Caileen, die Drachenprinzessin von FrozenHeart_Immortal ================================================================================ Kapitel 6: Erinnerung --------------------- Wie in Trance hastete Kazary die Treppen hinunter durch die geheime Tür und merkte nicht, wie sie beinahe Daeron über den Haufen rannte. „Was habt Ihr?“, versuchte der Hauptmann sie zu beruhigen, doch Kazary brachte kein Wort heraus. Immer wieder gingen ihr Meleanders Worte durch den Kopf. Sie wünschte, sie hätte all das nie erfahren müssen. Sie hatte mit allem gerechnet, aber dass sie ausgerechnet die für tot erklärte Prinzessin sein musste… Vorsichtig geleiteten Daeron und die seltsame Heilerin die Elfe nach draußen, wo sie sich auf einer Bank niederließen. Die Sonne schien warm und angenehm, der milde Wind brachte den Duft der Frühlingsblumen, der Himmel war in strahlendes Blau gekleidet, doch für all das hatte die sonst so naturverbundene Kazary kein Auge. Elodris war die erste, die das Wort erhob: „Es tut mir Leid, dass es alles so kommen musste, aber es ließ sich nicht vermeiden… das Wohl und das Überleben des Hauses von Dorien erschien mir damals als wichtiger.“ „Und wie soll es nun weitergehen? Wir können doch nicht einfach so tun, als hätte sich nichts geändert!“, fragte Daeron, dem es ungewohnt leicht fiel, der Prinzessin eine Hand zum Trost auf die Schulter zu legen. Eine Weile sahen sie schweigend durch die Straßen und Gärten des inneren Stadtringes, auf der Suche nach einer Antwort. Es dauerte einige Augenblicke, bis Kazary endlich, wenn auch etwas gedankenverloren und mit den Worten ringend, sagte: „Ich weiß, ihr alle setzt nun große Erwartungen in mich und ich möchte euch auch nicht enttäuschen, aber bevor ich von Kalenth hierher geholt wurde, hatte ich eine Entscheidung getroffen. Zwar lässt sich mein Bund mit Arsinoe nicht leugnen, aber dennoch gehöre ich in die Berge zu den Menschen… meiner Familie. Ich hatte gehofft, ich könnte während der warmen Jahreshälfte meinen Dienst als Drachenreiterin erfüllen und im Winter zu meinem Dorf in den Hochlanden zurückkehren…“ „Das verstehe ich wohl“, erwiderte Daeron, „Aber wir müssen an Eure Sicherheit denken. Wenn wir wissen, wer Ihr wirklich seid, dann liegt es nahe, dass der Feind es schon lange weiß. Einen Anschlag haben sie bereits auf Meleander versucht, wer kann schon sagen, ob Ihr nicht die nächste sein werdet?“ Elodris nickte zustimmend: „Der Hauptmann hat Recht, mein Kind, nun, da sich alles klärt, sollte Eure Sicherheit oberste Priorität haben. Vielleicht sollten wir den Mantel des Schweigens über die Angelegenheit halten, abgesehen von einem kleinen Kreis von Auserwählten. Ich denke, wenn wir die Smaraktgarde einzig darüber aufklären, sollte nichts schief laufen, und wenn es mir gestattet ist, würde ich mich euch gerne in diesem Krieg anschließen. Ich weiß, ich habe zwar keinen Bund mit einem Drachen geschlossen, aber ihr werdet eine erfahrene Heilerin benötigen und außerdem ist das alles hier ohnehin meine Schuld…“ Erschrocken sahen Daeron und Kazary die Frau an. Die Smaraktgarde war ein geheimer Bund unter den Drachenreiter und nur sie konnten um ihn wissen. Selbst unter den Drachenreitern selbst wussten nur wenige, wer genau diesem Bund angehörte und wer nicht, denn alles, was in der Smaraktgarde besprochen wurde, war streng vertraulich. Durch dass, was sie taten, konnten Kriege verhindert werden, ehe sie ausbrachen. Aus diesem Grund wurde auch das Tunnelsystem unter Tirganach gebaut, das mittlerweile für alle Drachenreiter zugänglich aber geheim zuhalten war. Wie aber konnte eine Heilerin, und sei sie auch einst eine Vertraute der Königin Nephele gewesen, darum wissen? „Ich bin zwar nur eine Heilerin, aber ich bin nicht blind“, erklärte Elodris, als sie die verdutzten Gesichter der beiden Krieger erblickte, „Ich möchte wieder gut machen, was ich damals angerichtet habe.