Wind und Meer von Hrafna ================================================================================ Kapitel 2: Ostwind ------------------ Wind und Meer Part 2 - Ostwind Als er wieder zu sich kam, fühlte er die scheue Berührung von Grashalmen auf der Haut, das Wispern einer sanften Brise und das Rascheln, das die Blätter einer Baumkrone erwiderten. Er glaubte nicht, dass er tot war. Tote empfanden keinen Schmerz. Stöhnend schlug er die Augen auf, über ihm wog die aufgefächerte Krone einer Dattelpalme im Wind, und mit einer fahrigen Handbewegung strich er sich die störenden Strähnen aus dem Gesicht. Was für ein friedlicher Ort… Ísvængur döste, bis seine Besinnung gänzlich wiederkehrte. Mittlerweile hatte er die mannigfaltigen Präsenzen bemerkt, die sich um ihn scharten, die meisten zurückhaltend und mit angemessener Distanz, einige hingegen so nahe, dass er ihr ruhiges Atemschöpfen hören konnte. „Ist er wach?“ säuselte eine liebliche Frauenstimme. „Scirocco, was hast du dir dabei gedacht ihn herzubringen?“ Dem schloss sich ein unwirsches Schnauben an. „Hätte ich ihn töten sollen?“ blaffte die Angesprochene gereizt. „Er ist ein Fremder!“ „Ganz genau, ER! Und er ist einer von uns, sieh ihn dir doch an!“ Nach einer Weile begriff er. Entsprungen aus einer vergessenen Splittergruppe des einstigen europäischen Clans unter Rok, ein Sippschaft, die nahezu ausschließlich aus Frauen bestand, wie ein Amazonenstamm. Mit dem Unterschied, dass sie diesen Zustand keineswegs angestrebt hatten. Sie begegneten ihm skeptisch, aber nicht abgeneigt. Die zwei halbwüchsigen männlichen Luftdrachen musterten ihn abschätzig, und Ísvængur vermutete, dass die beiden eine Sonderposition einnahmen, umschwärmt und verwöhnt von der weiblichen Mehrheit, und sie in seiner Ankunft eine Bedrohung ihres Status ahnten. Ihre Angst war mitunter gerechtfertigt. „Leiðtogi Nístandisúgur vom West-Clan der Loftsdrekar schickt mich, auf freundschaftlicher Basis.“ „Ihr schlagt uns ein Bündnis vor?“ entgegnete ihm eine der älteren Frauen, allem Anschein nach die Matriarchin: „Wir haben keinen triftigen Grund, euer Angebot auszuschlagen, allerdings können wir den Worten eines Fremden nicht so einfach Glauben schenken. Vor allem nicht, wenn sie aus dem Munde eines Mannes stammen.“ Er verbat sich den missmutigen Laut, der sich daraufhin in seiner Kehle formte. „Verständlich“, räumte er widerwillig ein. „Ruh dich ein paar Tage bei uns aus, ich sende derweil eine Nachricht zu deinem leiðtogi. Ich will mit ihm sprechen.“ „Ich muss weiter.“ Die unzähligen Armreifen klimperten, als sie die Hände in die Hüften stemmte. „Wohin?“ hakte sie unzufrieden nach. „Zum Ost-Clan. Ich-“ „Du bleibst. Solange, bis ich mit Nístandisúgur gesprochen habe.“ Na das konnte heiter werden… *~* Er vertrieb sich die Zeit mit dem Senden von Nachrichten, und seine Wunden waren längst verheilt, und seine Nerven bis aufs Äußerte strapaziert, als Namib ihm endlich die Erlaubnis zur Abreise erteilte. Zu seinem Verdruss hatte sie ihm eine Begleitung bereitgestellt oder eher, aufgezwungen – und Scirocco, diejenige, die ihn am liebsten zwischen ihren Fängen zerfetzt hätte, gehörte dazu. Offensichtlich hatte sie ihn zu ihrem höchst persönlichen Objekt der Begierde auserkoren, jedoch auf eine ihm sehr suspekte Art. Sie forderte ihn unaufhörlich zum Zweikampf mit dem Schwert, und das, obwohl sie jede Partie verlor, sie schimpfte und zeterte, schrie ihn aus unerfindlichem Anlass an und schwor ihm immer und immer wieder, sie würde ihn irgendwann besiegen können. Und dann würde sie ihn sich zu Eigen machen. Ísvængur war nicht erpicht darauf zu erfahren, was das im Detail bedeuten sollte. Er fühlte sich bedrängt. Der Flug entlang der Route über das Festland erwies sich als langwierig und unglaublich anstrengend. Bei Scirocco erreichte seine Selbstbeherrschung ihr absolutes Limit… Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Küste des Kontinents