You belong to me von abgemeldet (Violet♥Cooper [PrivatePractice]) ================================================================================ Kapitel 1: Gekochter Orangensaft -------------------------------- Langsam, immer einen Schritt vor den anderen setzen. Auf wackeligen Beinen tapste der kleine Junge aus seinem Kinderzimmer, durchquerte das Wohnzimmer und musste dann enttäuscht feststellen, dass da ein Hindernis war. Die Tür zum Schlafzimmer seiner Eltern war geschlossen. Nicht nur angelehnt, nein, geschlossen. Der Kleine hielt sich an der Tür fest und stellte sich auf die Zehenspitzen. Es war ein waghalsiges Experiment, er musste sich mit einer Hand festhalten und dann mit der anderen nach der Türklinke greifen, die doch soweit oben war. Er versuchte es. Es misslang gründlich. Er streckte sich soweit er konnte, griff mit seiner Hand nach oben, konnte gerade mit seinen Fingerspitzen die Klinke fühlen, doch weiter kam er nicht. Er war zu klein. Enttäuscht ließ er sich auf seinen Hintern fallen und blieb vor der Tür sitzen. Große Krokodilstränen stiegen in seine grünen Augen, weil er nicht ins Schlafzimmer kam. „Was machst du da, Jason?“ Ein kleines Mädchen mit wuschigem Lockenkopf kam um die Ecke und schaute ihn an. „Willst du nicht mehr verstecken spielen?“ Jason schüttelte den Kopf und schaute seine große Schwester an. „Will zu Mama und Papa.“ „Die schlafen bestimmt noch. Aber ist ja egal.“, meinte das Mädchen und öffnete ihrem Bruder die Tür. Zu faul um aufzustehen krabbelte der Kleine die letzten paar meter zum großen Bett seiner Eltern und kletterte hinauf. Das Mädchen folgte ihm und setzte sich auch aufs Bett. Wie vermutet schliefen ihre Eltern noch tief und fest. Die Kleine kicherte. „Schlafmützen.“ „Aufwachen!“, schrie Jason und grinste schelmisch von einem Ohr zum anderen. Sein Geschrei hatte den gewünschten Effekt. Die beiden schlafenden Personen schreckten hoch. „Jason… Ava..“, murmelte Violet verschlafen und drehte sich auf die andere Seite, um ihren Blick auf den Wecker zu richten, „ Seid ihr schon wach?“ Es war 6 Uhr. Cooper zog sich die Decke über den Kopf. „Oh bitte. Lasst mich meine letzte halbe Stunde Schlaf noch genießen.“ „Wir sind schon lange wach.“ ,erzählte Ava stolz. „Wir haben Orangensaft gekocht.“ Jason strahlte seine Mutter an. „Ihr habt was???“ Nichts Gutes ahnend rieb sich Violet den Schlaf aus den Augen und stand auf. „Es heißt gepresst, nicht gekocht.“, korrigierte Ava ihren Bruder und folgte dann ihrer Mutter in die Küche. Diese war jedoch das reinste Chaos. Violet seufzte. Alle Mandarinen, die sie am Tag zuvor gekauft hatte, waren abgeschält und lagen zusammengequetscht quer am Regal verstreut. Der Saft der Früchte klebte am Tisch, am Boden und ein kleiner Rest war in einem Glas. Die Schalen lagen ebenfalls in allen Ecken und Enden des Raumes. Ava nahm das Glas und hielt es ihrer Mutter hin. „Das ist für dich. Orangensaft.“, lächelte sie. Trotz des Chaos musste auch Violet lächeln. Ihre Kinder hatten es ja nur gut gemeint. „Schmeckt sicher lecker.“ Sie nahm das Glas entgegen. „Aber ihr wisst, dass ihr alleine nicht kochen dürft.“ Violet war nur froh, dass sie sich nicht mit einem Messer oder ähnlichem Besteck gespielt hatten. „Jaaa.“, sagte Ava ungeduldig, „ jetzt koste endlich.“ Ihre blauen Augen ruhten gespannt auf dem Glas, das ihre Mutter immer noch in ihrer Hand hielt. Violet setzte es an ihre Lippen und trank den kleinen Schluck, der darin war. Es schmeckte etwas sauer und ziemlich wässrig, die Kinder hatten wohl noch Wasser dazugeleert damit es mehr wurde. „Lecker.“ Mit dieser Aussage war Ava zufrieden und lief wieder zurück ins Schlafzimmer, wo ihr kleiner Bruder gerade dabei war, ihrem Vater auf die Nerven zu gehen. Violet blieb in der Küche, um die Sauerei der Kinder zu beseitigen. Sie hörte Ava quietschen und Jason kichern und wusste, dass Cooper seine letzte halbe Stunde Schlaf vergessen konnte. Noch müde machte sie sich dann ans Frühstück, nachdem sie das Gröbste beseitigt hatte. Es dauerte nicht lange und ein äußerst verschlafener Cooper betrat die Küche, gefolgt von einer hopsenden Ava und einem gutgelaunten Jason. „Viel zu früh… es ist viel zu früh…“, murmelte Cooper wiederholt, während er sich an den Tisch setzte und gähnte. „Es ist gar nicht früh.“, widersprach Ava ihm fröhlich und summte ein Kinderlied. Jason hielt sich die Ohren zu. Violet stellte den beiden Kindern zwei Müslischüsseln mit warmer Milch hin und füllte sie mit Cornflakes. „Schoko.“, sagte Jason und schaute böse auf sein Müsli. Ava nahm ihren Löffel und begann zu essen. „Die Schoko- Cornflakes sind leer.“, sagte Violet und stellte Brot und Aufstriche vor Coopers Nase, der beinahe im Sitzen eingeschlafen wäre. Jasons Mund begann weinerlich zu zucken. „Will aber Schoko!!“ Wütend patschte er mit dem Löffel in sein Müsli, dass die Milch nach allen Seiten herausspritzte. „Jason!“, sagte Violet streng. „Wenn du immer nur an Schokolade denkst, wirst du bald so dick wie Großtante Emma.