von ihm würde Lydia ernsthaft beunruhigen und ihn in dieser Welt verletzen. Wie sehr wünschte Sju, dass Menschen diese wilden Bilder nicht verloren, aber leider befahlen die Konventionen eine Mäßigung in allen Zügen und Lydias Widerspenstigkeit würde seine Dienste noch voll in Anspruch nehmen. Wieder einmal war viel Zeit vergangen, die Geistreisen setzten die Realität viel länger aus. Sju lehnte sich gegen den Fensterrahmen und schlief letztendlich auf dem Fensterbrett, den Bogen griffbereit zur Seite und seine Hand über einem Pfeil, ein. Lydia schreckte aus ihrem Schlaf, griff instinktiv nach dem Dolch und bemerkte recht schnell, dass er verschwunden war. Jemand presste ihr eine Hand auf den Mund. Sie versuchte, die Person vom Bett zu treten und schlug um sich - ohne jegliche Auswirkungen. Mit einem wütenden Schnaufen gab sie wild atmend auf. Sie starrte in schwarze Augen, die aus einem leichenhaften Weiß stachen. Die Haut leuchtete, als hätte diese Person nie die Sonne gesehen. Ein Junge, vielleicht zehn Jahre alt, vielleicht dreizehn. Offensichtlich handelte es sich um einen Menschen. Ob er krank war? Sein Blick wirkte überrascht. Er starrte ihr in die Augen. Sein Mund schloss sich wieder – obwohl er etwas sagen wollte. Lydia saß der Schreck zu tief in den Adern, als dass sie eine sinnvolle Handlung durchführen konnte. Der Junge zwinkerte und flüsterte: „Psssssst! Nicht schreien, ja?“ Er zog ihren Dolch aus seinem Gürtel und platzierte diesen neben ihr auf dem Kopfkissen. Erst dann nahm er die Hand langsam von ihrem Mund. Sie setzte zum Schreien an, als er hastig den Zeigefinger zum Mund hob. „Pssst! Ich darf nicht hier sein! Komm mit. Ich kenn ein lustiges Spiel!“ Er sprang lautlos von ihrem Gästebett und warf Sju's Köcher und seinen Bogen über die Schulter. Der Elf selbst schlief felsenfest im Fensterrahmen. Lydia atmete voll tiefer Bewunderung laut ein: „Wie hast du das hinbekommen?“ Der Junge schaute über seine Schulter und bemerkte im Gehen: „Übung.“ Sie traten aus dem Zimmer auf den Balkon und kletterten die niedrige Wand hinunter in den offenen Vorgarten. „Wer bist du?“, fragte Lydia endlich. Der Junge strich sich ein paar Haare aus dem Gesicht. „In der gleichen Position wie du.“ Lydia versuchte, das mit einem humorlosen Lachen zusammenzureimen: „Du bist der Prinz eines einflussreichen Landes und deine Schwester ist so strahlend, glänzend und vollkommen, dass aus dir nur eine Kröte werden kann?“ Ein scharfes Lächeln zerschnitt sein Gesicht. Irgendetwas Undeutbares lag darin, etwas, das Lydia glauben ließ, er sei weitaus intelligenter als sie. Dieses Gefühl hatte sie oft. „Nicht wirklich. Nein. Ich gehöre als Schüler und Diener zu einer der Siberis-familien. Ich bin deren Unterhaltung. Heute Nacht habe ich mich mit ein paar ihrer Kinder davongeschlichen. Ich habe viel von dir gehört und dachte, dass du wohl ein recht interessanter Spielpartner bist.“ Lydia blickte ihn misstrauisch und direkt an. „Bist du dir da sicher? Man versucht, meine Taten vor der Öffentlichkeit geheim zu halten! Du weißt nicht mal, wovon du redest, was?“ Er lächelte noch immer. „Vielleicht weiß ich das wirklich nicht. Wenigstens schläfst du im Trakt der Hoheiten aus Cuurône und hast einen eigenen Leibwächter.