Leben ist ein Ketchupmassaker von Idris (Sam, Dean) ================================================================================ Kapitel 1: Leben ist ein Ketchupmassaker ---------------------------------------- Anmerkung: Ohne Folge 2x20: „What is and what should never be“ zu kennen macht das Ganze vorraussichtlich überhaupt keinen Sinn! Aber wie immer wollte ich, dass Sam und Dean sich nach den Ereignissen dieser Folge unbedingt aussprechen ... so ist diese FF entstanden. Es ist in einem Diner in Indiana. Möglicherweise auch Ohio. Dean hat zwei Cheeseburger vor sich, Pommes und ein Steak. Sam trinkt Milchkaffee, während er mit einer Hand auf seinem Laptop herumtippt. Es ist fünf Tage seit Illinois. „Wir hätten ein paar Todesfälle in Nebraska“, zählt Sam auf. „Sie schreiben etwas von ‚ungewöhnlichen Verletzungen’, aber keine Details. Möglicherweise Vampire. Oder ein Werwolf. Einige Vermisste in einem Waldgebiet in Louisiana. Außerdem geben Wanderer an, nachts ‚tierähnliche’ Geräusche gehört zu haben.“ Er macht vielsagende Anführungszeichen mit den Zeigefingern. „Könnte ein Wendigo sein. In Minnesota …“ „Sam?“ „Hm?“ Sein Kaffee ist lauwarm und die Milch sieht seltsam flockig aus. Es macht keinen Spaß ihn zu trinken, aber nach sieben Stunden Autofahrt nimmt er alles, was ihn noch eine Weile wach hält. Es dauert einen Moment, bis Dean antwortet, und als er es schließlich tut, klingt es seltsam vage. „Vergiss es.“ Das ist so … un-Dean, so dass Sam sich von der blutigen Sensationsstory auf seinem Bildschirm losreißt (Ehemann läuft Amok und erschießt Familie im Schlaf. ‚Sein Rasen war immer vorbildlich’, sagen die Nachbarn) und seinem Bruder einen forschenden Blick zuwirft. Es ist fünf Tage seit Illinois und fünf Tage, seit er seinen Bruder halb ausgeblutet in einer Lagerhalle gefunden hat. Dean ist blass, und er wird immer noch schnell müde, auch wenn er es nicht zugibt. Aber die dunklen Ringe unter seinen Augen sind fast komplett verschwunden. Er sieht inzwischen nicht mehr länger aus wie jemand, der aus der Leichenhalle entflohen ist, sondern nur noch wie jemand, der eine durchzechte Nacht hinter sich hat. Das ist in jeder Hinsicht eine Verbesserung. Seit fünf Tagen ist es nicht mehr wirklich gut. Aber es wird besser. Zumindest dachte Sam das. „Alles okay?“, fragt er schließlich. „Klar. Alles bestens.“ Dean nickt abwesend und sticht mit seiner Gabel in dem Steak herum, ohne wirklich hinzusehen. Als er Sams besorgten Blick bemerkt, verzieht er das Gesicht und wirft ihm eine Pommes gegen die Stirn. Sie prallt ab und landet mit einem Platschen in seinem Kaffee. „Lass das, Alter. Du hast immer diesen irren Blick, wenn du mich so anstarrst. Das ist gruselig.“ „Dean …“ „Außerdem bin ich für die merkwürdigen Todesfälle in Nebraska. Wendigos erfordern immer, dass man mitten im Wald ein Zelt aufbaut. Ich hasse Zelten. Zelten ist was für Weicheier und Leute, die Shorts tragen.“ Sekundenlang sieht Sam ihn an und wartet. Es ist fünf Tage seit Illinois. Fünf Tage, in denen Dean nicht ganz er selbst ist und Sam ununterbrochen komische Seitenblicke zuwirft, aber es auch nicht fertigbringt, über irgendetwas zu reden. Fünf Tage, in denen Sam auf etwas wartet und nicht genau weiß, auf was. Die Worte liegen auf seiner Zunge und es wäre nicht einmal schwer jetzt nachzubohren, was wirklich los ist. Aber schließlich schluckt er sie hinunter, wie so oft, und nickt widerspruchslos. Er fischt die Pommes aus seiner Tasse und winkt nach der Kellnerin. „Kann ich noch einen Kaffee haben?