“, sagte Ava zu ihm, woraufhin Jason große Augen machte und doch begann, brav sein Müsli zu löffeln. Cooper fielen bereits wieder die Augen zu, woraufhin Violet ihm wortlos eine Tasse Kaffee neben seinen Teller stellte. „Danke, Schatz… „ Cooper lächelte und trank. An manchen Tagen kam er ohne dieses Wundergetränk gar nicht weit. Im Schlafzimmer ging in diesem Moment der Wecker mit schrillem Geräusch los. Ava sprang auf. „Ich mach ihn aus!!“ Und schon flitzte sie flink aus der Küche. „Wenigstens haben wir heute keinen Stress.“ Violet schmierte sich in aller Ruhe ein Butterbrot und biss genüsslich davon ab. „Ja.. wenigstens das.“ Cooper gähnte noch ein letztes Mal herzhaft. Etwas später hatten sie alle fertig gefrühstückt, waren angezogen und abfahrbereit. Violet hatte Jason am Arm und stand neben Cooper beim Eingang. „Ava, kommst du?“ „Komme gleich!“, kam es aus dem Kinderzimmer zurück. Cooper sah Violet an. Einige Minuten vergingen. „Wann ist gleich?“, hakte Violet nach und schaute auf ihre Uhr. „Gleich!“ Cooper seufzte. „Ava, wir wollen fahren.“ „Ich kann Marie nicht finden!“, rief das Mädchen verzweifelt aus dem Kinderzimmer zurück. „Marie??“ „Ihre Lieblingspuppe.“, sagte Violet und drückte Cooper Jason in die Hand. Schnellen Schrittes ging sie ebenfalls ins Kinderzimmer, um ihrer Tochter suchen zu helfen. „Hier ist sie.“ Violet zog die Puppe aus einer Kiste heraus. „Du hast sie gestern da reingeworfen, als du wütend warst.“ „Oh.“ Zufrieden drückte Ava die Puppe an sich. „Okay, wir können los.“ Kapitel 2: Edward Gray ---------------------- Violet hob Jason aus seinem Kindersitz. „Kommst du, Ava?“ Das kleine Mädchen schnallte sich aus und hopste hinter ihrer Mutter her. Violet näherte sich dem Haus ihrer Eltern und drückte auf die Klingel. Es dauerte keine zwei Minuten und eine alte Frau öffnete. „Guten Morgen. Ihr seid heute aber früh dran.“, sagte sie mit weicher Stimme und lächelte die Kinder an. „Wir waren heute ganz ganz früh wach, Oma!“, erzählte Ava. „Na dann kommt mal rein.“ Violets Mutter nahm Jason auf den Arm und trat einen Schritt zur Seite, so dass Ava ins Haus huschen konnte. „Danke. Ich werde sie wieder um 13 Uhr abholen.“, sagte Violet zu ihrer Mutter. Diese nickte wissend. „So wie immer.“ Seit die Kinder auf der Welt waren, arbeitete die Psychiaterin nur noch halbtags, an manchen Tagen Vormittags und an manchen Tagen nachmittags. Die Zeit während sie in der Arbeit war, verbrachten die beiden Kinder bei ihren Großeltern. Violet war ihren Eltern dankbar für diese Unterstützung. Anfangs hatte sie ja versucht, Ava in den Kindergarten zu geben, doch das war schrecklich misslungen. Das kleine Mädchen konnte sich einfach nicht damit abfinden, alleine ohne ihren Bruder, der noch zu jung war, dorthin zu gehen. Violet konnte sich noch gut an Avas Geschrei und Geheule jeden Tag erinnern, bis sie es schließlich aufgegeben hatte und sie auch bei ihrer Mutter ließ. „Seid schön brav.“ Wie jeden Tag verabschiedete Violet sich auch heute wieder mit diesen Worten von ihren Kindern und ging dann zurück zum Auto, in dem Cooper schon auf sie wartete. Als sie eingestiegen war, startete er den Motor und fuhr los. Kurze Zeit später betraten die beiden auch schon das „Oceanside Wellness“ Gebäude, in dem beide arbeiteten, Cooper als Kinderarzt und sie als Psychiaterin. „Ihr seid ja heute früh dran.“ Addison war im Moment die einzige, die im Gemeinschaftsraum saß und gerade in aller Ruhe ihren allmorgendlichen Tee trank. „Die Kinder haben uns geweckt.“, meinte Cooper erklärend und setzte sich ebenfalls. Sein erster Patient würde erst in einer halben Stunde kommen, also hatte er noch Zeit. Addison konnte ein schadenfrohes Grinsen nicht unterdrücken, was Violet natürlich nicht entging. „Dir wird bald dasselbe blühen.“, sagte die Psychiaterin gutgelaunt und griff nach einer Packung Kekse, „ Sogar noch schlimmer. Dich erwarten schlaflose Nächte und Augenringe, die jeden Typ sofort vergraulen.“ Damit spielte sie auf Addisons Babybauch an. Cooper grinste. „Solange sie Pete nicht vergraulen, kann es mir Recht sein.“, gab Addison zurück, „ außerdem bin ich erst im 5. Monat.“ „Die Zeit vergeht schneller als man glaubt.“, meinte Violet und stürzte sich erneut auf die Kekse. „Wenn man dich ansieht, sollte man sowieso meinen, du seist schon mindestens im 8. Monat.“ Ohne dass jemand es bemerkt hatte, war Naomi ins Zimmer gekommen. „Charmant wie immer“, meinte Addison grinsend. „Sie hat Recht, du hast wirklich einiges zugelegt.“, stimmte Cooper ihr bei, um sie etwas auf die Palme zu bringen. „Hey!“, machte Addison empört. „Oh Mist!“ Im selben Augenblick sprang Violet erschrocken auf und schaute fassungslos auf ihre Uhr. „Was ist denn?“, wollte Cooper wissen und auch Naomis und Addisons Augen ruhten neugierig auf ihr. „Ich hab total vergessen, dass einer meiner Patienten heute früher kommen wollte! So ein Mist!“ „Du hast einen Patienten vergessen???“, fragte Naomi ungläubig. „Ja…nein… er müsste seit 10 Minuten da sein! Ich muss weg!“ Hastig rannte Violet zur Tür, drehte nochmal um, gab Cooper einen kurzen Kuss und war dann draußen. Der Kinderarzt sah ihr nach. „Bis heute Abend…“ „Es tut mir schrecklich Leid, dass sie warten mussten, Mr. Gray.