Once upon a time von Chibichi (Eine Sammlung von märchenhaften Kurzgeschichten) ================================================================================ Kapitel 1: Immer wenn es regnet... ---------------------------------- Der Regen strömt aus den grauen Wolken und legt einen feuchten Schleier über die Welt. Die Menschen eilen in ihre Häuser, um Schutz vor dem Unwetter zu suchen. Doch ich halte mein Gesicht in den kalten Regen und lache, denn die Regentropfen kitzeln meine Haut. Ich bin so glücklich, dass ich anfange zu tanzen, und die Regentropfen tanzen mit mir und hüpfen vor lauter Freude in die Pfützen und Seen. Sie trommeln gegen die Blätter der Bäume und schlagen den Takt zu meinem Tanz. Nur wenn man ganz genau hinhört, erkennt man im Rauschen die Musik des Regens, aber die Sterblichen finden in ihrem kurzen Leben nicht die Zeit dazu dem Regen zu lauschen. Meine langen, schwarzen Haare sind schon ganz nass und kräuseln sich noch mehr, als sie es so schon tun und meine Gewänder kleben an mir wie eine zweite Haut. Allerdings stört mich das alles nicht, denn ich liebe den Regen. Ausgelassen tanze ich weiter und feiere meine Freiheit, solange bis die Regentropfen kleiner und weniger werden. „Eudora! Wir müssen gehen, komm, beeile dich.“ Der Ruf meiner Schwestern holt mich wieder zurück. Langsam drehe ich mich zu ihnen um und schaue sie traurig an. „Müssen wir denn wirklich schon gehen? Es ist gerade so schön...“ Kleeia, meine älteste Schwester, nickt leicht: „Ja, wir müssen wirklich schon. Du siehst doch, es hört gleich auf zu regnen. Wir müssen uns beeilen und zurückkehren.“ Lächelnd streckt sie ihre Hand nach mir aus, die ich nach kurzem Zögern ergreife. Nur widerwillig kehre ich mit ihnen zurück, schließlich war der Ausflug einfach zu schön gewesen. Aber sie haben Recht, wir müssen zurück, so wie immer wenn es aufhört zu regnen. Denn nur bei Regen dürfen meine Schwestern und ich zur Erde, weil wir die sieben Hyaden sind. Leise seufzend blicke ich noch einmal zurück zu dieser wundervollen Welt, in der rauschende Flüsse durch die grünen Wiesen und Wälder fließen, die majestätischen Berge stolz ihre Gipfel in den Himmel recken und das tiefe Meer seine Wellen am weiten Strand bricht. Bevor ich auch nur blinzeln kann, ist diese traumhafte Welt verschwunden und wir sind wieder dort, wo wir hingehören. Seit einer Ewigkeit, wie es mir vorkommt, sind wir hier zu Hause und können nur aus der Ferne einen Blick auf die Erde werfen. Ach, waren das noch Zeiten, als wir alle gemeinsam durch die Gärten der Welt getollt sind und jeden Tag getanzt und gespielt haben. Unsere Mutter Pleione hat uns dabei immer Gesellschaft geleistet. Manchmal hat sie mit uns getanzt und ihr sanftes Lachen, das wie das Meeresrauschen klingt, war überall zu hören. Und über uns alle wachte unser großer Bruder Hyas, der unser liebevoller Beschützer und ständiger Begleiter war. Aber das hatte bald ein Ende, als Hyas zur Jagd aufbrach und nicht mehr zurückkehrte, weil er von einem wilden Löwen angefallen wurde. Die Seele von Hyas stieg in den Himmel auf und wurde in das Sternbild des Wassermanns aufgenommen. Es war ein trauriger Tag in unserem sonst so glücklichen Leben und unsere Tränen um unseren geliebten Bruder wollten einfach nicht versiegen. So hatte der große Göttervater Zeus Mitleid mit uns und verteilte uns über den Himmel und wir alle wurden ebenfalls zu Sternen. Auf diese Weise können wir für immer in der Nähe unseres Bruders bleiben und wenn man genau zum Sternenhimmel aufsieht, kann man uns im Sternenbild des Stiers entdecken. Auch wenn ich so meinen Bruder jeden Tag sehen kann, vermisse ich die Erde und ihre Natur. Hier oben gibt es nichts außer Sterne. Etwas wehmütig schaue ich zur Erde hinab und wünsche mir, dass es bald wieder regnet, damit ich wieder tanzen kann. Der Regen heute war einfach viel zu kurz nach der langen Dürrezeit, in der wir hier verweilen mussten. „...ora. Hörst du mich, Eudora?“ Langsam wende ich den Blick von der wundervollen Welt ab und drehe mich zu meinem Bruder um, der mich besorgt anschaut. „Was ist mit dir? Geht es dir nicht gut? Du siehst so traurig aus.“ Die sonst so lächelnden Augen von Hyas sind nachdenklich auf mich gerichtet. Ich schüttele meinen Kopf, so dass meine noch vom Regen nassen Locken hin und herschwingen, und lächele: „Keine Sorge, mir geht es gut.“ Wenn ich es oft genug sage, glaube ich irgendwann selbst daran und vergesse vielleicht meine Sehnsucht nach der Erde. „Sie ist nur traurig, weil der Regen wieder aufgehört hat,“ mischt sich nun meine Schwester Phaola ein. „Du hättest sie tanzen sehen sollen, Hyas. Sie hat alles um sich herum vergessen.“ Langsam versammeln sich auch meine anderen Schwestern um uns. Coronis meint lächelnd: „Eudora hat schon immer ihren Kopf in den Wolken gehabt, wenn sie tanzt.“ „Stimmt, unsere kleine Schwester ist eine Träumerin,“ versucht Polyxo mich zu necken. Ich merke, wie mir die Röte ins Gesicht steigt, und ich lache verlegen: „Hört doch auf, wir sind Nymphen, wir sollen doch tanzen.“ „Ja, ihr sollt tanzen,“ sagt Hyas sanft. „Aber manchmal habe ich das Gefühl, dass du die Regentage herbeisehnst und am liebsten vor immer auf der Erde tanzen würdest.“ Sein Blick wird dabei wieder so unendlich traurig, als wenn er Angst hat, mich zu verlieren. „Sie wird aber nicht für immer auf der Erde bleiben können,“ schaltet sich nun Cardia ein. „Das weißt du doch, Eudora. Wir sind Regennymphen, deshalb dürfen wir nur zurück, wenn es regnet.“ Tröstend streicht sie mir über die Wange und in ihrem Blick kann ich lesen, dass sie manchmal genauso fühlt wie ich. Es stimmt, der große Zeus hat uns auferlegt, dass wir unser Leben aufgeben, um unserem Bruder folgen zu können. Eine Rückkehr zur Erde ist nur möglich, wenn der Himmel an unserer Stelle weint und sobald dieses Weinen aufhört, müssen wir zu unserem Platz bei den Sternen zurückeilen. Meine Mutter, die eine Meeresnymphe ist, hat mir einmal erklärt, dass eine Nymphe nur ihren zugewiesenen Platz verlassen kann, wenn sie sich in einen Sterblichen verliebt und dieser sie küsst. Einen anderen Weg gibt es nicht. Ich werde einfach weiterhin so tun, als würde ich nicht für immer auf der Erde bleiben wollen, um meinen Geschwistern keinen Kummer zu bereiten. Der nächste Regentag kommt bestimmt und dann kann ich über die Wiesen tanzen. Tatsächlich, bereits der nächste Tag dämmert grau, als Eos mit ihrem Wagen über den Himmel fährt, um die Morgenröte zu verbreiten. Auch als Helios ihr mit seinem Wagen folgt, will die Sonne nicht scheinen. Es ziehen immer mehr graue Wolken auf und verdecken den Himmel. Ich kann spüren, wie es in meinen Füßen anfängt zu kribbeln, gleich wird es regnen. Vor lauter Vorfreude wirbele ich herum und lächle glücklich meine Schwestern an, die auch das Schauspiel am Himmel verfolgen. Da, der erste Regentropfen fällt und zerspringt in winzige Wasserperlchen, als er auf dem Boden auftrifft. Jetzt kann mich nichts mehr zurückhalten und ich eile meinen Schwestern voraus zur Erde. „Eudora, geh nicht zu weit vor. Bleib doch in unserer Nähe!“ höre ich sie noch rufen, aber da berühren meine Füße schon das grüne Gras und ich beginne zu tanzen. Ich tanze noch fröhlicher, noch ausgelassener, noch wilder als gestern und springe anmutig in die Luft, um dann graziöse Pirouetten zu vollführen. Der Regen tropft auf mich herab und ich lächele glücklich, als müsste ich nie mehr zurückkehren. Irritiert bleibe ich mitten im Tanz stehen. Was ist das? Vor mir im Regen steht ein Jüngling mit blondem Haar, das ihm triefend in der Stirn hängt. Er macht gar keine Anstalten Schutz vor dem Wetter zu suchen, wie es die Menschen doch sonst immer tun. Er bleibt einfach dort stehen, hält sein Gesicht in den Regen und lächelt dabei. Mein Herz setzt einen Sprung lang aus, denn das Lächeln kommt mir so vertraut vor. Es ist das selbe, das ich auf den Gesichtern meiner Schwestern sehe, wenn es regnet, und das ich selbst gerade habe. Zögerlich gehe ich auf ihn zu, denn sein Lächeln zieht mich magisch an, aber ich habe bisher noch nie mit einem Sterblichen gesprochen. Als ich vor ihm stehe, blickt er mich mit seinen blaugrauen Augen an, welche die Farbe des Regens haben. „Du magst auch den Regen?“ Meine Stimme klingt brüchig, obwohl sie sonst so sanft und klar ist. Er lacht: „Ja, ich liebe den Regen, er wäscht die Welt wieder rein.“ Sein Lachen perlt aus seiner Kehle wie die Regentropfen auf den Blättern der Pflanzen um uns. Es springt auf mich über und ich stimme in sein Lachen mit ein. „Wenn der Himmel geweint hat, ist die Welt wieder wie neu. Alle Sorgen und Ärgernisse sind dann fortgewaschen und man kann wieder von vorne anfangen,“ sage ich lächelnd und blicke in seine strahlenden Augen. Er nickt leicht: „Aber die meisten Menschen laufen in ihre Häuser, wenn es regnet, um nicht nass zu werden. Dabei würde der Regen auch sie von ihrem Kummer befreien. Aber ich habe noch nie jemanden gesehen, der im Regen tanzt so wie du.“ Dabei blickt er mich fragend an. „Wer bist du, kleine Regentänzerin?“ Unsicher schaue ich zum wolkenverhangenen Himmel hinauf. Soll ich ihm wirklich sagen, wer ich bin? Wird er es verstehen, wenn ich es ihm sage? Aber er steht nass bis auf die Haut vor mir und lächelt, weil es regnet. In meinem Herzen weiß ich, dass er alles verstehen wird, was ich ihm erzähle, denn er teilt meine Liebe zum Regen. Ich zögere noch kurz und antworte dann: „Ich heiße Eudora. Und ich tanze im Regen, weil ich eine Regennymphe bin.“ Mein Herz schlägt schneller, als ich in seinen Augen nach einer Reaktion suche. Sein Lächeln wird sanfter und er macht einen Schritt auf mich zu, um mir eine meiner nassen Locken hinter das Ohr zu streichen. Dann sagt er leise: „Ich hatte mir schon gedacht, dass du nur eine Nymphe sein kannst, als ich dich beobachtet habe. So anmutig und schön kann kein sterbliches Wesen tanzen und ich habe schon viele Menschen tanzen sehen, denn ich bin Musiker. Mein Name ist Leandros.“ Bei dem Gedanken, dass er mich beim Tanzen beobachtet hat, erröten meine Wange und ich sehe ihn verlegen an. Nur andere Nymphen und mein Bruder haben meinen Tanz bisher gesehen, bei dem ich alles um mich herum vergesse. Doch Leandros habe ich wahrgenommen und bin stehengeblieben. Seine Hand streichelt sanft über meine Wange und er flüstert: „Wenn du tanzt, siehst du noch bezaubernder aus. Würdest du noch einmal nur für mich tanzen?