“ - Es sind weder Vampire noch Werwölfe in Nebraska, sondern Zombies. Ja, Zombies. Unangenehme Kiste mit sehr vielen unappetitlichen Leichenteilen. Und zwei Typen, die Frankenstein mindestens einmal zu oft gesehen haben. Dean ist viel zu begeistert und Sam viel zu angewidert, aber alles zusammengenommen schlagen sie sich ziemlich gut. Keiner wird verletzt. Keiner ist nachher tot, der nicht vorher auch schon tot war. Das ist ein Erfolg. Es ist nachts um drei, als sie endlich auf dem Interstate nach Iowa sind. Es gab ein bisschen Ärger mit der örtlichen Polizei (Verdacht auf Grabschändung), weswegen es wie eine gute Idee erschien, nicht allzu lange in der Gegend herumzuhängen. Dean sitzt am Steuer und summt leise „I´m burning, I´m burning for you”. Seine Fingerspitzen klopfen auf dem Lenkrad den Takt mit und Sam ist zu wach, um zu schlafen und zu müde, um seinen Bruder anstrengend zu finden. Alles ist irgendwie gut. Vielleicht kommt es deswegen völlig überraschend, als Dean plötzlich die Musik leiser dreht und den Kopf zu ihm wendet. „Sam?“ „Hm?“ „Wenn wir nicht … ich meine …“ Er räuspert sich und sieht im selben Moment aus, als bereut er es schon wieder überhaupt angefangen zu haben. Er rutscht in seinem Sitz hin und her. Schließlich winkt er mit einer fahrigen Handbewegung ab. „Schon okay, nicht so wichtig.“ Sekundenlang hat Sam ein Déjà vu, weil er sicher ist, dass in den letzten drei Tagen mindestens sieben Gespräche so angefangen und genauso abrupt geendet haben. Er hebt den Kopf von der Fensterscheibe und setzt sich ein wenig aufrechter hin. „Wenn wir nicht - was?“ „Vergiss es.“ „Dean.“ Sam rechnet nicht einmal damit, dass er nachgibt. Vielleicht liegt es nur an der Dunkelheit und an dem endlos langen, leeren Highway. Vielleicht liegt es auch nur daran, dass sie zwei Nächte nicht besonders viel geschlafen haben. Und vielleicht ist es nur die Tatsache, dass es Dean immer leichter fällt den Mund aufzumachen, wenn er am Steuer sitzt und Sam nicht ansehen muss. „Denkst du, wir wären jemals… Freunde?“ Dean spricht das Wort aus, als sei es etwas Exotisches, dessen Konzept er nicht verstanden hat. Das ist einer dieser Punkte, bei denen er einen unglaublich deprimieren kann, wenn man zu lange darüber nachdenkt. „Freunde“, wiederholt Sam, weil er nicht ganz sicher ist, worauf das Ganze hinauslaufen soll. „Wie Steve und Bill?" „Wer?“ „Die beiden Typen? Grade eben? Deren undankbares Leben wir gerettet haben?“ Steve und Bill. Sam weiß nicht, ob es ihm zu denken geben soll, dass er nicht einmal ihre Namen richtig abgespeichert hat. Sie waren für ihn einfach nur zwei weitere Gesichter in einer Reihe … potentieller Opfer. Und vielleicht ist er einfach nur müde. Er reibt sich über die Augen und versucht seine Gedanken zu sortieren. „Du meinst, ob wir gemeinsam versuchen würden, uns eine Traumfrau aus Leichenteilen zu basteln?“ Dean wirft ihm einen ungnädigen Blick zu, so als ob Sam sich mit voller Absicht dumm anstellt. „Freunde, Sam. Du hattest doch wohl schon welche. In Stanford. Leute, mit denen … du irgendwas gemacht hast.“ Er macht eine vage, ungeduldige Handbewegung. „Uh, ja.“ „Denkst du, wir wären …? Würden wir was zusammen machen? Also wenn wir …?“ „Ob wir Freunde wären, wenn wir keine Brüder wären?“ „Ja.