“ Er hatte noch etwas auf der Zunge, versteckte es aber in seinem überlegenen, weißen Gesicht. Er verneigte auf eine Art, als würde er sie nicht ernst nehmen oder hätte sich noch nie verneigt. „Es ist mir eine Ehre. Doch nun - lass uns anfangen. Es spielen noch ungefähr dreizehn andere Kinder mit. Vier davon Siberis, ich glaub - ein Fabilé und dann noch ein paar Menschen. Ach ja - eines der Wasserkinder, Ky. Wir spielen 'Mausefalle', du weißt wie das geht?“ Lydia grinste: „Klar! Die Katze zählt bis zehn und muss dann nach Mäusen suchen. Wenn sie ein Mäuschen findet, versteckt sich die Katze an diesem Platz und die andere Maus wird zur Katze. Die neue Maus kann sich dann wieder wo anders verstecken und das kann Stunden dauern und niemand weiß, wer gerade Fänger ist und...“ Der Junge unterbrach sie: „Ich sehe, du hast verstanden. Ich zähle bis zehn, wir spielen auf Kyanisch. Kannst du bis zehn zählen, auf Kyanisch, mein ich?“ Lydia wusste nicht mal, wo diese Sprache gesprochen wurde. „Klar!“, und machte sich auf den Weg. Sie hatte für mehr als zwanzig Minuten in ihrem Versteck gesessen: genau dem Gebüsch, in dem der Junge angefangen hatte, zu zählen. Sie erhob sich und trat ihre Füße aus. Eigentlich verstieß es gegen die Regeln, mehr als einmal das Versteck zu wechseln, aber Lydia hätte dort Moos angesetzt. Sie kroch durch die Gebüsche und schlich sich im Schatten der Mauern und Häuser durch die Stadt. Irgendwo musste ja jemand versteckt sein. Sie war fast unachtsam geworden, als der Junge plötzlich an ihrer Seitengasse vorbeiging, ohne Acht auf Geräusche oder andere Mitspieler zu geben. Er schaute nicht einmal zu ihr, ganz sicher konzentrierte er sich auf jemanden, den er gerade woanders entdeckt hatte. Lydia pirschte sich vor und lugte so unauffällig sie konnte an der Häuserkante vorbei. Der Junge war nicht mehr da. Lydia wartete drei lange, stille Atemzüge und presste sich an der Hauswand vorbei in die nächste Seitengasse. Sie kauerte sich auf den Boden und schaute in die Gasse hinein. Anscheinend hatte sich dort einmal eine Wand aus Brettern befunden, was war das denn? Blaues Licht schimmerte unter den zusammengestürzten Brettern hervor. Vielleicht eines der Lehrlingslichter? Selbst Enetia benutzte diese noch, kleine Zauberbälle aus Licht. Das war der einzige Spruch, den Lydia etwas beherrschte. Was für eine miese Falle! Natürlich musste dieser Junge da drin hocken! Wie dumm konnte man sein, in dem eigenen Versteck noch Licht zu machen! Sie sprang auf eines der Bretter, dass es an ihr vorbei geschleudert wurde und rief aus: „HA! GEF... BEI LOFRAT!“ Sie taumelte zurück. Das Licht war von dem schwach atmenden Kind gezündet worden. Die Bretterwand hatte es unter sich begraben, nachdem ihm jemand einen Pfeil durch die Brust geschossen hatte. Lydia schrie: „Was ist passiert?! Woher kommt der Pfeil?! Das ist Sjus Pfeil!“ Ky rollte den Kopf auf den Brettern, als würde er schreckliche Stimmen hören. Das Licht wurde zusehends blasser. Lydia begriff: Wenn man sie hier fände, gäbe es unaussprechlichen Ärger! Aber auf der anderen Seite ... der Sohn des Grafen eines Elementarlandes lag im Sterben. Sie sprang an eine der Seitentüren und hämmerte dagegen, als wolle sie mit den Händen Kerben schlagen. „AUFMACHEN! Im Namen des Königs! Öffne die Tür, Bürger! Ich verlange HILFE!!“ „Du willst doch nicht die ganze Stadt wecken.“ Dort war dieser Junge wieder. Er lehnte gegen die Wand, einen Pfeil in Sjus kaum gespannten Bogen auf sie gerichtet. „Komm mit mir und wir bringen das still zu Ende. Du hast verloren!