“ Eine leichte Röte war auf Violets Wangen erschienen. Dass sie den verfrühten Termin vergessen hatte, war ihr furchtbar unangenehm. Mr. Gray, ein relativ gutaussehender Mann Mitte 40, erhob sich und schüttelte der Psychiaterin, die ihn nun schon seit einigen Wochen behandelte, die Hand. „Sie dürfen sich das erlauben. Bei jedem anderen wäre ich sauer gewesen, aber nicht bei ihnen.“ Violet lächelte unsicher. Mr. Gray war bei seinen Komplimenten ihr gegenüber nie geizig. Nachdem sie sich begrüßt hatten, nahm er am Sofa Platz und Violet setzte sich auf ihren Sessel. „Ich habe ihnen doch schon vor einiger Zeit gesagt, dass sie mich Edward nennen sollen. „, meinte Mr. Gray freundlich lächelnd, „ wir haben nun schon oft miteinander gesprochen und sind keine Fremden mehr. Ich werde sie auch Violet nennen.“ Violet schaute ihn an. In den letzten Wochen hatte dieser Mann erstaunliche Fortschritte gemacht. Er war zu ihr gekommen als jemand, der seine geliebte Frau an eine unheilbare Krankheit verloren hatte. Er war deprimiert, abweisend, kalt und verschlossen gewesen. Violet hatte sich ihm sachte genähert und war Schritt für Schritt zu ihm durchgedrungen. Nun schien es, als hätte sie sein Vertrauen gewonnen. Mit jedem Gespräch, das sie führten, wurde er offener und offener, erzählte immer mehr aus freien Stücken und er konnte wieder lächeln. Die Psychiaterin wusste, sie war auf dem richtigen Weg. Guten Gewissens konnte sie seine wöchentliche Dosis Antidepressiva herabsetzen und sehen, was dabei herauskam. Heute strahlte Edward Gray ganz besonders. „Ich muss ihnen etwas erzählen. Mir ist was Großartiges passiert, das ich noch vor ein paar Wochen nie zu hoffen wagte.“ Violet legte seine Akte weg und schaute ihn erwartungsvoll an. „Ich habe mich wieder verliebt.“ Die Psychiaterin war überrascht. „Wirklich? Es gib da jemanden?“ Sie war außerordentlich erstaunt von seinen Fortschritten. Noch vor ein paar Wochen war sein Herz so gebrochen gewesen, dass er geschworen hatte, er könne nie wieder Gefühle für jemanden hegen. All seine Gedanken hatten um seine verlorene Frau gekreist. „Ja, es gibt eine Frau…“, gab Edward zu, „ Sie ist hübsch, intelligent und freundlich.“ „Das… das ist toll, Edward!“ Violet wusste gar nicht, was sie sagen sollte. „Glückwunsch.“ „Naja…“ Edward Gray schaute zu Boden. „ Das Problem an der Sache ist nur…Sie weiß noch nichts von meinen Gefühlen.“ „Das ist doch nicht schlimm. Denken sie, dass sie genauso empfindet wie sie?“ „Ich weiß nicht. Das ist schwer zu sagen. Sie ist immer so freundlich zu mir. Sie versteht mich. Aber ich kann nicht sagen, ob das bedeutet, dass sie mich auch will. Es ist kompliziert.“, gab Edward zu. Violet nickte verständnisvoll. Die beiden sprachen noch eine Weile miteinander, dann war die Sitzung zu Ende und die Psychiaterin verabschiedete sich von ihm. Als er weg war, verließ Violet gutgelaunt ihr Büro, um sich einen Kaffee zu holen. Auf dem Gang begegnete sie Cooper, der auch gerade aus seinem Untersuchungszimmer gekommen war. „Hey“, sagte er, erfreut sie zu sehen. Violet grinste und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Wow, wieso so gutgelaunt?“, wollte Cooper neugierig wissen. Violet warf eine Münze in den Kaffeeautomaten. „Weil ich einfach toll bin“, prahlte sie lächelnd, „ mein Patient, der dachte, er könne sich nie wieder verlieben hat…“ „Sich umgebracht?“, vollendete Cooper den Satz. Violet gab ihm einen Stoß in die Seite. „Nein, er hat sich verliebt. Ich bin einfach gut.“ Fröhlich summte sie ein Lied und rührte in ihrem Kaffee um. Pete, der auch gerade vorbeikam, blieb stehen und starrte Violet und Cooper belustigt an. „Was ist denn mit ihr los?“ Cooper grinste. „Einer ihrer Patienten hat sich verliebt.“ Pete schaute ihn verblüfft an. „Ahaaa… Muss man gratulieren?“ Violet hatte gerade einen großen Schluck Kaffee im Mund und konnte daher nicht antworten. „Besser nicht, sonst hebt sie noch vollkommen ab.“, meinte Cooper. Violet warf ihm einen gespielt bösen Blick zu. „Ich muss weiter“, sagte Pete schnell und verzog sich in sein eigenes Büro. „Ich muss auch wieder zurück.“, sagte Cooper. Sein nächster Patient würde bald kommen. „In Ordnung.“ „Nimmst du heute das Auto?“, wollte Cooper noch wissen. Violet nickte. „Ich glaub schon. Wenn es abends regnet, ruf mich an, dann hol ich dich ab“ „Gut.“ Die beiden lächelten sich noch kurz an, dann drehte Cooper sich um und verschwand wieder in seinem Untersuchungszimmer. Violet holte ihren Terminkalender raus und machte sich dann ebenfalls wieder auf den Weg in ihr Büro. Kapitel 3: Marissa Cohen ------------------------ Der Rest des Vormittages verging wie im Flug, zumindest kam es Violet so vor. Punkt 13 Uhr verließ die Psychiaterin gutgelaunt ihr Büro, fischte den Autoschlüssel aus ihrer Jacke und steuerte zielstrebig auf den Lift zu. „Bis morgen, Violet.“ Naomi hatte gerade ihr Büro verlassen und sie gesehen. „Ja bis morgen.“ Violet warf ihr ein nettes Lächeln zu und drückte auf den Knopf, um den Aufzug zu rufen. „Violet!