“ Er klingt beinah erleichtert darüber, dass Sam endlich versteht und ihm weitere peinliche Erklärungen erspart. Nur, dass Sam immer noch nicht wirklich versteht worauf das ganze hinauslaufen soll. Er versucht sich einen Dean vorzustellen, der nicht sein großer Bruder ist, aber es ist beinah unmöglich. Als ob ein essentieller Teil, der irgendetwas ganz und gar Dean ist und der das ganze Konzept ‚Dean’ ausmacht, dabei fehlen würde. Dann versucht er, sich seinen Bruder in Stanford vorzustellen. Aber das funktioniert noch weniger. Dean und Kalifornien … das ist wie ein Autocrash. Man kann gar nicht hinsehen. „Keine Ahnung“, erwidert er ehrlich. „Wieso fragst du?“ Dean schüttelt den Kopf. „Nur so.“ Sam lässt es auf sich beruhen. Ungefähr zehn Sekunden lang. „Ich dachte immer, Freunde sind für dich nur Leute, die man nicht ins Bett gekriegt hat.“ Das kommt bissiger als beabsichtigt. Was er dafür kassiert, ist ein giftiger Seitenblick und dass die Musik wieder lauter gedreht wird. „Du willst mich ja auch nicht ins Bett kriegen. Zumindest hoffe ich das, sonst nehme ich ein Gewehr mit, wenn wir uns das nächste Mal eins teilen.“ Danach schweigen sie zwanzig Minuten lang und hören die Blue Oyster Cult- Kassette zu Ende. Dieses Mal ist die Stille irgendwie unangenehm und Sam kann sich des dumpfen Gefühls nicht erwehren, dass er grade etwas ganz Wesentliches verpasst hat. Was auch immer Steve und Bill damit zu tun haben. Steve und Bill waren vermutlich die langweiligsten, durchschnittlichsten Teenager-High-school-Jungs der Welt (abgesehen von den okkulten Riten und der nächtlichen Grabschändung). Sie waren so langweilig und unspektakulär, dass es ihm schwerfällt, sich ihre Gesichter genau vor Augen zu rufen. Bill war klein und pummelig (zumindest glaubt er, dass das Bill war) und sah aus wie ein Streber. Steve hatte ein Motorrad und sah aus wie ein Checker. Gemeinsam hatten sie nur die Schwäche für miese Horrorfilme. Das einzig Ungewöhnliche an beiden war lediglich die Tatsache, dass sie offenbar trotz aller Unterschiede sehr gute Freunde waren. Zumindest wollte keiner von beiden, dass der andere von einer wütenden Zombiebraut entmannt wurde … Und dann – es ist wie ein Schlag in den Magen –, dann versteht plötzlich, was Dean wirklich beschäftigt. „Du hättest uns sehen sollen, Sam. Unser Leben. Du warst so ein … Waschlappen.“ „Wir kamen nicht gut miteinander aus, was?“ „Nein.“ „Und das sollte diese … perfekte Phantasiewelt sein?“ „Nein. Es war nur ein Wunsch. Und mein Wunsch war, dass Mom lebt. Und wenn sie nie gestorben wäre … dann hätten wir nie zusammen gejagt. Und dann wären du und ich niemals …“ Es ist acht Tage seit Illinois. Seit Dean in Barbies Traumwelt aus Plastik aufgewacht ist, in der alles perfekt und nichts wirklich gut war. Sie haben nicht viel gemeinsam. Das ist einfach so. Schon immer gewesen. Weder Ansichten noch Hobbies oder Eigenschaften, und nicht einmal solche Kleinigkeiten wie die Frage, wie sie ihren Kaffee trinken. Sie hören nicht einmal die gleiche Musik. Meistens merkt es keiner so wirklich, nicht einmal sie selbst. Einfach weil sie gemeinsam in diesem Leben feststecken und keiner von ihnen einer andere Wahl hat. Keine andere Wahl zu haben, ist natürlich nicht wahnsinnig romantisch und generell keine gute Ausgangsposition für irgendeine Beziehung. Es ist nur, dass das auch nie wichtig war. Dass Sam nie darüber nachgedacht hat, ob er in einem anderen Leben mit Dean klar kommen würde. Ob er mit einer anderen Version von Dean klarkommen würde. Mit einem Bruder, mit dem ihn nichts verbindet außer ein paar Gene. „Dean, ich …“ Er stockt. Da ist so vieles, was er jetzt sagen könnte. Aber das ist vielleicht das einzige, was er mit seinem Bruder gemeinsam hat. Die Unfähigkeit über Dinge zu reden. Dean wirft ihm einen langen, forschenden Blick zu und schweigt. Irgendwann verzieht er den Mund zu einem spöttischen Lächeln und fixiert den Blick zurück auf die Straße. „Ist schon in Ordnung. Es spielt sowieso keine Rolle. Wir sind keine Freunde. Wir waren nie welche.