“ Lydia sprang von den Stufen und zog ihren gestohlen Dolch. „Wohl kaum, du Miststück! Du hast Ky getötet! Du hast...“ „… gespielt. Und sie haben verloren! Seram-sitenum, Sulfur, Anfret, Koliya, Sebenot, Kahinur, all die, die zu schwach waren.“ „Du bist krank!“, sie wich dem schwachen Pfeil aus und schlug dem Jungen den Bogen aus der Hand. „Dafür werde ich dich drannehmen, du Schwächling! Was hast du ihnen erzählt? Ich kenn ein lustiges Spiel?! Ich bin genauso wie du?“ Er starrte immer noch auf seine Hände, als sie ihm einen breiten Riss auf der Wange auftat. „Das ist dafür, Sju da mit reinzuziehen! Und mich! Und LEUTE ZU VERLETZEN!“ Sie trat ihm in den Bauch. Als er wieder Halt fand, fragte er sie ruhig: „Was ist das für ein Dolch? Er ist nicht gewöhnlich. Er richtet sich gegen mein Blut. Meine Magie.“ Sein Blick war voller Überraschung und plötzlich auch Bewunderung für seinen doch weitaus interessanter erscheinenden Gegner. Er lächelte. „Ein paar der Geschichten über dich scheinen wahr zu sein, Prinzessin.“ „Nenn mich NIE ‚Prinzessin’!“ Sein Blut wirkte schwarz auf den weißen Wangen und in dem spärlichen Licht der Nacht. Er folgte ihr auf die Hauptstraße und zog ein Schwert, dessen Klinge einen Riss in Lydia's Sichtfeld auftat. Es war, als hätte man ein Stück aus der Realität geschnitten und es mit Schatten gefüllt. Ihr Dolch gab ein hohles Klingen von sich und wurde nach einem kurzen Ruck wie überreifes Obst zerteilt. „Komm mir mit dem Ding nicht zu nah! AH!“ Sie sprang auf eine Mauer und wich einem weiteren seiner Schläge aus, nur, um ihn im Sprung zu Boden zu reißen. Sie blieb auf ihm sitzen, sein Schwert noch immer in der Mauer vibrierend; kleine Steinchen rieselten aus den Fugen. Sie presste seine Hände auf den Boden. „Du bist langsam und schwach! Durch deine verdammte Hinterhältigkeit hast du ein Kind schwer verletzt! Der Rat der Länder wird das nicht so sehr begrüßen. Du hattest wahrscheinlich dasselbe mit mir vor, mh? Aber du hast mich nicht gefunden, so... warum lachst du? Hör auf! Ich bring dich um! Ich habe keine Skrupel davor!“ Er lächelte sie fröhlich an: „Das ist das erste Mal, dass mir jemand droht, mich zu töten, bevor ich ihn in Stücke reiße. Und nun, würdest du bitte aufstehen oder möchtest du, dass ich gewalttätig werde?“ Sie kam ganz nah an sein Gesicht. „Bist du irgendwie bescheuert oder so etwas? Ich bring dich um! Ich mache Hempfret aus dir!“ Er nickte. „Sicherlich.“ Lydia fühlte sich plötzlich, als wäre sie von einem Blitz erschlagen worden. Sie knallte mit dem Rücken gegen die Wand und spürte kurz darauf etwas Eisiges auf ihrem Gesicht. Eine taube Starre legte sich über ihre Gliedmaßen. Der Junge stellte sich über sie und ging langsam in die Hocke. Er strich ihr ein paar Haare aus dem Gesicht und richtete den Kopf auf. „Ich habe noch nie Augen wie die deinen gesehen. Ich möchte deinen Blick nicht missen, wenn du stirbst.“ Die Angst wärmte ihr die Glieder schlagartig auf. Ein gezielter Tritt mit ihrem anderen Bein warf das Kind zurück aufs Pflaster. Sie richtete ihre Hand auf den Jungen und jagte ihm spärliche blaue Flammen in den Weg. Er lachte schrill und warf sie mit einem Handstreich aus. Im gleichen Augenblick raste eine schwarze Feuerwand hinter Lydia aus dem Boden. Wie eine Welle krochen die Flammen auf sie zu, doch ein schneller Sprung rettete ihr das Leben. „Was ist das?!