“ Mein Herz rast erneut und ich schlucke schwer, bevor ich wieder etwas sagen kann. „Nur für dich? Warum?“ Sonst habe ich nur vor lauter Freude über das Leben und den Regen für mich selbst getanzt. Leandros lächelt über meine Frage und blickt zärtlich mit seinen regenfarbenen Augen in meine. „Ja, nur für mich. Weil ich mich in dich verliebt habe.“ Vorsichtig beugt er sich zu mir und küsst mich. Als unsere Lippen aufeinander treffen, habe ich das Gefühl, als würde die Welt wenigstens für einen Moment stehen bleiben. Ein Kribbeln breitet sich über meinen Körper aus, das ich noch nie gefühlt habe, als würden winzige Regentropfen auf meine Haut prasseln. Bedächtig löst er den Kuss und schaut mich fragend an: „Tanzt du für mich?“ Langsam nicke ich, gehe ein paar Schritte zurück und fange an zu tanzen. Schon bei dem ersten Schritt merke ich, dass sich mein Tanz verändert hat. Jeder Schritt, jede Drehung, jede Geste ist anmutiger geworden als vorher, denn eine Nymphe drückt ihre Gefühle im Tanz aus und meine Gefühle sind gerade erst erwacht. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass Leandros mich lächelnd betrachtet und jede meiner Bewegungen verfolgt. Mein Herz klopft wie wild, nur weil er mich beobachtet, und ich beendige den Tanz zögerlich. Bevor ich wieder zu ihm gehen kann, höre ich den Ruf meiner Schwestern: „Eudora, komm schnell, es hört gleich wieder auf zu regnen!“ Ich hatte gar nicht gemerkt, dass die Regentropfen spärlicher geworden sind. Unsicher drehe ich mich zu meinen sechs Schwestern, die auf mich warten. „Na los, worauf wartest du?“ ruft Ambrosia. Ein wenig traurig schüttele ich meinen Kopf: „Ich werde nicht mit euch zurückkommen, sondern hier bleiben.“ Meine Stimme schwankt etwas, aber mein Entschluss steht fest. „Aber... warum?“ fragt Kleeia entsetzt. Langsam gehe ich zu Leandros und ergreife seine Hand. Dann erkläre ich ihnen: „Ich habe mich verliebt. Es tut mir leid, ich werde nicht mit euch kommen, sondern bei ihm bleiben.“ Meine Schwestern nicken traurig, denn sie haben verstanden, was in mir vorgeht. Eine nach der anderen kommt zu mir, umarmt mich und küsst mich auf die Stirn. „Pass gut auf dich auf, Eudora. Wir werden es Hyas erklären,“ sagt Phaola wehmütig. Mit den letzten Regentropfen verschwinden die sechs wunderschönen Nymphen, die meine Schwestern sind, und kehren zu den Sternen zurück. Die Sonne bricht langsam durch die Wolken und ein Regenbogen zieht sich über den Horizont. Leandros legt tröstend seinen Arm um mich, auch wenn ich nun von meinen Geschwistern getrennt bin, bin ich glücklich. „Ich liebe dich, meine kleine Nymphe,“ flüstert er in mein Ohr und ich blicke in seine Augen, die wie der Regen schimmern. „Ich liebe dich auch, Leandros.“ Dann zieht er mich behutsam an sich und küsst mich sanft. Ich brauche nicht traurig zu sein, denn ich sehe meine Schwestern wieder, immer wenn es regnet... Kapitel 2: An alternative Story ------------------------------- Kennt ihr das Gefühl, dass man etwas Wichtiges verpasst hat, weil man zu der Zeit etwas völlig anderes gemacht hat? Oder vielleicht das Gefühl, dass man sich vollkommen falsch entschieden hat und sich nun sein Leben lang fragen muss, was gewesen wäre, wenn man die Alternative gewählt hätte? Wenn ihr eins dieser Gefühle kennt, dann müsstet ihr mich eigentlich auch kennen. Aber wahrscheinlich habt ihr mich bereits vergessen oder als verschwommenes Traumgespinst, das euer übernächtigter Verstand produziert hat, zur Seite gewischt. Das passiert wirklich oft mit euch Menschen. Da kann man euch noch so sehr helfen und ihr vergesst einen trotzdem sofort, nachdem man euch eure Wünsche erfüllt hat. Aber eigentlich sollte ich mich nicht beklagen, denn schließlich bringt das meine Aufgabe so mit sich. Es ist ja auch kein Wunder, dass ihr versucht, meine Existenz damit zu erklären, dass ihr nur geträumt habt. Wer von euch würde schon freiwillig zugeben, dass ihm eine echte Fee begegnet sei? Gott sei Dank ist es nur eine Legende, dass jedes Mal wenn ein Mensch seinen Glauben verliert, eine Fee ihr Leben verliert. Ansonsten wären wir schon alle vor langer Zeit wie die Fliegen umgefallen und es würde nicht einmal mehr helfen, wenn ihr euch die Hände wund klatschen würdet. Na, wer sollte dann eure Wünsche erfüllen? Habt ihr euch eigentlich nie Gedanken darüber gemacht, dass eure Märchen auf der Wahrheit beruhen könnten? Oder glaubt ihr etwa Aschenputtel hätte selbst den Kürbis in eine Kutsche verwandelt? Nein, natürlich nicht! Meine liebe Großmutter Felicitas höchstpersönlich war Aschenputtels Patin und hat ihr jeden Wunsch erfüllt. Nur so hat das arme Ding die Chance ihres Lebens bekommen und den Prinzen heiraten können. Auch ich bin im Wunschgeschäft, aber ich arbeite etwas anders als meine Großmutter. Denn ich widme mich nur den Menschen, die ihre Chance des Lebens bereits vertan haben und nun an den Konsequenzen verzweifeln. Tja, eine falsche Abzweigung auf dem Weg des Lebens genommen und schon ist das ganze Dasein verpfuscht. Eigentlich sollte man euch die Suppe, die ihr euch selbst eingebrockt habt, auch auslöffeln lassen, aber wir Feen haben wahrscheinlich einfach ein viel zu weiches Herz dafür. Aber anstatt so lächerliche und wirklich einfallslose Wünsche nach einem großen Haus, einem schnellen Auto und tonnenweise Geld zu erfüllen, biete ich euch eine viel bessere Gelegenheit an. Ich bringe euch zurück in die Zeit, in der ihr den großen Fehler begangen habt, der euer Leben so negativ beeinflusst hat. Dann liegt es an euch nach den Sternen zu greifen und euer eigenes Lebensglück erneut zu schmieden. Na, ist das kein Angebot? Nur für den Fall, dass ihr irgendwann einmal meine Dienste in Anspruch nehmen wollt, seufzt dreimal des Nachts und stellt euch die Frage, wie euer Leben wohl aussehen würde, wenn ihr es anders gelebt hättet. Schon werde ich bei euch sein und euch helfen. Aber merkt euch: Ich komme nicht für jede ach so kleine Veränderung, die ihr in eurem Leben haben wollt. Denn ihr Menschen seid ja nie wirklich zufrieden und ihr neigt dazu uns Feen für Flaschengeister zu halten, wenn ihr uns ausnahmsweise mal nicht vergesst. Wir kommen nicht sofort angesprungen, um euch jeden Wunsch von den Augen abzulesen. „Jawohl Meister!“ „Wie Ihr wünscht, Meister!“ Solche Sätze werdet ihr nie von einer echten Fee hören, schließlich haben wir auch unseren Stolz. Gerade ein einziges Mal habe ich eine Ausnahme gemacht. Alleine hätte das Mädchen niemals sein Glück gefunden, dazu hatte es viel zu sehr die Gabe immer die falschen Entscheidungen zu treffen. Aber bildet euch selbst ein Urteil über die Geschichte von der dummen, kleinen Cäcilie, die ohne mich nichts auf die Reihe bekommen hätte. Cäcilie hatte schon öfters herzzerreißend geseufzt, so dass ich bereits einige Zeit, bevor sie mich überhaupt zu sich rief, auf sie aufmerksam wurde und ihr Schicksal verfolgte. Sie hatte aber auch alles falsch gemacht, was man nur falsch machen konnte. Also wirklich mal, benutzt ihr Menschen denn nie euren Verstand? Die gute Cäcilie hatte bereits sehr jung die Schule abgebrochen, um bei einer ominösen Agentur als Schauspielerin groß rauszukommen. Aber dazu reichte weder ihr minimal vorhandenes Talent, noch das ach so große Engagement ihres vielbeschäftigten und geldscheffelnden Agenten aus. Daher schlug sie sich mit einem miesen Job nach dem nächsten durchs Leben und konnte meistens gerade eben die Miete für das miefige, ungezieferverseuchte Loch, das ihr Vermieter ein gemütliches Apartment nannte, zusammenkratzen. Am Ende des Monats blieb ihr nichts anderes übrig als von den übriggebliebenden Brotkrümeln auf dem Toasterboden zu leben. Na ja, okay, das war jetzt eine kleine Übertreibung meinerseits, aber sie konnte von Glück sagen, wenn sie mal etwas Anständiges zwischen die Zähne bekam. Zu guter Letzt hatte der ja so vertrauensselige „Heizungsableser“ (als wenn es etwas zum Ablesen geben würde, wo das arme Ding sich nicht einmal im kältesten Winter die Heizkosten erlauben konnte) die letzten, wertvollen Habseligkeiten Cäcilies eingesteckt und beim nächsten Pfandleiher versetzt. Und damit waren dann die Kette mit dem goldenen Kreuz, die ihr früher ihre Großmutter geschenkt hatte, sowie das restliche Geld für die nächste Miete verschwunden. Es wurde also wirklich Zeit, dass ich einschritt. Als Nächstes hätte vielleicht der Vermieter sie noch auf die Straße gesetzt oder der Himmel wäre ihr auf den Kopf gefallen, wer weiß. Möglich ist ja alles. Also erschien ich ihr in einer verregneten, eisigen Nacht, als sie sich vergeblich versuchte unter einer dünnen Decke zu wärmen, mitleidserregend dreimal seufzte und sich fragte, warum ihr Leben so schief gelaufen war und sie noch immer keinen großen Durchbruch als Star geschafft hatte. Natürlich bin ich nur ganz, ganz langsam sichtbar geworden, obwohl ich eigentlich spektakuläre Auftritte liebe. Dichte Rauchschaden, lauter Trommelwirbel, ein Scheinwerferspot direkt auf mich gerichtet, und eine Stimme verkündet: „Und hier ist sie! Mitten in Ihrem Wohnzimmer, live und in Farbe: die Helferin der Verzweifelten, die alternative Wünscheerfüllerin, die echte und einzige Parinas, Ihre gute Fee!!!!“ Mensch, war das ein geiler Auftritt, allerdings ist die ältere Dame, die ich damals aufsuchte, fast an einem Herzinfarkt abgenippelt. Das gab vielleicht hinterher Ärger mit dem Feen-Aussichtsrat. Seitdem muss ich meine Auftritte auf Sparflamme ausführen. Aber zurück zur eigentlichen Geschichte, ich wurde also langsam vor Cäcilies Augen sichtbar, nur begleitet von leiser Harfenmusik. Es fehlte nur noch, dass ein himmlischer Chor „Fürchte dich nicht“ sang… Jedenfalls war das schon fast zu viel für die kleine, naive Cäcilie, denn sie blinzelte ungläubig vor sich hin, als könnte sie nicht glauben, was sie da sah. Zwischenzeitlich schien sie mein Erscheinen auf das alte Thunfischsandwich vom Mittag zu schieben. Nach reichlicher Verzögerungszeit sprang sie überrascht vom Bett auf und rief: „Wer bist du? Was machst du hier?“ Bevor ich zu einer Antwort ansetzen konnte, murmelte sie fassungslos vor sich hin: „Ich muss verrückt geworden sein. Das gibt es doch nicht. Ich habe bestimmt den Verstand verloren.