“, rief plötzlich jemand, als die Türen des Aufzuges sich öffneten und sie eintreten wollte. Die Stimme gehörte Cooper und es hörte sich dringend an. Violet hielt inne und drehte sich zu ihm um. „Was ist los, Cooper?“ Der Kinderarzt eilte auf sie zu, hinter ihm kam schüchtern ein Mädchen nach, das wohl um die 14 Jahre alt sein mochte. Scheu warf sie einen Blick auf Violet, blieb aber dann hinter Cooper stehen. Die Psychiaterin schaute ihren Freund fragend an. „Ich vermute, dass sie von ihrem Stiefvater geschlagen wird. Sie hat einige Verletzungen, die genau dazu passen…“, meinte Cooper leise zu Violet. „Okay… du weißt ja schon, wie sowas funktioniert. Du rufst das Jugendamt an und die kümmern sich um alles weitere. Wieso kommst du damit zu mir?“, fragte sie verwirrt. Sie wusste nicht, wie sie ihm in dieser Sache helfen sollte. Tränen liefen über die Wange des Mädchens und ihre Augen waren vom Weinen gerötet. „Ich weiß, aber… könntest du vielleicht etwas mit ihr reden.. ihr sozusagen etwas seelischen Beistand geben..? Sie ist ziemlich fertig.“, sagte Cooper leise zu Violet und sah sie flehend an. „Ach so.“, sie nickte, „ in Ordnung, das kann ich machen. Bring sie schon mal in mein Büro, ich komme nach.“ „Danke, Vi, du bist die Beste.“, antwortete Cooper erleichtert, drehte sich um und ging mit dem Mädchen davon. Violet zog schnell ihr Handy aus der Tasche und wählte die Nummer ihrer Mutter. „Hallo? Ich wollte nur sagen, dass es heute etwas später wird. Okay, gut. Bis dann.“ Sie zog sich ihre Jacke wieder aus, als sie ihr Büro betrat, in dem das Mädchen schon schweigend auf ihrem blauen Sofa saß. „Wie heißt du?“, fragte Violet zuerst und nahm ihr gegenüber Platz. „Marissa.“ „Gut, Marissa… brauchst du ein Taschentuch?“ Da das Mädchen immer noch weinte, reichte ihr die Psychiaterin nun einfach eine Box Taschentücher, die Marissa ohne ein Wort entgegennahm. „Wollen wir nun über deinen Stiefvater reden…?“, fragte Violet sie vorsichtig. Marissa schneuzte sich lautstark. „Was gibt’s denn da noch zu reden? Meine Mutter wird ihn verlassen, wenn sie es vom Jugendamt erfährt, dass er mich schlägt und alles wird wieder gut.“ Stur blickte sie geradeaus. „Das ist schon richtig… aber es geht darum, dass du verarbeitest, was er dir angetan hat. Dass er euer Haus verlässt, ist zwar gut, aber es löscht nicht die schmerzlichen Erinnerungen aus, die du hast. Verstehst du das?“ Marissa zuckte nur mit den Schultern. „Wenn er weg ist.. .werd ich schon damit fertig.“ Violet seufzte leise. „So siehst du momentan aber nicht aus…“ „Doch… er muss nur weg, ich hasse ihn!“, meinte das Mädchen aufbrausend. Violet zog eine Augenbraue hoch. „Unter welchen Umständen hat er dich geschlagen..? Warum?“ Marissa starrte sie an. „Woher soll ich denn wissen, was in seinem kranken Hirn vor sich geht? Er hat einfach so zugeschlagen… „ „Hast du ihn irgendwie wütend gemacht.. .oder war er vielleicht mal betrunken? „Nein, er war nicht betrunken… er war voll bei Sinnen und wusste, was er tat.“ Violet schaute sie nachdenklich an. Gut, das erklärte aber immer noch nicht, wieso er es getan hatte. „Wie oft kam das vor, dass er handgreiflich wurde..?“, fragte sie das Mädchen nun und machte sich Notizen auf ihrem Block. „Oft. Immer wenn Mom nicht zuhause war.“ „Wenn sie zuhause war, hat er es nie gemacht?“ Marissa schüttelte den Kopf. Immerhin hatte sie aufgehört zu weinen. „Anderen Leuten spielt er den perfekten Stiefvater vor und niemand erkennt sein wahres Gesicht. Er lässt es nur an mir aus.“ „Was lässt er an dir aus? Hat er Probleme in der Arbeit? Oder sonst etwas, was ihm zu schaffen macht?“ Marissa schien zu überlegen. „Ja, er… ich glaub schon, dass er Probleme in der Arbeit hat. Irgendeinen Grund muss es ja geben, dass er seinen Frust an mir auslässt.“ Violet nickte. „Irgendeinen Grund muss es in der Tat geben…“ „Ich würde alles dafür tun, wenn er nur aus dem Leben von mir und meiner Mutter verschwindet…“ Violet musterte sie. „… ich habe solche Angst vor ihm.“, fügte das Mädchen schnell noch hinzu. Violet nickte. „Das kann ich verstehen… Ich hätte gerne mit deinem Stiefvater gesprochen. Kannst du mir seine Telefonnummer geben?“ „Was? Wieso wollen sie denn mit ihm sprechen?“, fragte Marissa, etwas Panik schwang in ihrer Stimme mit. „Ich möchte ihn nur fragen, wieso er das tut.“, erklärte Violet ruhig. „Aber sie verständigen doch das Jugendamt, oder?“ „Das werden wir auf jeden Fall in Erwägung ziehen.“, meinte die Psychiaterin, „ aber vorher würde ich wirklich gerne mit deinem Stiefvater reden, in Ordnung?“ „Nein! Er wird ihnen doch sowieso nur Lügen erzählen!“ „Das mag sein, aber ich bin Psychiaterin und habe eine gewisse Erfahrung mit Menschen. Worte allein sind längst nicht alles, was sie einem sagen. Ihre Körpersprache sagt auch vieles, musst du wissen.“ Marissa sprang von Violets Sofa auf. „Marissa?“ „Ich möchte gehen.“ „Die Telefonnummer deines-„ „ICH WILL GEHEN!“ Cooper öffnete die Tür zu Violets Büro. „Ist alles in Ordnung?“, fragte er mit einem besorgten Blick auf Marissa. Er hatte sie schreien hören. „Ja, alles in Ordnung.