“ Sam wendet den Kopf ab. Aus unerfindlichen Gründen tut das weh. Wie ein kleines fieses Stechen irgendwo in der Magengegend, und idiotischerweise fühlt es sich ein bisschen so an, als hätte Dean grade mit ihm Schluss gemacht. - Sie nehmen ein Motelzimmer irgendwo in Iowa. Keiner von ihnen redet viel und alles ist plötzlich ein bisschen verklemmt und seltsam. „Willst du zuerst duschen?“ „Uh … nein?“ Dean ist noch nie zuvor auf die Idee gekommen, ihn das zu fragen, und Sam sieht ihn an, als sei er irre. Es war immer klar, dass derjenige, der am meisten Monstereingeweide in den Haaren hatte, zuerst dran war. Oder einfach derjenige, der am schnellsten ins Bad stürzt und die Tür hinter sich zuschlägt. In ihrem Leben ist wenig Platz für höfliche Zurückhaltung. Als Sam schließlich unter dem heißen Wasserstrahl steht und den Geruch nach Friedhofserde von seiner Haut wäscht, kann er nicht anders als sein Parallelwelt-Ich ein klein wenig zu hassen. - Die Sache in Wisconsin (Ehemann läuft Amok und erschießt Familie im Schlaf. ‚Sein Rasen war immer vorbildlich’, sagen die Nachbarn) entpuppt sich als sehr deprimierendes Familiendrama und nichts Übernatürliches. Sam bezweifelt, dass das wirklich so viel besser ist, aber zumindest fällt das nicht mehr in ihr Gebiet. „Hast du diesen Rasen gesehen? Und den weißen Gartenzaun? Ich würde auch Amok laufen.“ Es ist ein weiterer Highway und ein weiteres Diner, und Dean ist damit beschäftigt seinen Teller Pommes in ein blutrotes Ketchupmassaker zu verwandeln, während er redet. Sam schweigt. Alles ist wie immer und trotzdem ist nichts in Ordnung. Dafür, dass er zuerst eine Woche lang versucht hat, das Thema anzusprechen, ist Dean seit drei Tagen erstaunlich hartnäckig damit beschäftigt, es zu ignorieren. Ihre Gespräche sind praktisch und professionell und auf das wesentliche reduziert („Gibst du mir mal das Salz?“); und wenn sie im Auto sitzen, dreht Dean die Musik auf. Es ist ein bisschen melodramatisch, weil eigentlich gar nichts wirklich passiert ist. Trotzdem fühlt Sam sich die ganze Zeit so, als ob er Mist gebaut hat und sich für irgendetwas entschuldigen sollte. Was total unfair ist, denn er hat nichts gemacht! Er war genau genommen nicht einmal dabei. Und er kann nicht anders, er muss an die stillen, weißen Gesichter der drei Kinder im Leichenschauhaus denken, an die manikürten Fingernägel der Mutter und an die ordentlich gescheitelten Haare des Vaters … und er fragt sich, ob die Kommunikation in dieser Familie auch so im Eimer war wie in ihrer eigenen. Solange, bis der Vater eines Morgens aufwachte und beschloss, dass er heute nicht zu seiner Arbeit gehen würde … dass er die frischen Pfannkuchen seiner Frau auf dem Frühstückstisch stehen ließ und einfach sein Gewehr nahm und das Kinderzimmer seiner zwei jüngsten Töchter betrat und … „Noch Kaffee, ihr Süßen?“ Ihre Kellnerin – Elinor, sagt das Namensschild – hat eine Angewohnheit, urplötzlich und aus dem Nichts neben ihrem Tisch aufzutauchen, die Sam jedes Mal zusammenfahren lässt. Aber vielleicht sind es auch nur seine angespannten Nerven. Er reibt sich über das Gesicht und atmet tief durch. „Ja bitte.