“ Ihre Beine wurden weich vor Angst. Der Boden fing Feuer, selbst das Gras, die Steine, alles brannte. „Das? Den kleinen Angriffszauber habe ich mir auf dem Weg hierher ausgedacht.“ Lydia fuhr herum: „Du bist ein verdammter Magier?! Ich hab' so was aber nie in der Trainingshalle gesehen!“ Er verneigte sich: „Danke. Aber wir hatten dabei aufgehört, dich zu töten.“ Sie wich einem Schlag seines Schwertes aus. „Wohl eher dich, du arroganter Wortwerfer! Ich weck die gesamte Stadt auf! Ich...“ „Was sollen sie schon tun?“ Seine Augen glühten auf. „Mich verbrennen?“ und hinter ihm explodierte ein Haus in einer Feuerwalze, die Lydia die Haare aus dem Gesicht fegte. „Mich versteinern?“ Ein weiteres Haus zerfiel plötzlich zu Staub. „Ich habe keine Angst. Und du solltest dich endlich zusammenreißen!“ Lydias Unterlippe bebte, als sie auf den feinen Staub starrte, der eben noch lebende Menschen und ein Haus war. Ihr Körper hatte es längst verstanden, aber endlich sank die schreckliche Erkenntnis in ihren Geist, dass sie verloren war. Vor ihr stand ein wahnsinniger Schwarzmagier, der sie für seine Unterhaltung töten würde. Plötzlich wurde es Tag auf dem Platz. Als würden Sterne auf den Boden regnen, floss das Licht zu ihrer Schwester zusammen. „Die Unruhe ist gefährlich.“ Lydia war so erleichtert von Enetias Erscheinen, dass sie ausrief: „Aber er hat angefangen! Und das Feuer! Mach das Feuer weg! Da waren Menschen!“ Enetia wandte sich dem Jungen zu. Er schaute ihr aufmerksam ins Gesicht und lächelte dann. „Endlich seid Ihr da. Ihr habt eine sehr reizende Schwester, Prinzessin Enetia.“ Enetia bemerkte: „Es sind nur drei angemeldete Schwarzmagier im Gefolge von Anfers.“ Er lachte: „Und wie viele bei euch? Ihr wisst es nicht, richtig? Warum? Weil Weißmagier nicht meldungspflichtig sind, denn wir sind die Bösen. Die Zerstörer.“ Lydia schaute sich um, das schwarze Feuer fraß weiter. Der Junge sprach wahre Worte. Völlig unvermittelt griff etwas, das sich wie Leder anfühlte und wie ein massiver Schatten aussah, nach ihrem Körper und presste ihre Arme und ihren Hals zusammen. Enetia schloss die Augen. Der Junge fuhr fort: „Ich wollte Euch einmal sehen, Enetia und Euch etwas mitteilen: Das Nrojerg Petila wird Euch niemals gehören.“ Enetias Hand wurde zu einer Faust und entspannte sich dann wieder. Lydia fiel befreit auf den Boden, nur um die Schattenflammen noch näher zu sehen. Wieso redeten Magier immer so lange?! Hustend entfernte sie sich krabbelnd von dem irren Jungen. Enetia fuhr tatsächlich fort: „Ihr habt Elidée angegriffen. An einem Tag der Neutralität. Vor einigen Jahren hätte ein derartiges Verbrechen Kriege auslösen können.“ Er richtete seine Hände gegen sie. „Ein Glück, dass wir heute alle so vernünftig sind.“ Das Feuer schoss von allen Seiten in die Höhe und traf sich in einem Zentrum weit über Enetia. Wie ein gigantischer Wirbelsturm drehte es sich nun um den unbekannten Jungen, Lydia und ihre Schwester. Mit einem Fingerzeig zog sich das Feuer in einem Punkt zusammen und schoss in konzentrierter Energie auf Lydia zu. Bevor Lydia schreien konnte, erfasste sie Enetias Weißmagie und hüllte sie in einen gleißend hellen Ball. Davon, dass Enetia auf den Boden brach, und der Junge längst verschwunden war, als die Schutzmagier eingriffen, blieb nichts in ihrer Erinnerung. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)