“, versicherte Violet ihm, während das Mädchen an Cooper vorbei lief und im Aufzug verschwand. Der Kinderarzt sah ihr verdutzt hinterher, dann schaute er wieder Violet an. „Geht es ihr denn… besser?“, fragte er verwirrt. Violet stand seufzend auf und sah ihm in die Augen. „Ich bezweifle, dass es ihr jemals schlecht ging…“ Kapitel 4: Nur ein kleiner Diebstahl ------------------------------------ „Was? Was willst du denn damit sagen?“ Cooper schaute seine Freundin entgeistert an. „Ich will nur sagen, dass du vorsichtig sein sollst. Ich bin nicht sicher, dass du es hier mit dem klassischen Stiefvater- schlägt- Stieftochter – Fall zu tun hast.“, antwortete Violet ruhig. Cooper verschränkte die Arme. „Glaubst du ihr etwa nicht??? Sie wurde geschlagen, sie hat rote Stellen und Verletzungen an den typischen Orten!“ „Daran besteht wohl kein Zweifel, aber die kann sie sich auch selbst zugefügt haben.“, murmelte Violet etwas leiser, da sie merkte, dass Cooper ziemlich aufgebracht reagierte. „WAS? Das glaubst du doch nicht im Ernst!“ „Coop… es spricht einiges dafür. Sie wollte mir ja nicht einmal die Telefonnummer ihres Stiefvaters geben.“ „Natürlich wollte sie das nicht, weil sie Angst hat, dass er sie dann noch mehr schlägt!!“ „Und sie hatte keinen Grund, weshalb er sie geschlagen hat.“ „Dafür gibt’s ja auch keinen Grund!“ „Das schon, aber die meisten Leute, die geschlagen werden, können mir dann zumindest sagen, was den Schläger in dem Augenblick so wütend gemacht hat. Verstehst du?“ „Nein, Violet, ich verstehe dich nicht!! Ein in Tränen aufgelöstes junges Mädchen kommt zu dir weil es ganz offensichtlich Hilfe braucht und du glaubst ihr einfach nicht?! Was ist denn los mit dir???“, schrie Cooper aufgebracht. „Ich bin schon lange Psychiaterin… und es ist nicht nur das, was ein Mensch sagt, sondern auch seine Körpersprache. Und die Körpersprache des Mädchens hat mich einfach… stutzig gemacht… sie verhielt sich irgendwie komisch.“ Violet schaute Cooper an. Sie hoffte, wenigstens ein klein wenig Verständnis in seinen Augen zu sehen. Doch sie musste erkennen, dass nur pure Ablehnung in ihnen geschrieben stand. „Violet, du bist ohne Frage eine gute Psychiaterin. Aber bilde dir nicht ein, du könntest Menschen durchschauen. Bilde dir nicht, dass du mehr wüsstest, als sie sagen. Du hast ja nicht einmal bemerkt, dass dein bester Freund jahrelang in dich verliebt war.“ Das hatte gesessen. Violet starrte ihn nur an, dass Cooper so stur sein würde, hatte sie nicht gedacht. Aber wenn er so dachte, gab es nichts mehr zu erwidern. Alles war gesagt. Cooper drehte sich um und ging in sein Büro zurück. Dabei hatte der Tag doch so gut begonnen. „Was machst du denn da, Violet?“ Die Psychiaterin erschrak etwas und drehte sich zu Addison um. „Ich..gar nichts.“ „Ich dachte, du wärst schon nach Hause gegangen?“ Violet schüttelte den Kopf. „Es gab… einen kleinen Zwischenfall.“ „Ist alles in Ordnung?“ „Ja, ja.“ „Okay… und wieso schleichst du dann um Coopers Büro herum?“, wollte Addison wissen. Irgendetwas war da doch im Busch. Violet seufzte und schaute Addison an. „Hast du kurz Zeit?“ Addison nickte. „Hab keinen Patienten. Du weißt ja, Naomi will mich kaum mehr arbeiten lassen wegen der Schwangerschaft.“ „Gut, dann… lass uns kurz reden.“ Violet hatte das dringende Bedürfnis, sich jemandem mitzuteilen. Am besten jemandem, der ihre Meinung teilte und auch auf ihrer Seite stand. Denn im Moment fühlte sie sich einfach als gemeine, verständnislose Psychiaterin… und daran war nur Cooper schuld. Addison schwieg einen Moment lang, als Violet ihr die ganze Geschichte fertig erzählt hatte. Nachdenklich nahm Violet einen Schluck von ihrem Tee und schaute ihre Freundin fragend an. Sie musste unbedingt wissen, was diese davon hielt. „Ich bin weder ausgebildete Kinderärztin noch Psychiaterin…“, fing Addison an, „ … aber wenn du wissen willst, was ich dazu meine… Ich finde, dass du vorsichtig sein solltest. Solange du nicht sicher weißt, was Sache ist, solltest du mit deinen Verdächtigungen auf jeden Fall sparsam sein. Denn wenn sie wirklich geschlagen wird und du glaubst ihr nicht, macht das die ganze Sache noch schlimmer. „ Violet seufzte und nickte leicht. „Was wolltest du vorhin vor Coopers Büro?“ „Ich.. ich wollte seine Akte über Marissa Cohen klauen..“, gab Violet kleinlaut zu. „Der Fall scheint dich ja schwer zu beschäftigen…“ „Ja…“, Violet fuhr sich durch ihre gelockten Haare, „ ich will nicht dass Cooper in irgendwelche Schwierigkeiten kommt.“ Addison nickte verständnisvoll. „Ich finde du solltest die Akte klauen und versuchen, mehr über Marissa herauszufinden.“ Violet schaute überrascht auf. „Wirklich??“ „Ja, unbedingt.“, Addison grinste, „ wenn du willst, lenke ich Cooper ab.“ „Was meinst du denn dazu?“ Cooper hatte soeben Pete getroffen und ihm die Sache, die auch ihn sehr beschäftigte, erklärt. „Ich meine, wenn Violet dich warnt, hat das auch seinen Grund. Sie würde es nicht tun, wenn sie überzeugt wäre, dass Marissa geschlagen wird.