“ Er nickt und schiebt ihr die Tasse mit mehr Schwung entgegen als nötig. Dean hatte offenbar zeitgleich dieselbe Idee, denn ihre Tassen stoßen in der Mitte des Tisches mit einem heftigen Klirren aneinander. Ihre Koordination ist ein bisschen daneben in letzter Zeit. „Nicht so stürmisch, Jungs – ich habe genug für alle.“ Elinor ist klein und ein bisschen pummelig und hat ein ansteckendes, warmes Lachen. Sie nennt sie ‚Süßer’ und ‚Jungs’, und einmal hat sie zu Sam ‚Kleiner’ gesagt, was … gelinde gesagt seltsam war. Er nickt und weicht ihrem Lächeln aus. Als er die Hand von seiner Tasse zurückziehen will, spürt er plötzlich Deans Griff um sein Handgelenk. Er muss nicht einmal aufsehen, um zu wissen, dass sein Bruder ihn grade mit Blicken durchbohrt. „Wollt ihr noch was zu Essen haben? Oder soll ich gleich noch mal wiederkommen?“ „Sam.“ Dean ignoriert sie. Er kann das unheimlich gut. Andere Menschen und Umgebungen von einer Sekunde völlig ausblenden, als ob sie nur Hintergrundstörgeräusche sind. „Wir hätten gefüllte Teigtaschen im Angebot. Mit Chili oder Feta und Spinat oder …“ Ihre Stimme wird weißes Rauschen. „Sam.“ Es klingt nachdrücklich. Deans Griff ist nicht einmal fest, er lässt einfach nur seine Finger auf Sams Handgelenk liegen. Direkt über dem Puls. Es ist zu nah und zu dicht, ohne Rücksicht auf Privatsphäre und ohne Worte. Dean kann ohne Worte alles besser. „Danke, gleich“, sagt Sam schließlich, ohne aufzusehen. „Wir überlegen noch.“ „Wie du willst, Süßer.“ Elinor ist nett und verschwindet. Die Finger rutschen so beiläufig von seinem Handgelenk, als ob Dean bis eben nicht einmal bemerkt hätte, dass sie da sind. „Du weißt, dass das nicht unsere Schuld war, oder?“, sagt er leise. „Wir hätten nichts tun können. Menschen sind manchmal einfach … wahnsinnig. Und wahnsinnig bescheuert.“ Er ist ein Lügner, denn ihm spuken die drei blassen Kindergesichter genauso im Kopf herum wie Sam. Es macht ihn immer fertig, wenn es Kinder sind. „Ich weiß.“ Aber Dean sieht immer noch besorgt aus und ein bisschen hilflos; wie immer, wenn er glaubt, dass Sam ein Problem hat, dass er nicht wieder gut machen kann. „Es tut mir leid“, platzt Sam aus dem Nichts heraus. Deans grüne Augen weiten sich überrascht, als hätte er alles nur nicht das erwartet. Er runzelt die Stirn. „Jetzt hör mal, ich weiß, dass du dich auch für das Sterben der Regenwälder persönlich verantwortlich fühlst, aber das hier war wirklich nicht unsere …“ „Das meine ich nicht.“ Sam schüttelt nachdrücklich den Kopf. „Ich meine … Illinois.“ Dean lehnt sich vorsichtig ein Stück zurück, ohne Sams Gesicht aus den Augen zu lassen. Er ist plötzlich auf der Hut, als ob er die ganze Zeit erwartet hat, dass das Thema irgendwann aus dem Nichts wieder auftaucht und ihm an die Kehle springt. „Das war auch nicht deine Schuld.“ „Ich war nicht … ich meine, ich war kein … Ich war offenbar kein besonders guter Bruder und … sorry. Wenn dir das irgendetwas bedeutet. Ich weiß nicht, was ich genau gemacht habe, aber vermutlich … habe ich es nicht so gemeint.“ Okay, wow. Das war offiziell die zweitlahmste Entschuldigung aller Zeiten. Aber es ist schwierig es besser hinzukriegen, wenn man gar nicht genau weiß, was man gemacht hat. Und genau genommen nicht einmal dabei war. Dean starrt ihn an, als hätte er den Verstand verloren. „Hast du nicht mehr alle Tassen im Schrank?“, fragt er schließlich. „Wovon redest du?“ Das ist nicht die Reaktion, auf die Sam gehofft hat. „Ich wollte nur … ich dachte …“ „Du hast gar nichts gemacht, Sam. Ich war ein Arsch.