“ Ich ließ sie noch ein bisschen weiter rumfaseln und räusperte mich dann. Dass ihr Menschen aber auch immer so merkwürdig reagiert, wenn man zu euch kommt. „Du bist nicht verrückt geworden.“, erklärte ich nachsichtig, obwohl ich da schon fast an meiner eigenen Aussage zweifelte, so wie sie sich aufführte. „Ich bin wirklich und tatsächlich hier. Gestatten, mein Name ist Parinas und ich bin eine gute Fee. Hier ist meine Karte.“ Damit überreichte ich ihr meine Visitenkarte. Zögerlich nahm Cäcilie diese entgegen und starrte auf den schnörkeligen Schriftzug. „Du… du bist eine gute Fee? Aber gibt es Feen nicht nur im Märchen?“, brachte sie nach einer Weile heraus. Ich seufzte. Das war ja mal wieder klar. Also musste ich wohl alles erklären: „Ja, ich bin eine gute Fee und uns gibt es nicht nur im Märchen. Als die Märchen geschrieben wurden, wussten wenigstens noch alle Menschen, dass wir existieren. Heute glauben die meisten nicht mehr an uns, weil wir ja nicht in eure ach so wissenschaftlicherklärbare Welt reinpassen. Aber ich bin hier, um dir zu helfen. Ich werde dir ein Angebot machen, dass du nicht ausschlagen kannst.“ Ihr braucht euch nicht zu wundern, selbst Feen gucken gerne mal einen guten Mafiafilm. Cäcilie hatte es allerdings nun vollends die Sprache verschlagen und sie stotterte nur noch: „Ei…ein Angebot?“ „Ja, ein Angebot.“, nickte ich. Himmel, war die begriffsstutzig. „Ich gebe dir die Möglichkeit, dass du zu dem Zeitpunkt zurückkehren kannst, an dem du die Entscheidung deines Lebens getroffen hast. Dann kannst du dich neu entscheiden und dein Leben verändern. Also, was sagst du dazu?“ Es dauerte etwas, bis sie die Tragweite meines Vorschlags verstand. Dann lächelte sie glücklich und antwortete: „Danke, gute Parinas. Ich würde gerne noch einmal den Moment erleben, bevor ich bei dieser Agentur unterschrieben habe. Ginge das?“ „Klar geht das.“, erklärte ich grinsend und schwang meinen Zauberstab über ihrem Kopf. „Viel Glück, Cäcilie, und entscheide dich gut.“ Damit wäre meine Aufgabe eigentlich erfüllt gewesen, wenn sich die Kleine wirklich gut entschieden hätte. Sie hatte tatsächlich darauf verzichtet bei dieser ominösen Agentur zu unterschreiben. So musste sie sich nicht halb zu Tode schuften, um die Gebühren für den habgierigen Agenten und dann noch die Miete zusammenzukriegen. Stattdessen hatte sie eine andere Agentur gefunden, die in ihr „das neue Gesicht“ sah, nach dem ganz Hollywood gesucht hatte. Ihre Karriere ging steil bergauf, obwohl die Filmrollen, die sie annahm, kein wirkliches Talent erforderten, sondern eher kurze Röcke und tiefe Ausschnitte. Bald war die kleine Cäcilie als wildes Partyluder bekannt, um das sich lauter falsche Freunde scharrten, die auch ein Stück vom großen Kuchen abhaben wollten. Sie gab stets ein Vermögen aus, ihr gehörten mehrere Penthäuser und ihr Kleiderschrank platzte vor Designerstücken, die sie nur einmal trug. Wer hätte gedacht, dass aus ihr eine echte, verzogene Diva wird? Ich jedenfalls nicht. Bald war sie durch ihren extravaganten Lebensstil hoch verschuldet, das Finanzamt war hinter ihr her wegen Steuerhinterziehung, die neuen Rollenangebote wurden zaghafter und alle falschen Freunde waren weg. Zurück blieb einzig und allein eine verzweifelte Cäcilie, die sich aus tiefsten Herzen wünschte, eine andere Entscheidung getroffen zu haben. Es wurde also wieder Zeit, dass ich einschritt. Mein Auftritt in ihrem fast leergeräumten Penthaus, schließlich war kurz vor mir eine Schar Gläubiger da gewesen, war etwas pompöser als beim ersten Mal. Endlich konnte ich wieder den Spezialeffekt mit den Rauchschaden und etwas coolere Erscheinungsmusik benutzen. „Da bin ich wieder, Cäcilie.“, verkündete ich. Ihr tränennasses, mit Wimperntusche verschmiertes Gesicht erhellte sich schlagartig, als sie mich erkannte. Kein Wunder, schließlich musste sie nicht mehr vor dem Scherbenhaufen ihrer Starkarriere stehen. „Parinas!“, rief sie glücklich. „Wie gut, dass du da bist. Ich habe so gehofft, dass du noch einmal zu mir kommst. Es ist alles schief gegangen…“ „Wir werden das schon wieder hinkriegen.“, beruhigte ich sie. „Ich werde dich wieder zurückschicken und dieses Mal denkst du genau über deine Entscheidung nach, okay?“ Sie nickte und so schwang ich den Zauberstab erneut über ihrem Kopf. Jetzt hätte es endlich ein Ende haben können, aber Cäcilie hatte immer noch kein Glück. Lernt ihr Menschen denn nichts dazu? Sie wechselte wieder die Agentur, aber diesmal wurde sie kein großer Star. Am Anfang wurden ihr nur so vielversprechende Rollen wie Statist in einer Seifenoper oder Handmodel bei dem neuen Spülmittel-Werbespot angeboten. Als der große Durchbruch weiter auf sich warten ließ, versuchte der neue Agent, der starke Ähnlichkeit mit einer Ratte hatte, ihr zu verklickern, dass sie eine große Chance in einem Filmgenre hatte, das meistens nachts in entschärfter Version im Fernsehen lief oder in der dunklen Ecke der Videothek zu finden war. Würde sie nicht darauf eingehen, sähe er sich gezwungen, sie an das Kleingedruckte in ihrem Vertrag zu erinnern. Entweder nahm sie die Filmrollen an oder sie musste dem Rattenagenten zehn Millionen blechen. Entsetzt verließ Cäcilie das Büro der Agentur, eilte nach Hause und rief dieses Mal direkt nach mir: „Parinas! Parinas! Bitte, komm und hilf mir. Es ist alles noch schlimmer geworden.“ Die Rauchschwaden verdichteten sich, die Lasershow setzte ein und ein lauter Knall kündigte meine Ankunft an. „Aus der Dunkelheit der Nacht erscheint die gute Fee Parinas!“ Endlich mal wieder ein Auftritt, der meiner würdig war. „Cäcilie, schön dich mal wieder zu sehen.“, begrüßte ich sie mit einem leicht ironischen Unterton. Wäre sie in der Lage gewesen das Kleingedruckte zu lesen, müsste ich ja gar nicht hier sein. Hoffungsvoll blickte sie mich an: „Hilfst du mir, Parinas?“ Ich ließ sie noch einen Moment lang zappeln und nickte dann: „Dies ist aber deine letzte Chance, also nutze sie gut. Triff also nicht wieder die falschen Entscheidungen.“ „Ich werde nicht noch einmal solche Fehler machen und alles gut durchdenken.“, versprach sie mir kleinlaut. „Gut.“, sagte ich knapp und schwang wieder den Zauberstab. Sie versuchte ihr Glück bei der nächsten Agentur. Gleich beim ersten Film hatte sie eine bedeutende Nebenrolle, die das Publikum verzauberte. Ein Film folgte dem anderen und jeder von ihnen war ein anspruchsvoller Kassenknüller. Nach einiger Zeit konnte sie mit einer Hauptrolle die Kinobesucher zu Tränen rühren und wurde auch prompt für den Oscar nominiert. Strahlend nahm sie die goldene Trophäe am Abend der Oscarverleihung entgegen. „Ich danke allen, die mir das ermöglicht haben. Und ganz besonders danke ich Parinas, meiner guten Fee.“ Dabei zwinkerte sie in die Kamera. Na Gott sei Dank, endlich ein Happy End. Und falls ihr mal meine Dienste beansprucht, vergesst mich nicht und bedankt euch hinterher brav. Es muss ja nicht unbedingt bei der nächsten Oscarverleihung sein. Kapitel 3: Die Nacht des blauen Mondes -------------------------------------- Verschmitzt grinste der Vollmond unter den schläfrigen Schäfchenwolken hervor und sah hinunter zur Erde. Alles dort unten lag im tiefen Schlummer. Sein bläulicher Schein erhellte das riesige Ziffernblatt an dem Kirchturm. Es war kurz vor Mitternacht. Sanft schob er die Wolken bei Seite, um einen besseren Blick zu haben. Heute Nacht konnte alles geschehen. Das konnten auch die vielen, kleinen Sternchen um ihn herum spüren, die unter viel Getuschel sein Tun beobachteten. Ein ganz kleines Sternchen, von dessen Laterne nur ein schwaches Schimmern ausging, sah fragend zu den Größeren hinüber. „Was passiert denn jetzt?“, wisperte es leise. Ein großer Stern mit einer strahlenden Laterne nickte wissend und antwortete: „Das wirst du gleich sehen. Heute ist die Nacht des blauen Mondes und da ist alles möglich.“ „Aber…“, setzte das Sternchen wieder an. Die Antwort des großen Sterns war noch rätselhafter als das Treiben des Mondes selbst. Doch bevor es fragen konnte, was denn alles möglich sei, schlug die Kirchturmuhr zwölf. Der bläuliche Schein des Mondes wurde plötzlich für einen kurzen Augenblick viel intensiver. Das Sternchen starrte gebannt hinunter zur Erde und hatte seine Frage komplett vergessen. Es gab ein Drängen und Schieben rund um das Sternchen, da alle anderen Sterne besser sehen wollten, was nun geschah. Zuerst schien rein gar nichts zu geschehen, doch dann wurde der Wetterhahn auf der Kirchturmspitze in ein blaues Glimmen gehüllt. Das kleine Sternchen rieb sich die Augen, aber es hatte richtig gesehen. Der rostige, alte Wetterhahn hatte seine bronzenen Flügel gespreizt und war von der Kirchturmspitze gesegelt. Als wäre das der Startschuss gewesen, glimmten nun auch die anderen Figuren und Statuen überall in der Stadt in einem bläulichen Licht. Die beiden Löwenstatuen aus Marmor am Eingang des Museums schüttelten ihre Mähnen und reckten und streckten sich ausgiebig, bevor sie majestätisch von ihren Podesten sprangen. Die steinerne Eule über der Bibliothekstür ordnete ihre Federn und schuhute leise, um dann in die kühle Nachtluft zu gleiten. Drei drollige Wasserspeier vom Marktplatzbrunnen hörten ganz plötzlich damit auf, Wasser zu spucken, und hopsten laut plätschernd durch den Brunnen. Die kleine, pummelige Amorstatue im Park kletterte unbeholfen von ihrem hohen Podest und landete höchst unvorteilhaft im Gras. Schnell rappelte sie sich wieder hoch und sammelte die Pfeile wieder ein, die bei dem Sturz aus dem Köcher gefallen waren. Jeder einzelne Gartenzwerg in den Vorgärten war zum Leben erwacht und machte sich nun daran mitsamt seiner Schubkarre, Spitzhacke oder seinem Spaten sein gepflegtes Refugium über den Gartenzaun zu verlassen. Auf den Straßen tummelten sich bereits einige Zwerge, die durch ein offen stehendes Gartentürchen hatten entwischen können. Sie stolzierten durch die Gegend, lugten in fremde Gärten hinein und zwirbelten dabei ihre langen Bärte. Der große Steinelefant vom Zooeingang stampfte durch eine kleine Seitenstraße, dass die Fensterläden erzitterten. Einige Meter vor ihm rannte die dicke Bäckerfigur über das Kopfsteinpflaster, die sonst vor der Bäckerei Engel stand. Erschöpft und völlig aus der Puste schulterte der kleine Bäcker sein Baguette und richtete sich im Laufen die Mütze, die ihm ins Gesicht gerutscht war. Mit wenigen Schritten hatte der Steinelefant ihn eingeholt, schlang seinen Rüssel um den dicken Bauch des Bäckers und setzte ihn vorsichtig auf seinem Rücken ab. „Danke.