“, entgegnete der Alternativmediziner. „Ja, aber du kennst Violet doch. Sie sieht manchmal einfach… Sachen, die da gar nicht sind, überschätzt ihre Fähigkeiten und spinnt etwas herum. „ Pete nickte. „Trotzdem… geh die Sache vorsichtig an.“ Cooper seufzte. Er hatte keine Ahnung, was er nun tun sollte oder wem er Glauben schenken sollte. Er wollte auf keinen Fall zwischen einem weinenden Mädchen, das geschlagen wurde und der Frau, die er seit Jahren abgöttisch liebte, wählen. Keine sehr angenehme Situation. „Er ist gerade wieder in sein Büro gegangen.“ Addison und Violet schlichen am Gang herum. „So ein Mist.“ „Lass mich nur machen. Ich lenk ihn ab. Du musst dich aber beeilen.“ „Mach ich. Danke Addi.“ Addison nickt, dann betrat sie Coopers Büro. Violet versteckte sich hinter der Ecke und wartete ab. Es dauerte nicht lange, bis Cooper zusammen mit Addison aus dem Büro kam. Die Gynäkologin redete ununterbrochen auf ihn ein und der Kinderarzt hörte zu und folgte ihr. Als sie weit genug entfernt waren, sprang Violet um die Ecke und rannte ins Büro ihres Freundes. Hektisch durchsuchte sie die Akten seiner letzten Patienten. Marissa Cohen, Marissa Cohen… „Ha“ Ein Laut des Triumphes entwich ihr, als sie die Akte endlich gefunden hatte. Siegessicher nahm sie das gute Stück an sich und verließ dann so schnell wie möglich das Büro, denn sie konnte hören, dass Addison und Cooper bereits wieder zurück kamen. Die Akte an sich gepresst und Addison in Gedanken noch tausendmal für ihre Hilfe dankend ging sie zum Fahrstuhl und trat jetzt endlich- zwei Stunden später als eigentlich geplant- den Heimweg an. Kapitel 5: Die rote Akte ------------------------ „Mama, Hunger.“, maulte Jason und zog an seinem Gurt herum. „Habt ihr bei Oma nichts gegessen?“, fragte Violet, die sich gerade auf den Verkehr konzentrierte. Sie hatte eben ihre beiden Kinder von ihrer Mutter abgeholt und war nun auf dem Heimweg. Die Akte über Marissa Cohen lag neben ihr auf dem Beifahrersitz und Violet konnte es einfach nicht lassen, immer wieder unscheinbare Blicke darauf zu werfen. Sie wollte sie lesen, so schnell sie konnte. „Doch haben wir.“, antwortete Ava ihrer Mutter. Jason verzog das Gesicht. „Spatteti.“ „Spagetti.“, sagte Ava ihm klar und deutlich vor. Jason warf ihr daraufhin nur einen genervten Blick zu. Er konnte es nicht leiden, dass sie ihn immerzu ausbessern musste. „Hmm…“, murmelte Violet nur, die in Gedanken schon wieder bei dem Fall Marissa Cohen war. Kurz darauf bog sie in ihre Gasse ein und parkte das Auto in der Garage. „Wann kommt Daddy heute heim?“, wollte Ava wissen, während Violet Jason aus dem Kindersatz befreite und hoch hob. „Um sieben, so wie jeden Tag, Schatz.“, meinte Violet nachdenklich und sperrte das Auto zu. Ava rannte ihr voraus zur Haustür und kam kurz darauf mit einem überraschten Gesicht und einem riesigen Strauß roter Rosen zurück. „Schau mal was ich vor der Haustür gefunden hab, Mama!“ Violet kam ihr entgegen. Als sie den Rosenstrauß sah, holte sie das augenblicklich aus ihren Gedanken in die Realität zurück. „Rosen???“ Verwundert betrachtete Violet den Strauß. Ihr erster Gedanke galt Cooper, was natürlich unsinnig war, denn er war in der Arbeit und hätte zu Fuß unmöglich vor ihr zuhause sein können. „Ist eine Karte dabei?“ Violet hatte immer noch Jason am Arm und sperrte mit ihrer freien Hand die Tür auf, woraufhin Ava mit den Blumen ins Haus lief und dabei ein paar Rosenblätter verstreute. „Nein“ „Sicher nicht?“ Neugierig setzte Violet Jason ab, schloss die Tür und sah sich den Rosenstrauß genauer an. „Da ist nichts.“, meinte Ava und drehte den Strauß hin und her. Dann drückte sie ihn ihrer Mutter in die Hand, denn er wurde langsam uninteressant. „Seltsam…“ Violet wusste nicht, weshalb jemand Rosen vor ihre Haustür hätte legen sollen. Die Akte war vergessen. Zumindest für den Moment. „Brauchen sie nicht Wasser?“, fragte Ava nun, die sich langsam wunderte, weshalb ihre Mutter mit dem Rosenstrauß in der Küche stand und diesen nachdenklich anstarrte. „Ähm...ja…“ Violet erwachte aus ihrer Starre und legte die Rosen auf den Küchentisch. Ava beobachtete das verwirrt. Jetzt lagen die schönen Blumen zwar am Tisch, aber Wasser bekamen sie dadurch nicht. Ava wollte gerade wieder etwas sagen, als plötzlich das Telefon läutete. Munter rannte sie hin und nahm den Hörer ab. „Mama, es ist Daddy!“, rief sie wenige Sekunden später quer durchs Haus. Violet schluckte. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Nicht, nachdem sie eine Akte von ihm aus seinem Büro entwendet hatte. „Er klingt irgendwie sauer.“, meinte Ava, als Violet den Hörer nahm. „Ja?“ „VIOLET!“, ging es da auch schon am anderen Ende der Leitung. Ava hatte Recht, er klang in der Tat nicht sehr fröhlich. „Ähm..jaa?“, fragte Violet vorsichtig und fuhr sich durch ihre gelockten Haare. Er wusste es. Er hatte es früher entdeckt, als sie gedacht hatte. Langsam kannte er sie besser als es gut für sie war. „Du hast meine Akte geklaut!“, kam es vorwurfsvoll von Cooper. „Nur geborgt.“, erwiderte Violet kleinlaut, „ du bekommst sie ja wieder.“ Cooper seufzte am anderen Ende der Leitung. „Wieso mischt du dich in meine Fälle ein?