“ Und da keiner einen Einwand gehen diese Worte hervorbrachte, verneigte sich der Hauptmann gegenüber den Frauen und ließ sie alleine, um, wie beschlossen, die Eingeweihten der Smaraktgarde von den neuesten Umständen zu unterrichten. Als er außer Sichtweite war, erhob sich Elodris von der steinernen Bank und wandte sich Kazary zu. „Nun, mein Kind“, sprach sie, „Gewiss habt Ihr viele Fragen.“ So war es tatsächlich. Nun, da sich Kazary von ihrem Schrecken und ihrer Schockiertheit erholte, begannen eine Reihe Fragen auf ihrer Zunge zu brennen, doch wusste sie nicht, wie sie anfangen sollte. „Ich… Ihr…Was… Ich meine… Wer war Caileen… wer war ich?“ „Caileen war die jüngere Schwester des Prinzen Meleander. Die Leute haben sie sehr geliebt. Sie hat sich immer für ihr Volk eingesetzt, besonders für jene, die selbst nicht die Kraft dazu hatten. Sie war der Hoffnungsstern unseres Reiches“, erklärte Elodris. Doch Kazary schüttelte ungläubig den Kopf. Sie konnte sich an nichts von dem, was die Heilerin ihr schilderte, erinnern. Es kam ihr so vor, als wäre die Frau, von der sie hörte, eine vollkommen fremde, und nicht sie selbst. Einerseits war sie nun froh, endlich zu wissen, was damals vorgefallen war, doch andererseits fürchtete sie sich immer noch davor, dass man zu hohe Erwartungen in sie setzte. Dreißig Jahre waren vergangen und sie war jemand anderes geworden. Die Caileen, die sie einst gewesen sein mochte, gab es nicht mehr und würde es nie wieder geben. „Ihr ward nicht nur eine Drachenreiterin, sondern wurdet auch in der hohen Schule der Magie unterrichtet“, fuhr Elodris fort, der der Zwiespalt in Kazarys Augen aufgefallen war. „Schon als Kind ward ihr eine begnadete Kämpfernatur gewesen. Stets waren die Knaben eure Spielgefährten, mit denen ihr die großen Schlachten vergangener Tage nachstelltet. Und als ihr langsam zu einer jungen Frau heranwuchset, packte euch die Sehnsucht nach der Ferne und nach Krieg und Abenteuer umso mehr. König Meleborn und Königin Nephele, meine Herrin, konnten Eure Leidenschaft nicht verstehen. Und als ihr dann euren Bund zu Arsinoe geschlossen hattet, wurde es nicht leichter für die beiden. Die Ausbildung zur Drachenreiterin hattet ihr so schnell absolviert wie kaum einer vor Euch. Es verging kaum eine Schlacht, in der Ihr nicht an vorderster Front gekämpft habt, kein Tag, da Ihr nicht den Umgang mit Euren Waffen übtet oder mit Arsinoe durch die Lande zogt. Es war, als wäre der Kampf, wenn auch ohne Ziel, der einzige Sinn Eures Lebens, und dennoch hattet ihr stets ein offenes Ohr für das Volk, habt Euch für die Schwachen und Wehrlosen eingesetzt und vielen Verzagenden Hoffnung geschenkt. Viele damals hatten in Euch den besseren Herrscher gesehen als in Meleander, der als der Ältere der rechtmäßige Erbe war, doch Ihr schient kein Interesse an dem Thron zu haben. Ich verstehe immer noch nicht, warum, aber Leben für den Kampf, noch ungewiss, an welcher Front, schien Eure Bestimmung zu sein.“ Nachdenklich fuhren Kazarys Augen auf ihre Hände. Was sie da hörte, mochte so gar nicht zu ihr passen. Hatte sie sich wirklich so sehr verändert? Fragend schaute sie wieder auf und wandte sich an die Heilerin: „Mir scheint, als wäre Caileen wirklich gestorben…“ „Aber nein!