“, seufzte der kleine Bäcker und wischte sich mit einem großen, rotkarierten Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Auch die Figuren aus dem Märchenwald am Rande des Parks hatten ihre angestammten Plätze verlassen. Hänsel und Gretel gingen einträchtig mit der Hexe Richtung Wald und knabberten Lebkuchenziegel vom Hexenhäuschen. Rotkäppchen ritt auf dem großen, bösen Wolf und hielt dabei krampfhaft ihr Körbchen fest, damit der Kuchen und die Flaschen Rotwein nicht auf den Boden purzelten. Aschenputtel hatte sich zu den anderen Prinzessinnen gesellt und schwatzte lebhaft mit Schneewittchen, der alle sieben Zwerge in Reih und Glied folgten und leise vor sich hinpfiffen. Eine Prinzessin mit einem Frosch auf der Schulter kicherte über den verschlafenen Gesichtsausdruck von Dornröschen, die noch einmal ausgiebig gähnte. Alle Straßen der Stadt waren bevölkert mit allerlei Statuen, die sich ihren Weg durch die verschlungenen Gassen bahnten, und wohl alle hatten dasselbe Ziel. Auf dem höchsten Ast einer mächtigen Eiche mitten im Wald saß ein silberner Rabe und krächzte laut, um die anderen Tiere und Figuren hierher zu locken. Unter der Eiche hatten es sich bereits die beiden Löwen des Museumeingangs bequem gemacht und blickten über die große Waldlichtung den Neuankömmlingen entgegen. Als auch der letzte Gartenzwerg auf der Wiese Platz genommen hatte, erhoben sich die Löwen und brüllten. Sofort trat eine Stille auf der Lichtung ein, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Auch die tuschelnden Sternchen am Nachthimmel verstummten und beugten sich noch näher über den Park, um ja nichts zu verpassen. Beinahe hätte das kleine Sternchen dabei seine Laterne fallen gelassen, so neugierig hatte es sich hinuntergeneigt. Der Vollmond zwinkerte belustigt und beleuchtete mit seinem bläulichen Schein die Lichtung. Sanft lächelnd trat eine weitere Statue aus dem Schatten der Eiche und schritt zwischen die beiden Löwen. Ihr Marmorkleid rauschte bei jedem Schritt leicht im kühlen Nachtwind und ihr langes Haar schimmerte im Mondenschein. Die anderen Statuen schauten sie ehrfürchtig und erwartungsvoll an. Denn sie war das Wahrzeichen der kleinen Stadt und somit auch die älteste Statue. „Willkommen.“, sprach die schöne Marmorfrau und lächelte die anderen an. „Es ist schön, euch alle nach so langer Zeit wiederzusehen und auch unter uns einige Neue begrüßen zu können.“ Bei diesen Worten liefen mehrere Gartenzwerge rot an und zogen scheu ihre Zipfelmützen zum Gruß. Die marmorne Statue schenkte ihnen ein noch strahlenderes Lächeln und nickte ihnen zu. Einer der Wasserspeier vom Marktplatzbrunnen meldete sich vorwitzig zu Wort: „Dieses Mal hat der Mond sich aber ganz schön Zeit gelassen. Ich dachte schon, dass die Nacht des blauen Mondes gar nicht mehr kommt. Jeden Tag Wasser in einen Brunnen zu spucken und als Klettergerüst für kleine Kinder herzuhalten, kann man doch nur durchstehen, wenn man sich auf so ein Ereignis wie heute freuen kann.“ Eigentlich wollte er noch viel mehr sagen, aber einer der Steinlöwen hatte ihm für seine Vorwitzigkeit einen bösen Blick zugeworfen und kurz seine riesigen Fangzähne gebleckt. Doch die Marmorfrau schien nicht verärgert darüber, dass der Wasserspeier das Wort an sich gerissen hatte, sondern nickte nachsichtig. „Es stimmt. Die letzte Nacht des blauen Mondes liegt schon ein paar Jahre zurück.“, erklärte sie. „Daher soll das heutige Fest noch ausgelassener und fröhlicher werden, da wir so lange warten mussten. Aber denkt daran, um ein Uhr müssen wir alle wieder auf unseren Plätzen sein, dann erlischt der Zauber des Mondes wieder. Aber nun lasst uns feiern!“ Die anderen Statuen klatschten und jubelten. Ein Satyr, der sonst in der Nähe des Kirchhofes stand, spielte auf seiner Laute, der Steinelefant trompetete und der Rattenfänger von Hameln stimmte mit seiner Flöte ein. Die Gartenzwerge sprangen ungezwungen im Kreis. Die Prinzessinnen des Märchenwaldes tanzten einen Reigen und kicherten verhalten. Rotkäppchen verteilte freimütig Kuchen und Wein und wurde dabei unterstützt von dem dicken Bäcker, der immer dann einen großen Schluck Rotwein trank, wenn niemand hinsah. Die wunderschöne Marmorfrau beobachtete lächelnd die anderen, die tanzten und musizierten, aßen und tranken, lachten und schwatzten. Zufrieden über die Freude des Festes schritt sie flankiert von den beiden Löwen über die Lichtung. Die kleinen Sternchen oben am Himmel tanzten ebenfalls einen lustigen Reigen, so hatte sie das Fest dort unten im Wald angesteckt. Doch leider krächzte der silberne Rabe viel zu schnell wieder. Oben auf dem höchsten Ast der Eiche hatte er Ausschau nach der Kirchturmuhr gehalten, um die anderen zu warnen, wenn es bald eins schlagen sollte. Erstaunt hielten die Statuen in ihrem Fest inne und tuschelten durcheinander. Erneut brüllten die Löwen, um ihnen Ruhe zu gebieten. „Es wird Zeit. Jeder muss zurück auf seinen Platz.“, verkündete die Marmorfrau. „Auf Wiedersehen bis zur nächsten Nacht des blauen Mondes.“ Eilig stoben die Statuen auseinander. Die größeren Figuren halfen den Kleinen wieder zurück zu ihrem angestammten Platz zu kommen. Der Steinelefant setzte den dicken Bäcker wieder an seiner Bäckerei ab. Die Gartenzwerge kletterten über ihre Gartenzäune und stellten sich in Pose, als wäre nie etwas gewesen. Die Wasserspeier spuckten wieder Wasser in den Brunnen, die Löwen legten sich auf ihre Podeste vor dem Museum und die Marmorfrau stellte sich vor das Rathaus. Nur der kleine, pummelige Amor hatte Schwierigkeiten sein Podest hochzuklettern. Also stellte er sich notgedrungen direkt daneben und würde am nächsten Morgen von einem verdutzten Parkgärtner gefunden werden, der ihn wieder auf sein Podest wuchten und etwas über Vandalen murmeln würde. „Wie schade, dass es schon vorbei ist.“, murmelte das kleine Sternchen traurig. Ihm hatte das Fest der Statuen sehr gefallen und es hatte am ausgelassensten mitgetanzt. „Wird bald wieder eine Nacht des blauen Mondes sein?“ Hoffend sah es die anderen Sterne an. Ein alter Stern, dessen Laterne nur noch schwach glimmte, wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. „Das ist schwer zu sagen. Manchmal dauert es nur Monate, bis es eine Nacht des blauen Mondes gibt, und manchmal viele, viele Jahre.“, erklärte er. „Und ob bei der nächsten Nacht wieder die Statuen lebendig werden, weiß ich nicht. In so einer Nacht ist alles möglich, nur der Mond allein weiß, was passiert.“ Das kleine Sternchen blickte neugierig zum Vollmond hinüber, der zufrieden über seinen Zauber lächelte. Als er den Blick des kleinen Sternchens bemerkte, grinste er verschmitzt und zwinkerte. Er würde sich noch etwas Zeit lassen bis zur nächsten zauberhaften Vollmondnacht und bis dahin würde ihm auch wieder etwas Wunderbares einfallen, das er mit seinem bläulichen Schein geschehen lassen könnte. Kapitel 4: Das Schicksal der Götter ----------------------------------- Das grausame Wolfsgeheul dröhnte in meinen Ohren und der eisige Nordwind peitschte mir ins Gesicht, aber ich musste weiter. Weiter nach vorne, wo Kriegsgeschrei und Waffenlärm die Luft erfüllten, wo das Blut der bereits Gefallenen den Schnee rubinrot färbte. „Vorwärts!“, schrie ich mit rauer Kehle und spornte mein treues Tier noch schneller an. „Vorwärts!“ Der Ruf wurde mit zahllosen Stimmen erwidert. „Vorwärts! Vorwärts!“ Mein Eber Hildeswin preschte nach vorne, direkt auf das Kampfgeschehen zu. Die Walküren liefen dicht hinter uns. Mit funkelnden Augen und eiserner Entschlossenheit folgten sie mir, trotz der Gewissheit, dass ich sie in ihr Verderben führen würde. Unter uns stürmten die mächtigen Einherjer mit gezückten Schwertern in die Reihen der Riesen. „Überrennt sie!“ Meine sonst so milde Stimme war vor Anspannung verzerrt. „Schlagt sie zurück! Heute ist der Tag der Entscheidung. Kämpft für die Ehre Walhallas!“ Meine Rufe wurden über das Schlachtfeld geweht und mit den Worten „Für die Ehre!“ auf den Lippen warfen sich die mutigsten Krieger der Welt noch beherzter in den Kampf, ihrem Tod entgegen. Denn dies war der Tag des Schicksals, dem Schicksal der Götter: Ragnarök! Alles fing damals mit dem Tod Baldurs an. Er, der Sohn Odins, war hinab in die Unterwelt gestiegen und es folgten ihm nicht nur seine Frau Nanna und sein Bruder Hödur nach. Auch das Licht und die Güte verschwanden vom Angesicht der Erde. Dann setzte der bittere Fimbulwinter ein. Über drei lange Jahre spendete die Sonne keine Wärme mehr und die Welten wurden mit Eis und Schnee bedeckt. Die Kälte kroch bis tief in die Herzen der Lebewesen und nistete sich dort ein. Noch heftigere Kämpfe entbrannten zwischen den Riesen und den Asen, bis die drei großen Hähne den letzten Morgen ankündigten. Der feuerrote Hahn Fialar krähte in Utgard und spornte die Riesen zum Kampf an. Zur selben Zeit erweckte der rostrote Hahn der Hel die Toten in der Unterwelt zum Krieg. Schließlich erschall auch das Krähen unseres goldenen Hahnes Gullinkambi in Walhalla und bereitete die Einherjer, die gefallenen Krieger der Menschheit, für die Schlacht vor. Der Ruf der Hähne hatte den beiden Wolfbrüder, die Söhne des Fenriswolfes, neue Kraft gegeben. Der Wolf Skalli, der seit Ewigkeiten dem Sonnenwagen der Sol folgte, holte immer mehr auf, obwohl Sol ihre Pferde zum Äußersten antrieb. Die Sonne verfinsterte sich im Schatten des riesigen Wolfes und verschwand endgültig im Wolfsschlund. Auch Skallis Bruder Hati, der den Mondwagen des Mani vor sich herjagte, verschlang diesen vollkommen. Der Himmel war plötzlich finster und die Sterne fielen herab. Die Erde erbebte, dass die Berge einstürzten und die große Weltenesche Yggdrasil erzitterte. Damit war es den Feinden der Asen gelungen, sich nun vollständig aus ihren Gefängnissen zu befreien. Die Midgardschlange wühlte das Meer auf, als sie ihren wuchtigen Körper an Land schlängelte, und überflutete die Welt, so dass das Schiff Naglfar, erbaut aus den Nägeln der Toten, aus den Untiefen der Ozeane emporstieg. Der Fenriswolf zeriss seine Ketten, die Odin ihm einst auferlegt