“ „Weil du mich darum gebeten hast, schon vergessen?“, konterte Violet. „Aber doch nicht so! Alles was ich wollte, war, dass du ein in Tränen aufgelöstes Mädchen etwas beruhigst, aber nicht, dass du dich auf die Seite ihres Stiefvaters, der sie schlägt, stellst!“ „Ich stelle mich auf gar keine Seite! Ich will nur mehr darüber erfahren, bevor du vor Gericht gehst.“ „Schön. Was willst du tun? Den Stiefvater fragen, ob er seine Tochter schlägt? Seine Antwort kann ich dir jetzt schon sagen!“, meinte Cooper genervt. Jason begann im Hintergrund, lauthals loszubrüllen, weil er etwas essen wollte. „Cooper… können wir das vielleicht später diskutieren?“ „Ja… aber du wirst NICHT zu diesem Mr. Cohen fahren!“ „Wieso nicht?“, meinte Violet gereizt, „ es kann trotz allem nicht schaden, mit ihm zu sprechen.“ „Du wirst da nicht hinfahren!“, sagte Cooper beharrlich. Jason heulte lauter. „Das werden wir ja noch sehen!“ Mit diesen Worten legte Violet auf und begann, Jason etwas zu essen zu geben. Nachdem sie das getan hatte, ging sie zum Auto und holte die Akte. Fast schon etwas wütend schaute sie das rote Ding mit den weißen Blättern darin an, als wäre es schuld daran, dass sie Streit mit Cooper hatte. Sie wollte nicht mit ihm streiten, ganz besonders nicht wegen irgendeinem dahergelaufenen Mädchen, das vielleicht geschlagen wurde. Ärgerlich schlug sie das rote Ding auf und begann darin zu blättern. Sie war in einer Situation, die sie nicht gerade mochte. Wenn herauskam, dass das Mädchen tatsächlich geschlagen wurde, würde sie nicht gerade gut da stehen. Aber nun, da sie den Verdacht gefasst hatte, dass Marissa nicht so unschuldig war, sie sie vorgab zu sein, konnte sie nicht einfach aufhören. Sie musste einfach ihrem Psychiaterinstinkt vertrauen, auch wenn der, Coopers Meinung nach, zu vergessen war. Violet seufzte. Und nur, weil sie solang gebraucht hatte, um zu merken, dass Cooper in sie verliebt war, war ihr Ruf als gute Menschenkennerin für ihn im Eimer. Aber sie hatte doch Erfahrung. Sie kannte die Menschen. Ansatzweise zumindest. War ansatzweise ausreichend? Konnte es sein, dass sie einen persönlichen Groll gegen diese Marissa hegte, der ihre Objektivität beeinflusste? Es kam vor, dass Menschen sich auf den ersten Blick nicht ausstehen konnten, war das bei ihr der Fall gewesen? Verdächtigte sie das Mädchen zu Unrecht? Violet biss sich auf die Lippen und schaute nachdenklich in die Luft. Das war gar nicht gut. Cooper war Kinderarzt, er kannte die typischen Verletzungen, die von Misshandlungen stammten. Er kannte sich damit aus. Er hatte natürlich einen triftigen Grund, zu glauben, dass Marissa geschlagen wurde. Violet versuchte die Selbstzweifel, die langsam in ihr hochstiegen, zu verbannen. Sie halfen ihr jetzt auch nicht weiter. Vielleicht war sie im Recht, vielleicht im Unrecht. Sie musste es herausfinden. Sie musste nicht lange suchen, um die Adresse von Marissa Cohen zu finden. Sie stand gleich auf der ersten Seite. „Na dann…“, meinte sie leise zu sich selbst und schloss die Akte wieder, nachdem sie auch den Rest überflogen hatte. Sie erhob sich und ging ins Kinderzimmer, wo Ava und Jason mit Bausteinen einen großen Turm bauten. „Ich muss euch noch mal kurz zu Oma bringen.“ „Musst du wieder in die Arbeit?“, fragte Ava mit großen Augen. „So ähnlich…“ Kapitel 6: Dan Cohen -------------------- Nachdem sie Jason und Ava zum zweiten Mal an diesem Tag bei ihrer Mutter abgeliefert hatte, fuhr Violet zum Haus der Familie Cohen. Sie wusste nicht, ob Dan Cohen, so hieß Marissas Stiefvater, zuhause war oder nicht, aber sie hoffte es. Als sie ihr Auto vor dem Haus parkte, zögerte sie kurz. Cooper war dagegen gewesen, dass sie herkam. Ganz wohl fühlte sie sich nicht bei der Sache, aber jetzt, wo sie schon mal hier war, würde sie auch nicht wieder einfach so fahren. Sie stieg aus dem Auto aus, ging zur Haustür und klopfte. Sie musste nicht lange warten, bis geöffnet wurde. Ein Mann mittleren Alters stand vor ihr und sah sie fragend an. „Hallo… sind sie Dan Cohen?“, fragte Violet etwas unsicher, während sie ihn von oben bis unten musterte. Wäre es ihm zuzutrauen, ein Kind zu schlagen? Sie konnte es nicht sagen. „Ja, bin ich. Und sie sind..?“ „Dr. Violet Turner.“, sagte sie schnell und streckte ihm die Hand zur Begrüßung hin, „ ich bin die Psychiaterin ihrer Stieftochter.“ „Marissa hat eine… Psychiaterin?“ Er klang etwas verwundert. „Stimmt etwas nicht?“ Er wusste also von nichts. Oder zumindest gab er vor, nichts zu wissen. Ob er tatsächlich so ahnungslos war, wie er sich gab, würde sie noch herausfinden. „Nicht…direkt. Kann ich reinkommen…?“, fragte Violet, woraufhin er ihr gleich die Tür aufhielt und zur Seite trat. „Natürlich.“ Sie folgte ihm ins Wohnzimmer, wo sie sich ihm gegenüber auf ein Sofa setzte. Es war blau, so wie das Sofa in ihrem Büro, was gleich eine beruhigende Umgebung schaffte. „Erzählen sie mir, was mit Marissa ist?