“, erklärte Elodris und ergriff ihre Hände, die sich in das Gewand der Elfe verkrallt hatten, um nicht die Kontrolle über ihre Gefühle zu verlieren, „Im Gegenteil! Caileen lebt immer noch, doch ihr seid gewachsen, seelisch. Caileen ist nun eine reifere Frau geworden, die nun nicht nur die Bestimmung in der Kriegskunst, sondern auch das ganze Ausmaß des Krieges kennen gelernt hat. Ihr seid dadurch besonnener und weiser geworden und habt gelernt, einen unnötigen Krieg zu vermeiden. Aber im Grunde sehe ich noch immer das kämpferische Herz der Drachenreiterin von damals in Euch.“ Die Worte der Heilkundigen nahmen Kazary einen Teil der unsäglichen Last, die sie auf sich spürte. Sie hatte das Gefühl, dass zumindest sie ein Stück weit nachvollziehen konnte, wie sie sich jetzt fühlte. Und in all dem Unbehagen, das sie verfolgte, glaubte sie nun, etwas neuen Mut wieder gefunden zu haben. „Es kommt mir immer noch so unwirklich vor…“, sprach sie mit einem melancholischen Lächeln. „Ihr werdet schon sehen“, munterte Elodris sie auf, „Nehmt die Erinnerung, die wir an Euch haben, in euch auf und studiert sie, bald wird sie nicht nur das Leben einer Fremden sein, sondern in Eure eigene Erinnerung hinüber fließen. Ihr müsst Euch nur selbst die Geduld dazulassen!“ Die Elfe bedankte sich für diesen Rat und zog sich erst einmal zurück. Nach all den Aufregungen brauchte sie nun einige ruhige Minuten für sich, um ihre Gedanken wieder zu ordnen. So verließ sie den inneren Stadtring und schlenderte durch die Straßen. Viele Leute, hauptsächlich Elfen und Menschen, aber auch vereinzelt ein paar Zwerge aus Windholme und hier und da mal eine Nymphe aus Merrits Gefolgschaft begegneten ihr und grüßten sie sowohl freundlich als auch respektvoll. Dennoch schien all diese warmherzigen Gesichter nur eine Maske zu sein. Unter der Menge erkannte sie viele Flüchtlinge. Der Krieg hatte viele Wunden hinterlassen. Lange konnte das so nicht weitergehen! Wie viele sollten noch ihr Leben lassen, wie viele Dörfer und Städte sollten noch zerstört, wie viele Familien noch zerrissen werden, und das alles für einen Krieg, dessen Sinn niemand kannte?! Wehmut überkam die Elfe bei dem Gedanken, was alles vor sich ging. Elodris hatte behauptet, die sei einst eine begabte und leidenschaftliche Kriegerin gewesen, doch immer noch schien ihr die Erinnerung an ihr früheres Leben wie das einer völlig anderen Elfe. Caileen war jung, mutig, voller Ideale und fest entschlossen, für ihr Volk - und vielleicht auch für eigenes Selbstwertgefühl – zu kämpfen. Doch wer war sie? Wie stand es um Kazary? Sie war so sehr in Gedanken versunken, dass sie gar nicht bemerkte, wie sie jetzt auch noch den äußeren Stadtring verließ und beinahe gegen Arsinoes Vorderlauf stieß. Das Drachenweibchen hatte tatsächlich die ganze Zeit über auf sie gewartet. „Wie geht es dir?“ „Ich weiß es nicht…“, entgegnete die Elfe und ließ sich im Ufergras unter dem Baum nieder, wo sie normalerweise immer mit Lavinia saß, wenn die beiden traurig waren oder aber nachdenken mussten. Sie schlang die Arme um ihre Beine und stützte den Kopf auf die Knie auf, sodass sie die sanften Kräusel auf der Wasseroberfläche des Kristallsees beobachten konnte. Eine Weile saß sie schweigend so da, dann brannte ihr eine Frage auf der Zunge: „Erinnerst du dich, Arsinoe? Weißt du, wer ich war, was geschehen ist…die winzigste Kleinigkeit, irgendetwas?“ „Mir ist, als läge dichter Nebel auf meiner Erinnerung, der nur an einigen wenigen Stellen zu schwinden scheint… alles ist trübe, aber das eine oder andere kommt mir wieder in den Sinn.