an der blassen Linie des Horizontes zu erspähen war. Zähneknirschend ermahnte er sich zur Ruhe, den Blick in die Ferne gerichtet. Irgendjemand, insofern eine höhere Instanz existierte, hasste ihn, oder wie sollte er seine kontinuierlichen Stürze vom Regen in die Traufe verstehen? Zur Hölle, verdammt… Seine trüben Gedanken klarten erst auf, als ein ihm wohlbekanntes Geräusch an die Ohren drang; prompt straffte sich seine Haltung und er dirigierte den Flugdrachen, auf dessen Rücken sie saßen und der gegen die grobe Behandlung einen glockenhellen Laut der Ärgernis ausstieß, gen Boden. Der Klang eines Muschelhorns. Zuletzt hatte er ihn auf dem Schlachtfeld gehört, im Krieg gegen die Feuerdrachen… „Was soll das?“ „Halt den Mund.“ Im eleganten Segelflug verringerte der Drache seine Höhe, landete zielsicher auf einem Felsvorsprung nahe der Steilküste. Erstaunt betrachtete Ísvængur den vermeintlichen Unbekannten, der nervös mit der pinken Muschel in seinen Händen spielte und ihn mit großen Augen anstarrte. „Kyouran…“ Das lange marineblaue Haar, die meeresgrünen Iriden, und die für einen Krieger uncharakteristisch nachgiebigen Gesichtszüge… der Wasserdrache hatte sich nicht verändert. Was ihn dem entgegen beunruhigte, war die Tatsache, dass der Vatnsdreki gewartet hatte, und den Eindruck erweckte, es wissentlich getan zu haben. „Ich… tut mir Leid…“ murmelte er kaum vernehmlich, und eine verräterische Röte färbte seine Wangen, bevor er hastig den Kopf senkte. „Oh mein Gott, woher kennst du denn den Deppen?!“ mischte sich Scirocco kurzum ein und bedachte Kyouran mit einem abfälligen Seitenblick. „Ein Wasserdrache?“ „Geht dich nichts an“, antwortete der Luftdrache knapp und wandte sich demonstrativ von ihr ab. „Was machst du hier?“ Im Grunde hätte er dies nicht wissen dürfen. Der einzige, den er über sein Vorhaben in Kenntnis gesetzt hatte, war… „Flúgar hat mir gesagt, du würdest hier vorbei kommen…“ Das konnte er sich nun bei bestem Willen nicht vorstellen. Skepsis prägte seine Miene. „Lange Geschichte“, seufzte Kyouran, sein Lächeln etwas unsicher, nichtsdestotrotz ehrlich. „Das können wir später klären.“ Sciroccos Gegenwart störte ihn schlichtweg, und sie musste nicht mehr erfahren als unbedingt nötig. Verlegen zupfte der Wasserdrache an seinem Ärmelsaum. „Könntet ihr mich… vielleicht mitnehmen…?“ „Ja.“ „Nein!“ *~* Scirocco schmollte. Währenddessen kämpfte Kyouran gegen den Schwindel und die Übelkeit an, bleich wie Kalkstein, die Höhe, die Geschwindigkeit wirkten sich unbeschreiblich nachteilig auf seine physische Verfassung aus. „Sag bescheid, bevor ein Unglück geschieht.“ Der Vatnsdreki lächelte gequält. „Tut mir leid.“ entschuldigte er sich wiederholt: „Ich bin noch nie geflogen. Dass es mir derart auf den Magen schlagen würde…“ Unter ihnen schäumte der Ozean, sanfte Wellen brachen die glatte Oberfläche. Schweigen beherrschte die Atmosphäre, und Kyouran registrierte lediglich am Rande die minimale Regung, die Ísvængurs Körper mit einem Mal durchlief. „Was ist?“ erkundigte er sich leise. „Wir müssen einen Umweg machen.“ Konfus blinzelnd suchte der Vatnsdreki das Meer ab, das ihm dümmlich anmutende Nachfragen sparte er sich. „Spürst du es nicht?“ spöttelte Scirocco schnippisch aus dem Hintergrund, „Diese sengende Konzentration von Youki? Die vereinzelte Aura der Luft dazwischen?“ „Das ist Flúgar“, vermerkte Ísvængur sachlich. „Nicht nur das. Midoriko ist dort.“ Die beiden Luftdrachen tauschten einen verständnislosen Blick. „Wer?“ *~* Informationen am Rande: - Namib ist die Matriarchin des Wüstenclans. - An 'Drachenseele' gemessen muss man sich die Zeitverhältnisse etwa so vorstellen: Flúgar erhält nach dem Kampf mit Shiosai, in dem Wirtshaus in einer kleinen Siedlung, eine Nachricht von Ísvængur, der da bereits mehrere Wochen in der Wüste festsitzt. - Kyouran und Scirocco müssten verschiedene Sprachen sprechen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)