hatte. Auch die Hel verließ mit einem starken Heer die Unterwelt, um sich ihren Geschwistern anzuschließen. Denn Loki, der Gott der Lügen, versammelte seine Kinder um sich für den letzten Kampf gegen die Asen. Er bestieg das Schiff Naglfar und setzte Segel auf Midgard, der Welt der Menschen. Aus dem Süden schlossen sich ihm Surtr und seine Feuerriesen an. Aus dem Norden stießen Hrymir und die Frostriesen hinzu. Diese gewaltige Armee zog eine Spur der Zerstörung und des Verderbens auf ihrem Weg durch Midgard. In Asgard, der Welt der Götter, beobachteten wir angespannt die Zeichen des Schicksals, denn wir spürten, dass dieser Tag der letzte sein würde und die entscheidende Schlacht bevorstand. Wir würden kämpfen, bis wir nicht mehr konnten und dann in Ruhm und Ehre untergehen. Die Riesen und Lokis Heer erreichten die Brücke Bifröst, die die Welten Midgard und Asgard miteinander verband. Mit grimmiger Beharrlichkeit uns zu stürzen, schritten sie über die Brücke. Doch da blies Heimdall, der Wächter der Regenbogenbrücke, schallend in sein Gjallarhorn zu unserem Schutz und ließ Bifröst einstürzen. Jene Riesen, die bereits auf der Brücke waren, fielen hinab in die Tiefe. Doch die Zahl der feindlichen Krieger jenseits von Asgard war immer noch unendlich. Bei dem Klang des Hornes versammelten wir uns in Walhalla und bereiteten uns auf die Schlacht vor, denn bald würden sie einen Weg nach Asgard finden. Frigg, die Gemahlin Odins, zog sich auf seinen Geheiß hin nach Wingolf, dem Sitz der Asinnen, zurück. Ihr folgten auch die anderen Göttinnen, während die Krieger aus Walhalla auf das baldige Schlachtfeld Vigrid schritten. Allen voran ritt Odin auf seinem mächtigen Hengst Sleipnir, den unfehlbaren Speer Gungnir fest in der Hand und flankiert von seinen Wölfen Geri und Freki. Hoch über uns flogen mit rauschendem Flügelschlag seine beiden Raben Mugin und Hugin, um die Ankunft der Feinde melden zu können. Die unbesiegbaren Asen und die stärksten Krieger vereinten sich zu einem übermächtigen Heer, das am Ende der Zeit den Riesen trotzen würde. Eigentlich hätte ich mich den anderen Göttinnen anschließen und sie in den Schutz des Wingolfs begleiten sollen, doch ich konnte nicht untätig herumsitzen und den Kampf aus der Ferne beobachten. Meine Mutter, mein Bruder, meine Freunde, sie alle würden schließlich bis zum letzten Atemzug kämpfen und es war eine Ehre mit ihnen in den Krieg zu ziehen. Daher bestieg ich meinen goldenen Eber Hildeswin und scharte die zwölf Walküren um mich, deren unendlicher Kampfgeist die Krieger zu Höchstleistungen anspornen sollte. Das Krächzen der Raben zerriss die angespannte Stille des Feldes. Sie hatten es geschafft, die Riesen waren in Asgard und wir würden ihnen nun einen angemessenen Empfang bereiten. Die Erde erbebte heftiger als jemals zuvor unter den Füßen der gewaltigen Riesenarmee. Die Luft knisterte abwechselnd durch die immense Hitze des Feuers und die eisige Kälte des Frostes, welche von den beiden Riesengeschlechtern ausgingen. An der Spitze des Heeres standen Loki und seine Kinder. Die weltenumschlingende Midgardschlange versprühte ihr tödliches Gift, der riesige Fenriswolf bleckte seine scharfen Zähne und Hel, die Herrscherin der Unterwelt, führte ihr Gefolge aus Verstorbenen und Kreaturen an. Odin erhob seinen Speer und rief mit donnernder Stimme: „Schwertzeit, Windzeit, Wolfszeit, ehe die Welt zerstürzt! Kämpft! Kämpft für Walhalla! Und vergeht in Ruhm und Ehre! Denn unser Gedenken wird ewiglich währen! Kämpft und der Sieg wird unser sein!“ Mit wildem Kriegsgeschrei stürmten die Asen und Einherjer den Feinden entgegen. Odin warf seinen Speer in die Reihen der Riesen und Gungnir traf gleich mehrere der gegnerischen Krieger, um dann in die Hand seines Herrn zurückzukehren. Auch Thor, der Gott des Donners, schmetterte seinen mächtigen Hammer Mjölnir in das Feindesheer und streckte sie nieder. Skadi, meine Mutter, Uller, ihr Gemahl, und Freyr, mein Bruder, schossen einen Pfeil nach dem anderen auf die Riesen und jeder Pfeil traf sein Ziel. Die Schildjungfrauen stürzten unter meiner Führung in die Schlacht. „Vorwärts!“ Die Erde war blutgetränkt. Der Lärm der Schlacht schwoll immer mehr an. Die Luft brannte, doch der Schneesturm wütete weiter. Unzählige Riesen waren bereits durch unsere Hand niedergeschlagen worden, aber auch wir hatten hohe Opfer unter den Einherjer zu beklagen. Surtrs Riesen schleuderten gewaltige Feuerbälle in unsere Reihen, während Hrymir und sein Gefolge immense Eisblöcke warfen. Der Kampf tobte und würde erst verebben, wenn die Welt untergegangen war. Skadi spannte erneut ihren Bogen, um den Riesen Einhalt zu gebieten. Da schlug sie ein riesiger Eisblock nieder. In ihren Händen hielt sie noch immer den Bogen, der den todbringenden Pfeil auf einen Feuerriesen abgeschossen hatte. Mein Magen verkrampfte sich. Heiße Tränen liefen über meine Wangen. Die stolze Göttin der Jagd würde niemals mehr durch den Wald reiten und ihr Jagdhorn anstimmen. Meine Mutter war nicht mehr. Uller ließ seinen eigenen Bogen fallen und eilte zu ihr. Mit der Kraft der Verzweifelung schob er den Eisblock von dem leblosen Körper und kniete neben ihr nieder. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, als er über den Verlust seiner Gefährtin trauerte. Doch seine Klage war sein Verhängnis, denn Loki trat an den noch knienden Uller heran. Bevor dieser sich zur Wehr setzen konnte, wurde er rücklings von dem Gott der Lügen erstochen. Unendlicher Schmerz breitete sich in mir aus. In einem Moment hatte ich meine Mutter und meinen Ziehvater verloren. Doch die Schlacht ging weiter. Die Walküren mussten angeführt werden. Die Riesen mussten zurückgedrängt werden. „Vorwärts! Schlagt sie! Tötet sie! Lasst keine Gnade walten! Für die Ehre Skadis! Für den Sieg!“, schrie ich meinen Schmerz hinaus in die Welt und feuerte die Krieger zu neuen Leistungen an. Der einhändige Gott des Krieges Tyr kämpfte verbittert gegen den Höllenhund Garm, der Lieblingskreatur Hels. Das starke Schwert des Tyrs hatte der Bestie tiefe Wunden hinzugefügt, doch dadurch ließ sie nicht von ihrem Gegner ab, sondern griff nur noch heftiger an. Mit einem Satz sprang Garm an die Kehle des Kriegsgottes und verbiss sich darin. Im Todeskampf umklammerten sich die Feinde und mit dem letzten rasselnden Atemzug hieb Tyr sein Schwert in den Höllenhund. Beide Widersacher schlugen dumpf auf dem Boden auf. Wieder war das Leben eines Gottes, eines Freundes, verwirkt. Thor, der mit seinem Hammer große Lücken in die feindliche Armee geschlagen hatte, stellte sich nun der Midgardschlange. Wütend schlug die Kreatur ihren massigen Schwanz nach ihrem Todfeind. Aber jeden Schwanzschlag wehrte der standhafte Thor mit dem Mjölnirhammer ab. Die Bestie raste vor Wut. Mit geiferndem Schlund stieß die Schlange hinab zu dem Donnerkrieger und spuckte ihr Gift. Siegessicher ließ Thor seinen Hammer auf das Haupt der Kreatur niedersausen. Noch einmal wand sich die riesige Midgardschlange und rührte sich dann niemals mehr. Loki schrie wutentbrannt auf, dass sein Kind getötet wurde, und der Fenriswolf ließ sein grausames Geheul ertönen. Doch Thors Sieg währte nicht lang. Als er sich neun Schritte von dem massigen Schlangenleib entfernte, sank er zu Boden. Das tödliche Gift war selbst für den mächtigen Donnergott zu stark. Bevor Loki seinen Triumph auskosten konnte, stellte sich ihm Heimdall, der Brückenwächter, in den Weg. Regen kämpfte gegen Feuer, Gut gegen Böse, Licht gegen Schatten, bis beide einander für immer auslöschten. „Kämpft weiter!“ Der Tod dieser kriegerischen Asen bedeutete einen großen Verlust für unsere Streitmacht, doch wir durften nicht aufgeben. Obwohl ich Übermenschliches von unseren Kriegern forderte, schlugen sie langsam die Feinde zurück. Der Feuerriese Surtr stürzte sich in den Kampf mit Freyr, meinem Zwillingsbruder. Verbissen schoss mein Bruder dutzende Pfeile auf seinen Angreifer, die in dessen Feuerhauch verglühten, bevor sie ihr Ziel erreichten. Mein Herzschlag hämmerte in meinen Ohren. Nicht auch mein Bruder, mein engster Vertrauter, mein zweites Ich. „Rettet Freyr! Besiegt Surtr!“ Auf meinen Befehl hin sollten ihm die Schildjungfrauen zu Hilfe kommen, doch es war zu spät. Freyr, der edelste Fruchtbarkeitsgott, wurde von Surtr gepackt. Sein unbarmherziger Griff um Freyrs Kehle schnürte ihm die Luft ab und setzte ihn in Brand. „Freya! Freya!!“, rief er in Todesqualen, bis er für immer verstummte. Seine letzten Gedanken galten mir. Es bedurfte die Kraft aller Walküren mich zurückzuhalten. Ich schrie, ich tobte, ich weinte. Man hatte mir das Wichtigste im Leben genommen. Die Schlacht ging weiter, mein Herz schlug noch immer, doch ich fühlte mich tot und leer. Der fürchterliche Fenriswolf stürzte sich auf Odin, der ihm seinen Speer entgegenschleuderte. Doch nichts hielt dieses Ungeheuer auf. Mit lautem Geheul riss der Wolf seinen riesigen Schlund auf und verschlang Odin mitsamt seinem treuen Hengst Sleipnir. Der mächtige Göttervater war gefallen. Über ganz Vigrid erschall die Klage Friggs, die um ihren Gatten trauerte, und in ihre Klage stimmten die Raben mitein. Doch Odins Tod blieb nicht ungesühnt. Sein Sohn Vidar, der Rächer seines Vaters, nahm es nun mit dem Fenriswolf auf. Beherzt stürmte er auf das Tier zu und rang es nieder. Mit dem von Zwergen geschmiedeten Schuh zertrümmerte Vidar das Wolfsmaul und riss die Bestie in Stücke. Der Kampf war vorbei, denn die Welt ging unter. Eine riesige Feuersäule stieg zum Himmel hinauf und verschlang alles, das sich ihr in den Weg stellte. Die übrigen Krieger und Kreaturen waren von dieser Feuersbrunst eingeschlossen. Vigrid war ein Flammenmeer, das auf die Weltenesche Yggdrasil übergriff. Dies war der Weltenbrand, dem alles zum Opfer fiel. Einzig durch den Schutz meiner treuen Walküren konnte ich dem Feuer entkommen und rettete mich zum Idafeld, der einstigen Asenschmiede. Dort standen bereits die Söhne Odins Vidar und Vali, ebenso wie Thors Söhne Modi und Magni. Gemeinsam sahen wir fassungslos zu, wie die Welten verbrannten und mit ihnen alles, was wir je gekannt und geliebt hatten. Dann setzte der Regen ein. Der Himmel weinte über den Verlust der Welten und deren Bewohner. Doch der immerwährende Weltgeist Fimbultyr erschuf die Welt erneut: Eine neue Erde tauchte