“ „Ich habe alles erfahren… und dennoch habe ich das Gefühl, als wäre zwischen mir und meiner Erinnerung ein unüberwindbarer Abgrund“, beschrieb die Elfe, was in ihr vorging, „Wie war es eigentlich, als ich damals aus meiner Ohnmacht erwacht bin? Wir haben nie darüber gesprochen, dabei hätte es doch das erste sein können, wonach ich hätte fragen sollen! Wie hast du dich gefühlt, als ich erwacht bin, und warum bist du bei mir geblieben, obwohl unser beider Gedächtnis erloschen war, und praktisch kein Bund uns mehr an einander kettete?“ „Es ist schwer zu erklären“, gab Arsinoe zu und legte sich am Ufer nieder, sodass ihre Gefährtin sich ihrem smaraktgrünen Schuppenpanzer lehnen konnte, „Ich wusste nur noch, dass ich aus irgendeinem Grund bleiben musste, dass es jemanden gab, dem ich zur Seite stehen musste. Ich wusste nicht genau, weshalb, aber genau aus diesem Anlass bin ich geblieben. Und als ich dich sah, glaubte ich mich in meine Vergangenheit zurück versetzt. Ich wusste kaum noch, wer ich war, kannte nur noch meinen Namen und jene Dinge, die meist von Geburt an oder zumindest über die Generationen hinweg Teil eines jeden Drachenherzens und Gedächtnisses waren. Aber du… du gabst mir das Gefühl, das Tor zu etwas öffnen zu können, dass sich in mir erinnern wollte, aber noch zu schwach war. Ich habe deine Stimme gehört und wusste, dass mein Platz an deiner Seite sein musste.“ „Auch ich habe deine Stimme gehört“ „Vielleicht hat man unserem Bund eine zweite Chance gegeben.“ Nachdenklich strich die Elfe über Arsinoes ledrigen Körper. Deutlich spürte sie den Herzschlag, der gleiche Rhythmus, den ihr Herz schlug. „Ich denke, wir sollten mit der Vergangenheit abschließen. Wir haben eine weitere Chance bekommen, haben ein neues Leben begonnen und sind nicht mehr, wer wir einst waren. Vielleicht waren wir einmal hoch angesehen, aber ich zumindest möchte dieses neue Leben führen…“ Arsinoe legte ihren gehörnten Kopf schief: „Das wird wohl das Beste sein, für alle!“ Später am Tag machte sich Kazary auf zum geheimen Treffpunkt der Smaraktgarde. Nahe einem kleinen Marktplatz fand sie eine lose Steinplatte, unter der eine Treppe in die Düsternis führte. Mittlerweile kannte die Elfe die verborgenen Gänge so gut wie auswendig und auch waren ihr die meisten der unterirdischen Kammern und Besprechungsräume vertraut geworden. Sie kam an einer großen Tunnelkreuzung vorbei, von der sie wusste, dass die rechte Abzweigung hinauf zu Arvigs Wirtshaus führte. Von eben dort liefen ihr eine Reihe von Drachenreitern entgegen. Die meisten von ihnen hatten wohl getrunken, einige trugen sogar noch einen Krug bei sich. Anscheinend hatten sie zu feiern. Auf Kazarys Frage hin, worauf sie tranken, erfuhr sie, dass sie eben erst aus einer Schlacht bei den Halbelfendorf Eressa zurückgekehrt waren, und dass es ihnen gelungen sei, das Dorf zu halten. Ein erster Sieg nach all den Verlusten und Flüchtlingen. Die Elfe beglückwünschte sie zu diesem Erfolg und ging dann weiter. Sie fragte sich, was der Hauptmann den anderen wohl erzählt haben mochte und wie sie auf sie reagieren würden. Doch kaum, dass sie vor der schweren Holztür stand, hinter der sich der Ratsraum der Smaraktgarde befand, und eine Hand auf den Griff gelegt hatte, verließ sie wieder der Mut und Zweifel kamen wieder auf. In Gedanken rief sie sich zur Vernunft. Noch einmal atmete sie tief durch, drückte dann den Türgriff hinunter und trat ein. Mit einem Schlag wurde es still in dem Raum. Wie gebannt starrten alle auf die junge Frau. Niemand wagte es, das Wort zu erheben. Schließlich war es Kazary selbst, die das Schweigen brach. „Ich denke, Daeron hat euch sicher schon alles erzählt…“, setzte sie beinahe im Flüsterton an, doch Jawhel unterbrach sie und machte Anstalten, vor ihr nieder zu knien. „Prinzessin, wie sehr mich eure Unversehrtheit freut! Nach all den Jahren ist es mir eine Ehre, wieder mit Euch ausziehen zu dürfen!