“ Es ist eine ganz sachliche Feststellung. Sam klappt den Mund auf und wieder zu. Denn … das? Vollkommen unerwartet. „Was hast du getan?“, fragt er aus aufrichtigem Interesse. Nicht weil er das Dean irgendwann mal vorhalten will. Auch wenn man das nie ausschließen sollte. Dean beißt auf seiner Unterlippe herum und sieht an ihm vorbei. „Zeug.“ „Zeug? Was für Zeug?“ „Uhm … so was wie … deine EC-Karte zu klauen?“ Sam legt den Kopf schief und angelt nach seinem Kaffeebecher, der immer noch in der Mitte des Tisches steht. Zwei Stück Zucker und Milchschaum. „Du klaust andauernd meine Kreditkarten. Vor allem die mit vernünftigen Namen. Und dann jubelst du mir welche unter, wo ich ‚Roger Bumwhackit’ heiße oder Bikini-Inspektor bin!“ „Du könntest total ein Roger sein.“ „Nein, könnte ich nicht.“ Sam tritt unter dem Tisch nach ihm und verflucht innerlich die schnellen Reflexe seines Bruders, als er nur die Bank erwischt. „Ich bin von deiner Abschlussfeier abgehauen“, sagt Dean, in einem Tonfall, der klar macht, dass er das unverzeihlich, aber leider sehr realistisch findet. „Und ich glaube, ich habe dein Prom-Date flachgelegt. Renée, Rachel … Rachel irgendwas.“ Dean sieht aufrichtig schuldbewusst aus und fingert nervös an seiner Gabel herum. Sam starrt ihn an … und es ist total unhöflich, aber er kann nicht anders. Er fängt an zu lachen. „Rachel, ja?“ Ein beinah erleichtertes Grinsen zerrt an Deans Mundwinkeln. „Ja, Rachel.“ „Mein Prom-Date. Gott, du bist unglaublich.“ Sam verdreht die Augen. „Vermutlich war sie sowieso nicht scharf.“ „Vermutlich. Wenn sie auf dich reingefallen ist.“ Sekundenlang grinsen sie sich einträchtig an und alles ist so wie es sein sollte. Zumindest einen Augenblick lang. „Und dafür … hab ich dich gehasst?“, fragt Sam behutsam, weil das etwas ist, was er wissen muss. Denn auch wenn es mehr Zeiten gab, in denen er Dean mit einem stumpfen Gegenstand den Schädel einschlagen wollte, als er sich erinnern kann … es hat nie eine Zeit gegeben, in der er Dean gehasst hat. Nicht einmal vor Stanford. Und nicht einmal wegen Jess’ Tod, wegen dem er sich selbst und Dad, ihr Leben und die ganze Welt gehasst hat. Dean zuckt mit den Schultern und angelt ebenfalls nach seinem Kaffee. Keine Milch, kein Zucker. „Sagen wir … die Trophäe „Bester großer Bruder“ hättest du mir vermutlich nicht überreicht.“ Er klingt flapsig, aber sein Blick ist nachdenklich und auf den Tisch gerichtet. Es ist einer der Momente, wo es am besten ist, wenn Sam einfach die Klappe hält und wartet. Manchmal vergisst Dean dann, dass er eigentlich gar nichts sagen wollte. „Du hast mich nicht gehasst.“ Dean schiebt eine einsame Pommes über seinen Teller, quer durch ein Meer aus Ketchup. „Vermutlich war ich dir nicht wichtig genug, um mich zu hassen. Wir hatten einfach keinen Kontakt. Du hast gesagt, dass wir eigentlich nur an Feiertagen miteinander reden. Weil wir nichts … gemeinsam haben.“ Und plötzlich machen die ganzen Fragen und die Bemerkungen über Bill und Steve ein kleines bisschen mehr Sinn. Nichts gemeinsam. Hasta la vista, Baby. Nichts gemeinsam heißt, dass man sich verlässt. Weil man keinen Grund hat, sich miteinander zu beschäftigen. Es ist ein bisschen Stanford. Eine Karte zu Weihnachten. Eine Karte zum Geburtstag. Leute, die erstaunt die Augenbrauen heben und sagen: ‚Du hast einen Bruder? Den hast du nie erwähnt …’ Es ist wie zwanzig Jahre Stanford … und so gerne er auch dort gewesen ist, der Gedanke dreht ihm den Magen um. „Tut mir leid“, sagt