aus der See auf, grün und schön, bereits mit Korn bewachsen. Eine neue Sonne trieb ihren Wagen über den Himmel und ein neuer Mond folgte ihr. Die Asinnen verließen Wingolf und schlossen sich uns an. Auch die Brüder Baldur und Hödur kehrten vereint aus der Unterwelt zurück. Weinend lagen wir uns in den Armen. Der Schmerz über den Verlust unserer Angehörigen und Freunden saß tief, doch unsere Herzen dankten auch für den neuen Anfang, der vor uns lag. Unter den Wurzeln der verbrannten Weltenesche hatte ein Menschenpaar Zuflucht vor dem Weltenbrand gefunden. Aus ihnen, Lifthrasir und dessen Frau Lif, entstand ein neues Menschengeschlecht. Die Waagschale des Schicksals war zerbrochen, es würde nie mehr Leid auf der Welt geben. Ragnarök, das Schicksal der Götter, hatte sich erfüllt. Kapitel 5: Die alljährliche Teegesellschaft ------------------------------------------- In dem alten Kamin des schneebedeckten Hauses knisterte ein behagliches Feuer, während vor dem Fenster die Schneeflocken ihr graziles Ballett aufführten. Der Wind machte sich einen Spaß daraus, sie in noch gelungeneren Drehungen tanzen und die Eiszapfen am Fenster dazu im Takt klirren zu lassen. Der alte Mann, der in dem verschneiten Haus wohnte, betrachtete lächelnd dieses Schauspiel, als er in der Küche einen großen Wasserkessel auf den Ofen stellte. Sorgsam holte er mehrere Teetassen mit Rentiermuster aus dem alten Küchenschrank und stellte sie mit einem großen Teller voll frischgebackener Plätzchen auf ein Tablett. Keinen Moment zu früh, denn schon klopfte es dumpf an der Haustür. „Ich komme ja schon“, rief der alte Mann aus der Küche und ging zur Tür. Draußen standen drei dickeingemummte Gestalten, die vor Kälte schlotterten. „As-salāmu ‘alaikum“, begrüßten sie den alten Mann und verneigten sich zitternd. „Kommt schnell rein, bevor ihr mir auf der Türschwelle festfriert. Ho, ho, ho“, lachte der Alte und ließ die drei Männer in die warme Stube. Geschwind traten sie ein und steuerten gleich zum behaglichen Kaminfeuer, um sich aufzuwärmen. Langsam lösten die Männer ihre zahlreichen Schals, die sie sich um die Köpfe geschlungen hatten, und schälten sich aus den dicken Mantelschichten. Das knisternde Feuer weckte nach und nach wieder ihre Lebensgeister. Der Dunkelhäutige von ihnen wandte sich nochmals dem alten Mann zu: „Dass du aber auch hier im hohen Norden leben musst… Ich dachte schon, dass wir auf den Weg hierher erfrieren müssen. Wie kannst du das nur aushalten?“ Der Alte zupfte an seinem weißen Rauschebart und lächelte. „Irgendwann gewöhnt man sich an die Kälte. Aber wärmt euch erst einmal gründlich auf. Das Wasser für den Tee muss auch gleich soweit sein.“ Doch bevor er in der Küche nach dem Wasserkessel schauen konnte, klopfte es erneut an der Tür, diesmal um einiges wuchtiger. „Aber, aber, lasst mir die Tür heile“, lachte der Alte und öffnete die Tür. Auf der Schwelle standen zwei Bischöfe in Begleitung eines Mannes in brauner Kutte. „Jàsu! Lange nicht gesehen“, strahlte einer der Bischöfe mit griechischem Akzent und umarmte den Alten, bevor er an ihm vorbei ins Haus trat. „Merhaba! Schön dich wiederzusehen“, rief der zweite Bischof und drückte dem alten Mann einen schmatzenden Kuss auf die Wange, um dann ebenfalls in die Stube zu gehen. „Servus. Ist ja wirklich eine Weile her“, begrüßte ihn der zottige Mann in der braunen Kutte und schüttelte heftig seine Hand zum Gruß. Der alte Mann lächelte zufrieden. „Dann sind wir ja schon beinahe vollzählig. Macht es euch gemütlich. Ich kümmere mich schnell noch um den Tee.“ Zügig, bevor der nächste Besuch an die Tür klopfen konnte, schritt er in die Küche und goss das heiße Wasser in die zahlreichen Teekannen, die er schon mit einer besonderen Teemischung bereitgestellt hatte. Vorsichtig balancierte er das Tablett in die Wohnstube und legte es auf dem alten Holztisch ab. „Bedient euch nach Herzenslust. Etwas Tee und Plätzchen werden euch schon wieder aufwärmen.“ Da klopfte es zuerst zaghaft leise an die Tür und dann erheblich lauter. „Ich bin ja gleich da!“, rief der alte Mann vergnügt. Vor der Tür stand der Rest der Teegesellschaft: drei kleine Mädchen, ein hutzliges Weib und ein bärtiger Mann im blauen Mantel. „Goddag! Vielen Dank für die Einladung“, sagte das blonde Mädchen mit dem Kerzenkranz im Haar fröhlich und machte einen Knicks. „Priwjet, altes Haus! Ich habe mir erlaubt, deine übrigen Gäste auf den Weg zu dir einzusammeln“, ließ der bärtige Mann donnernd verlauten und klopfte dem Alten auf die Schulter, während das weißgekleidete Mädchen mit Eiskristallen im Haar schüchtern an ihm vorbei ins Haus schlüpfte. „Buon giorno! Das ist vielleicht ein Wetterchen. Da hat sogar mein alter Besen Eiszapfen angesetzt“, lachte das hutzlige Weib und drückte die Hand des alten Mannes. „Grüß Gott. Schön, dass wir uns wiedertreffen“, grüßte das kleine Mädchen, das einen Stern auf der Stirn und kleine Flügel auf dem Rücken hatte. Lächelnd zog es den alten Mann zu sich hinunter und küsste ihn auf die Wange, bevor es auch ins Haus trat. Der alte Mann lächelte über sein ganzes pausbäckiges Gesicht und schloss langsam die Tür, um dann seine Gäste in die Wohnstube zu geleiten. Nachdem alle mit einer heißen Tasse Tee ausgestattet waren, räusperte er sich: „Ich freue mich, dass ihr alle den weiten Weg zu mir an den Nordpol auf euch genommen habt. Die Reise mag vielleicht beschwerlich und etwas frostig gewesen sein, aber der Grund unseres Treffens ist ja ein erfreulicher.“ Mit einem lustigen Zwinkern bedachte er die drei Männer, die noch immer direkt am Kamin saßen. „Schließlich ist die jährliche Sitzung der Weihnachtsgesellschaft ein besonderes Ereignis.“ Einstimmiges Gemurmel ging durch die Reihen. „Gerade vor der stressigen Zeit des Jahres braucht man doch mal ein wenig Zeit für eine Tasse Tee mit seinen Freunden“, stimmte der Bischof neben dem zottigen Mann in der braunen Kutte zu. Das blonde Mädchen nickte: „Da hast du Recht, lieber Nikolaus. Die vielen Vorbereitungen, die man für die Weihnachtszeit treffen muss, nehmen immer mehr Zeit in Anspruch.“ Dabei schob sie den Tannenkranz mit den brennenden Kerzen auf ihrem Schopf zurecht. „Hört, hört, Lucia spricht ein wahres Wort“, ließ das hutzlige Weib verlauten. „Und dabei sind wir nur für ein Land zuständig. Ich will mir gar nicht ausmalen, wie es wäre, wenn ich weltweit tätig sein müsste. Wie sollte ich denn die ganzen Geschenke auf meinem Besen transportieren?“ Der Mann im blauen Mantel hob leicht die Hand und ergriff das Wort: „Aber, aber, werte Befana, du vergisst wohl die Magie der Weihnachtszeit. In Italien sind vielleicht nur ein paar Kinder, wenn man es mal weltweit betrachtet, aber wir benutzen doch alle denselben Zauber, um die Geschenke abzuliefern.“ „Väterchen Frost lädt immer seinen Pferdeschlitten voll und jedes Geschenk findet darauf Platz. Wie von Zauberhand“, wagte sich Schneeflöckchen, das Mädchen mit den Eiskristallen im Haar, schüchtern anzumerken und verbarg ihr Gesicht gleichdarauf im blauen Mantel ihres Großvaters. „Viel schlimmer ist doch die weite Anreise für nur einen Abend. Ihr meint ja nicht, wie unbequem ein Ritt auf einem Kamel bis nach Spanien und wieder zurück werden kann. Vor allem wo Balthasar dabei immer halb seekrank wird“, mischte sich einer der drei Weisen am Kamin ein. Das Mädchen mit dem Stern auf der Stirn neigte den Kopf sanft zur Seite und erklärte bedächtig: „Ihr vergesst wohl, dass es an Weihnachten um die Kinder geht. Nur für sie reisen wir quer durch die Welt und hinterlassen Geschenke, wenn sie schön artig waren. Und das Leuchten in ihren Augen ist doch Belohnung genug.“ „Aber nicht alle Kinder sind artig, liebes Christkind. Schließlich verteile ich Jahr für Jahr genügend Ruten“, polterte der zottige Knecht Ruprecht. Der griechische Bischof meinte nickend: „Tatsächlich! Die anstrengendste Arbeit ist nicht das Geschenke verteilen, sondern die Prüfung der artigen und unartigen Kinder.“ „Na, na, Vassilios, ich weiß genau, dass du oft genug ein Auge zudrückst und an Neujahr viele, viele Geschenke in Griechenland ausgepackt werden. Aber darum geht es ja, auch mal Fünfe gerade sein lassen. Meistens sind die Einträge in unseren goldenen Büchern nicht so schlimm. Da macht es doch nichts, wenn mal jemand der kleinen Schwester die Zunge rausgestreckt hat oder das Lieblingsspielzeug des Bruders versteckt wurde. Kinder sind eben so, ho, ho, ho“, erklärte der alte Mann lachend. „Aber guter Weihnachtsmann! Die heutigen Kinder sind oft genug nicht mehr so harmlos. Was die für Ausdrücke kennen… Da geht einem manchmal die Mitra hoch“, wandte der Nikolaus ein. „In dem Fall ist es gut, dass ich so einen treuen Begleiter habe, der solchen Kindern dann eine Rute überbringt. Von wegen Äpfel und Nüsse…“ Balthasar, einer der drei Weisen, lachte trocken. „Also sag mal, wann war denn das letzte Mal, dass ein Kind mit Äpfeln und Nüssen zufrieden war? Als kleine Beilage sind Obst und Süßigkeiten ja ganz okay, aber wenn du ihnen kein vollelektronisches Superspielzeug in den Stiefel steckst, dann veranstalten die Kleinen doch am nächsten Morgen ein Riesentrara.“ „Da hast du leider Recht. Die Zeiten haben sich verändert. Früher waren die Kinder über jede noch so kleine Aufmerksamkeit froh und dankbar, die wir ihnen gebracht haben. Bringt man ihnen heute ein zu kleines Geschenk, dann ist das Gezeter groß“, meinte Befana und schüttelte traurig den Kopf. Der Weihnachtsmann strich sich über seinen Bart und nickte bedächtig: „Ja, leider wollen die Kinder heutzutage lieber ferngesteuerte Roboter und Puppen, die in die Windeln machen und dabei weinen. Keiner interessiert sich mehr für die altmodischen Bauklötze oder einen Hampelmann. Meine Wichtel müssen sich jedes Jahr etwas noch Tolleres und Ausgefalleneres einfallen lassen, dass sie für die Kinder erfinden können.“ „Weihnachten ist immer mehr zum Kommerzrummel geworden. Die wenigsten Menschen wissen noch, was Weihnachten überhaupt bedeutet“, fiel Väterchen Frost lautstark ein. Seine kleine Enkelin flüsterte zaghaft: „Dabei ist es doch das Fest der Liebe und nicht das der Geschenke.“ „Recht so, Schneeflöckchen. Stellt euch nur einmal vor: Die meisten Kinder glauben inzwischen sogar, dass ihre Eltern die Geschenke im Laden kaufen, und dass wir nur Phantasiegestalten wären“, regte sich Vassilios auf. „Humbug!