“ „Auf mit Euch Krieger, und lasst das arme Ding zumindest ausreden!“ Erst jetzt fiel Kazary auf, dass auch Elodris sich unter den Versammelten befand. In all den weiten weißen Gewändern und dem Schleier, der das Haar und beinahe auch das gesamte Gesicht, bis auf die Augen verbarg, hob sich die Heilerin ziemlich von den übrigen versammelten ab, die alle eher praktischere, jedoch nicht minder schöne Kleider trugen. Mit Ausnahme vielleicht von Shalawyn. Selbst jetzt, wo sie nicht öffentlich im Dienst des Königs unterwegs war, hatte sie ihre übliche Montur in den Farben der Stadt Mor Duin angelegt. Die übrigen begnügten sich mit privaten Kleidern. Die grünen Tuniken zogen sie nur zu öffentlichen Anlässen an. Erneut versuchte Kazary, sich ihren Mitstreitern zu erklären: „Ich weiß, ihr erwartet jetzt sicher alle irgendwelche Heldentaten oder atemberaubenden Entscheidungen von mir, so wie ich es früher vielleicht einmal getan haben mochte. Aber ich bin jemand anderes. Ich bin Kazary, und nicht mehr Caileen, und als diese möchte ich auch gesehen werden. Deshalb habe ich auch eine Entscheidung getroffen.“ „Und die lautet?“, wollte jemand wissen. „ Da ich unweigerlich eine Drachenreiterin bin und meine Pflichten nicht vernachlässigen kann, werde ich während der warmen Hälfte des Jahres hier in Tirganach bleiben, die andere Hälfte werde ich in meinem Dorf in den Hochlanden verbringen. Dann wird dort meine Hilfe benötigt.“ „Einverstanden!“, polterte Lavinia los und stützte die Hände in die Hüften, „Aber nur, wenn ich endlich mal die Leute kennen lernen darf, mit denen du lebst!“ Kazary hatte ihre Freundin seit jenem Tag im Herbst, wo Lavinia an die Front gerufen worden war, nicht mehr gesehen. Charakterlich hatte sie sich kaum verändert, nur eine Narbe auf ihrer Wange, die noch nicht vollständig verheilt war, und das noch wilder als sonst wirkende Haar erinnerten sie daran, wie viel Zeit schon verstrichen war. Kalenth lachte auf: „Glaub mir, Lavinia, mit denen würdest du dich prächtig verstehen! Nimm Silayn mit und alle kleinen Jungen liegen dir zu Füßen, doch die Frauen werden dir an die Kehle gehen!“ Auch Kazary musste lächeln. Bislang hatte sie immer versucht, ihre Aufgabe als Drachenreiterin und ihr Leben im Dorf getrennt zu halten, um ihre Familie und Freunde dort nicht zu gefährden. Aber wenn sie es recht überlegte, hatte Kalenth, der bereits Alyssa und ihren Brüdern begegnet war, als er die Elfe hatte nach Tirganach begleiten sollen, recht: Lavinia und Alyssa waren sich in der Tat manchmal ziemlich ähnlich, und die vier Lausbuben wären von der chaotischen Elfe und ihrem Drachen sicher nur begeistert. „Nun aber zurück zum eigentlichen Thema!“, bemühte sich Daeron, ernst zu klingen, aber auch ihm fiel es schwer, sich ein Lächeln zu unterdrücken, „Der Grund, weshalb ich euch zusammengerufen habe, ist nicht nur, euch zu berichten, dass Prinzessin Caileen am Leben ist, sondern auch, um darüber zu diskutieren, wie wir nun weiter vorgehen sollen. Wenn wir wissen, dass Caileen noch lebt, dann ist auch davon auszugehen, dass Xu ebenfalls darüber benachrichtigt wurde. Wir wissen zwar nicht warum, aber sie scheinen es auf Caileen...ich meine Kazary abgesehen zu haben, ebenso, wie sie den Tod des Königs wollen. Wenn es also darum geht, das Königshaus auszurotten, dann müssen wir uns überlegen, was zu machen ist.