“ Violet nickte. Sie fing an, ihm zu erzählen, wie das Mädchen wegen einer Krankheit zu Cooper gekommen war und wie ihr Freund daraufhin die Verletzungen an ihren Armen bemerkt hatte, die wie typische Misshandlungsverletzungen aussahen. Während sie ihm davon erzählte, achtete sie genauestens auf seinen Gesichtsausdruck und seine Gesten. Körpersprache sagte oft mehr als tausend Worte. Dan Cohen wirkte schockiert. Vielleicht war er aber auch nur ein guter Schauspieler. „Marissa hat uns erzählt, dass sie sie schlagen…“, schloss Violet die Erzählung und schaute Mr. Cohen erwartungsvoll an. Er wurde blass. Violet beobachtete ihn genau. „Das hat sie gesagt?? Im Ernst?“ „Sie sind überrascht..?“ „Natürlich bin ich überrascht! Ich schlage Marissa nicht!“ Gut. Das hatte Violet erwartet. Die Antwort hätte jeder erwartet. „Hören sie…“, fing Dan an, „ ich weiß, dass Marissa mich nicht ausstehen kann. Ich habe in den letzten Monaten wirklich alles versucht, um ihre Freundschaft zu gewinnen, aber… es hat wohl nicht funktioniert. Ich weiß nicht, was sie gegen mich hat, ich habe ihr nie etwas getan. Ich bin nur mit ihrer Mutter zusammen.“ „Woher hat sie dann die Verletzungen?“, bohrte Violet nach. Mr. Cohen zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich nicht… aber wer immer es war, er wird dafür gerade stehen müssen.“ „Haben sie einen Verdacht?“ Er seufzte. „Nein.“ „Ihre… Mutter?“, fragte Violet vorsichtig, doch Mr. Cohen schüttelte sofort energisch den Kopf. „Niemals. Mary würde ihre Tochter nie schlagen. Die beiden sind ein Herz und eine Seele.“ Violet nickte. Mr. Cohen wirkte glaubhaft. Gut, er war vielleicht ein fantastischer Schauspieler. Man konnte Menschen nicht ansehen, ob sie jemanden schlugen oder nicht. Aber immerhin hatte sie jetzt seine Sichtweise gehört. „Wieso behauptet Marissa, dass ich sie schlage..?“ Violet sah ihn an. „Das kann ich nicht sagen.“ Sie wusste nicht, ob sie ihm seine Unschuld glauben sollte, aber er wirkte so… sympathisch und ehrlich auf sie. Ließ sie sich zu leicht täuschen? „Wird ihr Freund… ich meine, wird Dr. Freedman das Jugendamt anrufen und vor Gericht gehen?“, fragte Mr. Cohen. „Ja, das wird er. Wenn er nicht schon dort angerufen hat..“, meinte Violet nachdenklich und erhob sich vom Sofa, „ Kann ich ihre Toilette benutzen?“ Dan Cohen nickte. „Selbstverständlich. Den Gang entlang dritte Tür rechts.“ Er blieb wie versteinert am Sofa sitzen und vergrub den Kopf in seinen Händen. Violet ging den Gang entlang. Sie ging an der ersten Tür vorbei, dann hörte sie jemanden im Zimmer hinter der zweiten Tür sprechen. Die Tür war nur leicht angelehnt und die Stimme hörte sich nach Marissa an. Die Stimme der zweiten Person schien einem anderen Mädchen zu gehören. Die Psychiaterin zögerte kurz. Es gehörte sich nicht, an der Tür anderer Leute zu lauschen… Andererseits… Es dauerte nicht lange, und Violets Neugierde siegte. Leise ging sie näher zur Tür und versuchte zu verstehen, was im Zimmer gesprochen wurde. „Es läuft gut.“, sagte Marissa gerade, „ Dr. Freedman glaubt mir jedes Wort. Der ist so ahnungslos und leichtgläubig, dass es fast schon lächerlich ist.“ Violet hielt gespannt den Atem an. Das andere Mädchen gab ein Lachen von sich. „Also hast du leichtes Spiel mit ihm?“ „Ja, hab ich. Diese Psychiaterin hat genervt, aber solange er ihr nicht glaubt, ist alles okay. Wie gut, dass ich auf Kommando weinen kann.“ Violet konnte kaum fassen, was sie da hörte. Eine leichte Wut stieg in ihr hoch, während sie weiter zuhörte. „Dann bist du Dan ja bald los.“ „Das hoffe ich. Der Typ nervt echt.“ Die Psychiaterin hatte genug gehört. Sie ging noch schnell aufs Klo, dann eilte sie zurück ins Wohnzimmer. Dan erhob sich, als er sie kommen sah. „Ich muss gehen.“, meinte Violet nur hastig und rauschte an ihm vorbei zur Haustür. „Okay…“ Er wunderte sich, wieso sie es plötzlich so eilig hatte. „Was passiert nun wegen Marissa…?“ „Ich glaube ihnen. Und jetzt muss ich meinen Freund davon überzeugen.“, rief Violet noch, als sie schon draußen war und zu ihrem Auto ging. Kurz darauf kam sie beim Oceanside Wellness Center an. Sie sprang aus dem Auto, eilte auf das Gebäude zu- und sah gerade noch, wie ein Krankenwagen wegfuhr. Addison, Naomi, Sam und Pete standen draußen und sahen dem Fahrzeug nach. Violet eilte auf sie zu. „Was ist passiert?“, fragte sie, als sie die geschockten Gesichter ihrer Freunde sah. „Wir wollten dich gerade anrufen…“, erwiderte Addison leise und steckte ihr Handy weg. Dann umarmte sie Violet wortlos. „Was… was ist denn los…?“, fragte Violet verwirrt, die sich Addisons spontane Umarmung nicht erklären konnte. Ihr Herz fing an, beunruhigt schneller zu schlagen. Was war los? „Cooper ist… Cooper wurde…“, fing Naomi leise an. „Was ist mit Cooper???“, fragte Violet panisch und schaute von einem zum anderen. „Cooper wurde wahrscheinlich vergiftet.“, sagte Sam mit ruhiger Stimme, auch wenn er alles andere als ruhig war. „Was…“ Violet konnte spüren, wie ihre Knie nachgaben und Naomi und Addison darum bemüht waren, sie festzuhalten. „Violet? Violet, sag was…“ „Sie ist ganz blass.“ „Hol ihr ein Glas Wasser.“ Die Psychiaterin nahm die Stimmen der anderen nur noch von sehr weit weg wahr. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)