“, polterte Knecht Ruprecht, „Als wenn wir nur Hirngespinste wären. Eigentlich sollten wir bei solchen Kindern einfach nicht mehr auftauchen, dann würden sie aber dumm aus der Wäsche gucken, wenn es plötzlich keine Geschenke mehr gäbe.“ Lucia schaute nachdenklich zu dem zottigen Mann in der braunen Kutte und sagte: „Den Kindern fehlt doch nur der rechte Glaube an uns. Aber wen wundert es, wenn sie an jeder Straßenecke einen dieser selbsternannten Doppelgänger antreffen. Da merken sie doch schnell, dass diese verkleideten Figuren falsch sind, und glauben darum gar nicht mehr an uns.“ „Das stimmt“, meinte das Christkind. „Bei so vielen Weihnachtsmännern, die man zum Beispiel in nur einem einzigen Kaufhaus trifft, verliert man doch den Blick für den echten. Dann glaubt man hinterher, dass auch der wahre Weihnachtsmann nur ein verkleideter Mann mit angeklebtem Rauschebart ist.“ Casper, der dunkelhäutige Weise, nickte. „Und jedes Jahr machen sich auch hunderte Heilige Könige im Dreiergespann auf den Weg und singen an den Haustüren den Leuten Lieder vor, um Geld für die Bedürftigen zu sammeln. Da fallen wir drei doch gar nicht mehr weiter auf.“ „Als wir letztes Jahr unterwegs waren, um Geschenke zu verteilen, hat mir doch tatsächlich eine ältere Frau etwas Geld zugesteckt und gemeint, ob wir nicht etwas zu alt zum Sternensingen wären und dass unsere Kostüme wirklich sehr authentisch wären“, bestätigte Melchior traurig. „Kostüme… Dabei laufen wir doch schon seit lange vor Christi Geburt so herum.“ Das hutzlige Weib tätschelte mitfühlend die Schulter des geknickten Königs und murmelte aufmunternd: „Na wenigstens habt ihr die große Ehre in jeder Krippe auch aufgestellt zu werden. Mich hat man nicht als Krippenfigur verewigt. Wenn der Weihnachtstern nur etwas länger am Himmel geleuchtet hätte, dann hätte ich mich damals nicht verflogen und wäre rechtzeitig angekommen. Nicht einmal in der heiligen Schrift werde ich erwähnt, dabei habe ich so eine lange Reise mit meinem Besen unternommen. Aber den Kirchenmännern wäre es bestimmt nicht recht gewesen, wenn eine so alte Hexe wie ich in der Weihnachtsgeschichte als Pilgerin vorgekommen wäre. Dann hätten sie gar nicht so viele Feuer bei der Hexenverfolgung anzünden dürfen.“ „Na, na ,na, Befana“, meinte Vassilios mit leicht drohendem Zeigefinger. „So schlecht ist die Kirche auch wieder nicht, auch wenn sie in der Geschichte Fehler begangen hat.“ Die Hexe sah ihn unbeeindruckt an und raunte: „Das kann auch nur ein Bischof sagen…“ „Streitet doch nicht“, unterbrach das kleine Mädchen mit dem Stern auf der Stirn die Unterhaltung. „Ihr vergesst wohl, dass wir heute nur ganz entspannt beisammen sitzen wollen. In kurzer Zeit geht der ganze Weihnachtstrubel wieder los. Dann müssen die Geschenke gepackt und die Plätzchen gebacken werden und es bleibt keine Zeit, um uns zu treffen. Und danach fängt schon die ganze Vorbereitung für das nächste Jahr an.“ Der Nikolaus nickte. „Wohl wahr, dann wird wieder fleißig ins goldene Buch geschrieben, was die Kinder auf der Welt so alles treiben, und Bilanz darüber gezogen. Danach kommen die Spielzeugentwicklung, die Materialbeschaffung für die neuen Geschenke und die Sichtung der Wunschzettel. Und schwupps ist schon wieder Dezember.“ „Apropos Dezember… Wer richtet eigentlich nächstes Jahr unser Treffen aus?“, fragte Knecht Ruprecht in die Runde. Die zwölf Mitglieder der Weihnachtsgesellschaft sahen sich fragend an, während das blonde Mädchen mit dem Kerzenkranz leise aufzählte: „Dieses Jahr war der Weihnachtsmann dran, letztes Jahr ich und vorletztes Jahr das Christkind. Ich glaube, nächstes Jahr wäre dann bei Väterchen Frost…“ „Die Reihenfolge ist doch egal. Hauptsache, wir treffen uns mal wieder irgendwo, wo es richtig schön warm ist. Noch ein Jahr so weit im Norden und ich bekomme noch Frostbeulen“, warf Balthasar ein. „Das ist typisch für dich“, lachte der Väterchen Frost schallend. „Selbst direkt vor dem Kamin ist dir noch zu kalt.“ Befana klatschte in die Hände und erklärte: „Na dann treffen wir uns in Bella Italia.“ „Oder wie wäre es bei mir in Myra?“, schlug der Nikolaus vor. „Solange mir der Weihnachtsmann sein Geheimnis verrät, wie man so einen guten Tee zubereitet…“ Dabei sah er erwartungsvoll zu seinem Gastgeber. Der alte Mann lächelte geheimnisvoll. „Wer weiß, lieber Nikolaus. Aber bis zum nächsten Jahr ist es noch lange hin“, sagte er zwinkernd und trank einen Schluck Tee aus seiner Tasse. So schnell wollte er das Geheimnis seines Tees nicht preisgeben, auch wenn es nur eine tüchtige Portion Weihnachtszauber war. Kapitel 6: Das geheimnisvolle Tal --------------------------------- In die tiefsten Urwälder im Herzen Afrikas hat sich beinahe nie ein Mensch hin verirrt. Die Touristen der Safarireisen haben dieses Fleckchen Erde nicht einmal in ihren kühnsten Träumen gesehen. Riesige Bäume nehmen die Sicht auf das große Tal mitten im Dschungel. Dichtes Unterholz und Lianen versperren den Weg zwischen den Bäumen hindurch. Und im Westen erstreckt sich eine steile Felswand, von der ein mächtiger Wasserfall donnernd hinunter in das Tal rauscht. Vor vielen Jahren hatte ein Mann zuletzt dieses Tal betreten. Der unermüdliche Forscher Dr. John Cairn war auf einer seiner Expeditionen von seinen Kollegen getrennt worden. Dr. Cairn war ein begnadeter Afrikaforscher, und so vergaß er alles um sich herum, wenn er afrikanische Pflanzen untersuchte. Er skizzierte gerade eine eindrucksvolle rote Blüte der Montbretie in sein Notizbuch, als seine Reisegruppe weiterzog und ihn mutterseelenallein zurückließ. Sein Fehlen wurde erst einige Zeit später bemerkt. Der gute Doktor klappte sein Notizbuch zu und verstaute es fürsorglich in seinem Rucksack. Erst dann stellte er fest, dass er allein im Dschungel war. Von seinen Kollegen war weit und breit keine Spur. „Jessas!“, rief er aus, riss seinen Tropenhelm vom Kopf und verstrubbelte sein Haar. Dies tat er immer, wenn er ein schwerwiegendes Problem zu lösen hatte. „Wo sind denn alle geblieben? Professor Grey? Doktor Williams? Mister Irving?“ Seine Rufe hallten durch den dichten Urwald, doch er bekam keine Antwort. Aufs Geradewohl schlug er sich seinen Weg durch den Dschungel, in der Hoffnung seine Reisegruppe wieder einzuholen. Doch leider lief er dabei in die vollkommen falsche Richtung. Das Unterholz zwischen den hohen Bäumen wurde immer dichter und unwegsamer, aber Dr. Cairn lief beharrlich weiter. Zahlreiche Kratzer und Schrammen hatte er sich schon zugezogen und schließlich verfing er sich so in den Lianen, dass er sich nur schwer wieder befreien konnte. Verschwitzt und völlig erschöpft lehnte er sich gegen einen Baumstamm und seufzte ergeben: „Vielleicht sollte ich wieder umkehren. Diesen Weg können sie niemals mit der ganzen Ausrüstung bewältigt haben.“ Genau in diesem Moment vernahm er ein Geräusch, das ihn aufhorchen ließ. Und jeder Gedanke an eine Umkehr war vergessen. Das Trompeten eines Elefanten erklang jenseits der Bäume und seine Artgenossen antworteten. „Dort muss ja eine ganze Elefantenherde sein“, murmelte der Forscher überrascht und schulterte seinen Rucksack. Mit neuer Energie eilte er durch das Dickicht, immer dem Trompeten entgegen. Eine Herde dieser majestätischen, grauen Riesen in freier Wildbahn zu beobachten war seit langer Zeit der sehnlichste Wunsch von Dr. Cairn. Bereits als kleiner Junge hatte er davon geträumt, denn seine Mutter hatte ihm vor dem Einschlafen meistens Geschichten über Elefanten vorgelesen. Ächzend zwang er sich durch das Gesträuch und stand endlich vor einer wunderschönen Talsenke. Ein klarer See erstreckte sich in dem Tal, in dem ein rauschender Wasserfall mündete. Exotische Vögel saßen in den Baumkronen und stießen ihre melodischen Schreie aus. Dicht am hinteren Seeufer war die Elefantenherde, die Dr. Cairn mit ihrem Trompeten angelockt hatte, im Schatten der riesigen Bäume versammelt. Fasziniert und vollkommen bewegungsunfähig starrte er auf diese mächtigen Tiere. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Endlich konnte er Elefanten außerhalb von den Gitterstäben der zoologischen Gärten betrachten, und dann gleich eine so große Herde. Jungtiere tollten zwischen den ausgewachsenen Elefanten herum und wurden von ihren Müttern und Tanten sanft mit einem Rüsselstups zurechtgewiesen, wenn sie es zu weit trieben. Ein riesiger Elefantenbulle rieb sich an einem Baumstamm, dass dessen Äste zitterten. Es war ein beeindruckender Anblick. Langsam pirschte sich der Forscher vorsichtig an die Herde heran. Im Schutz des Dickichts musste er einfach aus der Nähe einen Blick auf diese sanften Riesen werfen. Sooft hatte er von solch einer Gelegenheit geträumt, hatte sich ausgemalt, wie sich Elefanten in ihrem natürliche Lebensraum verhalten. Doch bisher hatte er bei seinen Forschungsreisen einfach kein Glück gehabt. Löwen hatte er gesehen, Nilpferde, Nashörner, ja sogar Leoparden, aber nirgends hatte er Elefanten entdecken können. Die Bäume boten ihm genügend Deckung und so konnte er nur einige Meter entfernt die Tiere beobachten. Wie verzaubert sah er den Jungtieren bei ihrem Spiel zu. Der kleinste Elefant unter ihnen eilte dem See zu und verließ das schattige Blätterdach der Bäume. „Jessas!