er leise. Deans Gabel stoppt mit einem Kratzen auf dem Teller. Die einsame Pommes ist bei der einzig anderen übriggebliebenen Pommes gelandet. Sie schwimmen gemeinsam in einem blutroten Ketchupmassaker. Ohne Ausweg. Aber immerhin zu zweit. Sam ist beinah sicher, dass das eine Metapher für ihr gesamtes Leben ist. „Du bist eingestiegen“, sagt Dean ein wenig zusammenhangslos und hebt den Kopf. Er sieht überrascht aus, so als könnte er das immer noch nicht richtig glauben. „Es war mitten in der Nacht und du dachtest, ich bin verrückt und kriminell und habe einen Nervenzusammenbruch. Du hast Mum und Jess sitzen gelassen und du bist … eingestiegen und mitgekommen. Ich hab dir gesagt, du sollst es lassen, weil du ein Waschlappen bist und keine Ahnung hast, aber du penetranter Bastard bist einfach in den Wagen gestiegen.“ Sam hat keine Ahnung, wovon er redet, aber es klingt zumindest so, als hätte sein preppy Elite-Uni-Ich wenigstens eine Sache richtig gemacht. Das ist gut. Das ist irgendwie beruhigend. Dean rutscht unruhig auf seinem Sitz hin und her und räuspert sich, als ob ihm plötzlich bewusst wird, wie haarscharf das Ganze an einem kitschigen Schnulzenmoment vorbeischliddert. „Also entschuldige dich nicht andauernd. Das einzige, wofür du dich entschuldigen solltest, sind die Poloshirts. Alter, nicht einmal als angehender Anwalt konntest du dir anständige Sachen leisten.“ Sam grinst und ist klug genug, es hinter seinem Kaffeebecher zu tarnen. „Kann ich euch noch irgendetwas bringen, Jungs?“ Elinor erscheint aus dem Nichts neben ihrem Tisch – und diesmal fahren sie gleichzeitig zusammen. „Kuchen“, hört Sam sich antworten, bevor er darüber nachdenken kann. „Irgendeinen. Zwei Stück.“ „Alles klar, Schätzchen.“ Sie nickt. Dean starrt ihn an. „Kuchen? Du magst Kuchen nicht mal.“ „Tatsache.“ Es ist das Netteste, was er seit drei Tagen gesagt hat. „Oh.“ Dean guckt zur Seite und tut so, als würde er nicht lächeln. „Ich werde mich wohl für dich opfern müssen. Schließlich können wir Elinor und ihren Kuchen nicht beleidigen.“ „Definitiv nicht.“ Er beugt sich ein Stück vor und zischt: „Macht sie dir auch so viel Angst? Weil, mir macht sie Angst.“ „Nein. Sie ist kleiner als ich.“ „Jeder ist kleiner als du, du Freak.“ Wir sind keine Freunde. Wir waren nie welche. Deans Satz spukt in seinem Kopf herum und plötzlich ist es keine Katastrophe mehr, sondern einfach eine Tatsache. Sie sind keine Freunde. Freunde kommen und gehen. Freunde sterben. Freundschaften zerbrechen. Freunde kann man verlassen. Vermutlich werden sie nie Minigolf zusammen spielen oder sich Sprüche in Poesiealben schreiben. Vermutlich werden sie auch nie ihre Traumfrau aus Leichenteilen basteln. Was … vielleicht gar nicht so deprimierend ist. Aber von seinem Bruder kann er sich nicht scheiden lassen, ganz egal was passiert und ganz egal, wie sehr Dean ihn nervt. Manchmal ist das ganz beruhigend. „Okay“, sagt Sam und angelt nach seinem Laptop. „Ich hab vorhin was gesehen, das klang ganz interessant. Was macht dich mehr an? Poltergeist in Michigan oder okkulte Sekte in Virginia?“ „Ich will die Sekte. Der letzte Poltergeist war total lahm. Opfern sie Jungfrauen? Wenn ja, wäre es echt witzig, dass sie in Virginia sind. Denkst du, es gibt Sekten mit Humor …? Sammy?“ „Kannst du mit ein bisschen Ernsthaftigkeit an die Sache rangehen?“ „Zicke.“ „Idiot“, sagt Sam und hat keine Ahnung, wieso Dean plötzlich aussieht, als wäre Weihnachten. ^Fin^ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)