“, raunte Dr. Cairn leise und rieb sich ungläubig die Augen. Hatte die Hitze Afrikas seinem Verstand so zugesetzt, dass dieser ihm nun schon Streiche spielte? Verwirrt blinzelte er, doch der Anblick blieb gleich. Der kleine Elefant am Wasser war rosa. Während seiner ganzen Forscherkarriere hatte er schon von weißen Tigern, blonden Waschbären und anderen ungewöhnlich gefärbten Tieren gelesen oder gehört, aber noch nie zuvor hatte er etwas über rosafarbene Elefanten erfahren. Das war doch absolut unmöglich. Es gab zwar äußerst seltene weiße Elefanten, aber ansonsten handelte es sich doch bei diesen Tieren um graue Riesen. Der riesige Elefantenbulle hörte auf, sich am Baumstamm zu reiben, und schritt stolz und majestätisch auf die Wiese. Auch er war rosa gefärbt, als er aus dem Schatten trat. Langsam schloss sich die Herde ihm an. Ein Elefant nach dem anderen verließ den Schatten, so dass die warmen Sonnenstrahlen auf ihre rosarote Haut schienen. Dr. Cairn sah ihnen atemlos hinterher. Was für eine Entdeckung! Eine Herde von über zwanzig rosa Elefanten lebte in diesem Tal mitten im tiefsten Dschungel Afrikas. Und er war der erste Mensch, der diese außergewöhnlichen Tiere zu Gesicht bekam. Damit würde er in die Geschichte eingehen. Dr. John Cairn, der Entdecker der rosaroten Elefanten! Alle Afrikaforscher dieser Welt würden ihn beneiden. Er würde zahlreiche Auszeichnungen bekommen. Vielleicht sogar einen Nobelpreis für diesen glücklichen Fund. Sehnsüchtig blickte er noch einmal zu den Elefanten und entschloss sich dann, das Tal zu verlassen. Wenn er zu seinem Ausgangspunkt zurückkehren würde, würden seine Kollegen und die anderen Begleiter auf dieser Expedition ihn bestimmt leichter wieder finden. Wenn sie ihn gefunden hatten, würden sie ihn zurück zum Lager bringen und von dort aus könnte er die Welt über seine Entdeckung informieren. Und dann wäre er mit einem Schlag berühmt. Leise schlug er sich wieder in das Unterholz. Im Tal trompeteten die rosa Elefanten, als würden sie ihren Entdecker verabschieden. Als er die Pflanze mit den prachtvollen roten Blüten erreichte, ließ er sich ins Gras sinken. Sein Herz raste noch immer, so aufgeregt war er über seine wundersame Entdeckung. Das würde für großen Wirbel in der Forscherwelt sorgen und weltweit Schlagzeilen machen. Loxodonta africana rosea Cairni. So könnte er diese spezifische Elefantengattung nennen. Schnell kramte er in seinem Rucksack nach seinem Notizbuch, um diesen grandiosen Namen gleich festzuhalten. Dabei entdeckte er die Flasche Scotch, die er für einen besonderen Moment dieser Reise mitgenommen hatte. Und wenn die Entdeckung des Jahrhunderts kein besonderer Moment war, dann wusste er auch nicht, wofür er diese Flasche sonst öffnen konnte. Also goss er sich etwas Scotch in seinen Zinnbecher und erhob diesen. „Auf euch, ihr rosaroten Elefanten. Zum Wohl!“ Mit großen Schlucken leerte er den Becher und goss sich erneut ein. Schließlich konnte es noch dauern, bis man ihn hier fand. Da konnte ein kleines Schlückchen Scotch mehr schon nicht schaden. Nach einer Weile war die Flasche dann doch gänzlich geleert und Dr. Cairn wäre beinahe eingenickt, als sich seine Reisegruppe näherte. Sie waren sofort umgekehrt, als sie sein Verschwinden bemerkten, und hatten überall nach ihm gesucht. Erfreut sprang John Cairn auf und lief wankend seinen Kollegen entgegen. „Profeschor Grey! Doktor Williamsch! Mischter Irving! Schie werden esch mir nischt glauben, aber isch habe roscha Elefanten entdeckt. Eschte roscha Elefanten!!!“ Mr. Irving schüttelte den Kopf und raunte: „Er hat wohl eher den Boden der Scotch-Flasche entdeckt.“ „Na, na, Dr. Cairn“, meinte Professor Grey und klopfte ihm väterlich auf die Schulter, „Kommen Sie mit, wir bringen Sie zu unserem Lagerplatz. Und dort schlafen Sie erst einmal Ihren Rausch aus und morgen werden Sie garantiert keine rosa Elefanten mehr sehen.“ Nachsichtig schob der Professor seinen über rosa Elefanten lallenden Kollegen vor sich her in Richtung Lager. Niemand wollte Dr. Cairn in diesem Zustand glauben. Am nächsten Morgen wachte er sehr verkatert und mit rasenden Kopfschmerzen in seinem Zelt auf. Aber als er beim gemeinsamen Frühstück wieder die rosa Elefanten zur Sprache brachte, erntete er nur ungläubige Blicke und mitleidiges Kopfschütteln. Der Scotch musste es wirklich in sich gehabt haben. Durch gutes Zureden erklärten sich seine Kollegen doch noch bereit, mit ihm das Tal zu betreten und einen Blick auf die Elefanten zu werfen. Aber wie sehr Dr. Cairn sich auch bemühte, den Weg in das versteckte Tal fand er nicht mehr. Er selbst war sich hinterher auch nicht mehr so sicher, ob er nicht doch alles nur geträumt oder durch den Scotch Halluzinationen bekommen hatte. So kam es, dass das versteckte Tal, in dem rosa Elefanten leben, ein Geheimnis blieb. Von dem Tag an hieß es aber, dass Betrunkene nicht nur weiße Mäuse, sondern auch rosa Elefanten sehen würden. Kapitel 7: Die Geschichte des Geschichtenerzählers -------------------------------------------------- Am Anfang war das Wort und das Wort war bei uns. Wir sprachen dieses Wort aus, schrieben es auf und überlieferten es bis in die heutige Zeit. Jenem ersten Wort sind unzählige weitere gefolgt, inzwischen füllen diese Worte Millionen und Abermillionen von Schriftstücken. Dicht aneinander gereiht stehen diese Schriftstücke, von Steintafeln bis hin zum gebundenen Buch, in den Regalen der heiligen Archivhallen. Jeden Tag kommen neue Berichte hinzu, denn die Welt steht niemals still. Über jedes Ereignis, jedes Lebewesen kann hier nachgelesen werden. Jede Begebenheit wurde festgehalten, denn wir sind die Hüter des heiligen Archivs, die Geschichtensammler. Die verlorenen Kulturen der Menschheit sind nicht wirklich verloren. Ganze Regalreihen bergen die Geheimnisse von Atlantis, verkünden den Glanz der Mayas, erzählen von den Tagen Pompejis. Die Antike war ein goldenes Zeitalter voller Mythen und Wunder, die beinahe vergessen wurden, aber wir berichten von ihnen. Alle Fragen der Geschichte können wir beantworten. Welche zahlreichen Schätze verbrannten in der sagenumwobenen Bibliothek von Alexandria? Im heiligen Archiv befinden sich die Abschriften der Werke, die für die Menschheit für immer verloren sind. Auch das verschollene zweite Buch der Poetik von Aristoteles befindet sich in unserem Besitz. Wir waren Zeuge, wie die große Sphinx von Gizeh ihre Nase verlor. Wir wissen, wo sich der sagenhafte Garten Avalon tatsächlich befand. Wir kennen die Wahrheit über den heiligen Gral, wo das Bernsteinzimmer zu suchen ist, wer Jack the Ripper wirklich war. Jedes Geheimnis .der Geschichte ist uns bekannt. Auch die Frage, ob zuerst das Huhn oder das Ei da war, können wir beantworten. Aber um die Antworten zu geben, müssten wir Kontakt zu den Menschen aufnehmen. Doch wir sind nur Beobachter, Zeugen der Geschichte, Archivare des Wortes. Unsichtbar durchstreifen wir die Welt, sammeln Informationen und bringen sie in die heiligen Archivhallen. Nur eine von uns hat sich jemals einem Menschen offenbart. Rawiyas Geschichte ist somit selbst im Archiv zu finden. Vor langer Zeit, als die Menschen noch nicht blind für Wunder waren und noch an Mythen glaubten, wandelte Rawiya durch die Welt, um Geschichten zu sammeln. Bei einem ihrer Streifzüge traf sie auf einen jungen Mann, der seinerseits durch die Lande zog, um Geschichten zu sammeln. Er wurde später ein bekannter Geschichtenerzähler bei den Menschen seiner Zeit und auch heute noch kennt man seine Werke. Kurzentschlossen folgte Rawiya dem jungen Mann, in der Hoffnung durch ihn neue Geschichten erfahren zu können. Von Ort zu Ort wanderte der Sammler, gefolgt von der kleinen, unsichtbaren Rawiya. In jedem Ort lief der Besuch des Mannes gleich ab. Als erstes suchte er den Marktplatz auf, setzte sich an den Brunnen und begann seine Geschichten zu erzählen. Manche Menschen blieben stehen und lauschten seinen Erzählungen, Kinder scharrten sich um ihn, um gebannt an seinen Lippen zu hängen, aber nach einiger Zeit verloren sie das Interesse. Der schmale Geldbeutel des jungen Erzählers blieb weiterhin fast ungefüllt und neue Geschichten erfuhr er selten. So zog er weiter zur nächsten Stadt und Rawiya folgte ihm. Sie empfand Mitleid für den Geschichtensammler, dem das Glück einfach nicht hold war. Als er eines Nachts unter einer großen Eiche lagerte, entschloss sich Rawiya, ihm gegenüber zu treten. „Du musst den Menschen wahre Geschichten erzählen, Geschichten, die das Leben schrieb, dann werden sie dir zuhören“, sprach sie und setzte sich zu ihm an das Feuer. Zuerst war der junge Mann sprachlos vor Schreck, aber er erholte sich rasch von dem Schock, denn zu jener Zeit geschah es noch oft, dass mythische Wesen mit den Menschen verkehrten. „Wie meinst du das? Geschichten sind doch Geschichten. Sie unterhalten die Menschen“, erkundigte er sich. Rawiya schüttelte den Kopf. „Nicht jede Geschichte ist eine Geschichte. Sie muss einen Funken Wahrheit enthalten, um die Menschen zu fesseln. Selbst in den Sagen und Märchen ist ein wirklicher Kern enthalten. Wenn sie nicht in dieser Welt passiert sind, so doch in einer anderen.“ Der junge Mann betrachtete sie lange Zeit und sann über ihre Worte nach. Dann und wann warf er einen weiteren Zweig in das Feuer. Endlich richtete er das Wort wieder an sie: „Was ist deiner Meinung nach eine gute Geschichte, die wahr ist und die Menschen fesseln wird?“ Rawiya lächelte. „Es gibt unzählige Geschichten dieser Welt. So viele, dass sie ein ganzes Archiv füllen. Und ich kenne sie alle, denn ich bin eine Geschichtensammlerin…“ Sie erzählte ihm die ganze Nacht bis zum Morgengrauen die Geschichten und Geheimnisse, die im heiligen Archiv zusammengetragen wurden. Die Augen des jungen Geschichtenerzählers wurden groß vor Staunen und er saugte jedes ihrer Worte auf und behielt es im Gedächtnis. Als die Sonne aufging, stand Rawiya auf. „Das sollte genügen. Setze deine Wanderung fort und erzähle die Geschichten, die du von mir gehört hast, und du wirst sehen, dass die Menschen genauso gebannt sein werden wie du.“ Sie nickte dem jungen Mann zu und verschwand genauso plötzlich, wie sie aufgetaucht war. Der Geschichtenerzähler blickte noch einige Augenblicke zu dem Fleck, an dem sie verschwunden war, und erhob sich dann langsam, um ihrem Ratschlag Folge zu leisten. Ihm war bewusst, dass sie ihm ein großartiges Geschenk gemacht hatte, und hütete ihre Geschichten wie einen Schatz in seinem Herzen. In der nächsten Stadt erzählte er, was er von Rawiya gehört hatte. Die Menschen versammelten sich um ihn, wie die Motten das Licht umschwärmen. Am Ende des Tages war sein Geldbeutel reich gefüllt. Von diesem Geld erstand er Tinte, Federn und Pergament und machte sich daran, die Geschichten aufzuschreiben. Durch diese Schriften gelangte er zu großer Bekanntheit. Aber ein Fragment seines Werkes ist bis zum heutigen Tage verschollen, nämlich die Geschichte, wie er, der Geschichtenerzähler, auf Rawiya, die Geschichtensammlerin, traf. Zumindest ist in unserem Archiv diese Begebenheit nachzulesen. Wir besitzen sogar zwei verschiedene Ausführungen dieser Geschichte: Eine Abschrift des verschollenen Fragments des jungen Mannes und einen Bericht von Rawiya, den sie nach ihrer Rückkehr im Archiv einreichte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)