“ Nachdenkliches Schweigen machte die Runde. Jeder schien sich mit dem Problem intensiv auseinander zu setzen. Letztendlich übernahm Merrit das Wort: „ Es wird schwer werden, sowohl den König, als auch Kazary zu schützen, insbesondere, da nun so viele Schlachten vor uns liegen. Meine Leute jedoch könnten einen Bann um Tirganach weben, dass zumindest die Hauptstadt vorerst geschützt ist. Vielleicht sollten wir zusätzlich die Wachen an den Stadttoren und den Eingängen zum Schloss verstärken. Einfacheres Fußvolk sollte dafür gut sein.“ „Diamid und ich haben auch noch fünfzehn junge Drachenreiter, die mit in den Krieg ziehen könnten. Sie sind noch etwas unerfahren, aber ihr Talent ist bemerkenswert!“, erklärte Thea. „Danke, Thea!“, sprach der Hauptmann, „Wir können jeden Mann und jede Frau gebrauchen! Inzwischen werde ich mit den Generälen reden. Aber… was machen wir mit Euch, Kazary…?“ „Ich komme schon zurecht, solange niemand ein Wort über meine Vergangenheit verliert, glaube ich kaum, dass sich einer für mich interessieren würde.“ „Dennoch, mir gefällt es nicht, was hier vor sich geht. Bitte seid sehr vorsichtig!“ Kazary nickte. Auch ihr missfiel es, dass der Krieg solch einen Verlauf nahm, vor allem, da niemand den Grund und die Ursache für den Hass zwischen Elfen und Dunkelelfen kannte. Zum ersten Mal, seid die Elfe den Raum betreten hatte, wagte es Elodris, zu sprechen: „Ich würde mich gerne um Kazarys Ausbildung kümmern. Die Prinzessin war einst eine begabte Zauberschülerin und ich denke, dass wir ihre Sicherheit durch einige Schutzzauber erheblich stärken könnten.“ „Ich danke Euch, Elodris!“, gewährte Daeron ihre Bitte. Einige Zeit verbrachten sie noch damit, über die Kriegsfronten, die verlorenen Gebiete und ihre Kampfstärke zu diskutieren, ehe der Hauptmann sie mit ihren vereinbarten Aufgaben entließ. Kazary verließ die Kammer gemeinsam mit Elodris und Lavinia. „Ich freue mich ja so für dich, dass du endlich weißt, wer du bist!“, lächelte Lavinia ihrer Freundin zu. Diese aber versuchte deutlich zu machen, dass sie immer noch dieselbe sei und dass sie nicht vorhabe, ihr altes Leben weiterzuführen. Für Lavinia war das unverständlich. Vor dem großen Krieg hatte sie die Prinzessin ein oder zwei Male gesehen, auch ihre Brüder hatten ihr viel von Caileen erzählt. Damals war sie Schülerin in den Brutstätten gewesen und hatte noch nicht den Bund mit einem Drachen geschlossen. Von den Taten der Prinzessin, die sich einen Dreck um ihren hohen Rang scherte und genau wie alle anderen auch in den Krieg zog, nicht ihrer Familie zum Trotz, nein, um ihr Volk zu schützen, damit allen, die selbst nicht in der Lage waren, zu kämpfen, Sicherheit zu geben und Frieden zu schenken, war sie beeindruckt gewesen. Wie konnte man solch ein Leben nicht haben wollen? Plötzlich machte Kazary halt. Sie wandte sich nach jemandem um. „Wartet, bitte!“, sprach sie den beiden Frauen noch kurz zu, und trat dann auch schon an die Person heran, die sie eben erklickt hatte. Lavinia erkannte, dass es Jawhel war. „Was gibt es, Herrin?“, fragte er verwundert. Kazary seufzte: „Wieso nennst du mich ‚Herrin’? Was hatte das vorhin zu bedeuten?“ „Erinnert Ihr Euch denn nicht?“ „Woran? Ich habe keine Erinnerung mehr an das, was einst war…“ Für einen Augenblick sah Jawhel sie verwundert an, als glaubte er, sie treibe einen schlechten Scherz mit ihm. Dann aber verstand er, dass Kazary sich wirklich an nichts mehr erinnern konnte und begann zu erzählen: „Während jenes Krieges vor über dreißig Jahren habe ich als Drachenreiter und Späher in jener Abteilung gedient, die Euch unterstellt war. Mein Vater war der Botschafter der Singenden Grotten, daher bin ich Euch schon vorher oft am Hofe begegnet.“ Kopfschüttelnd erklärte die Elfe erneut, dass sie sich nicht erinnern könnte und dass er sie nicht mehr behandeln solle, als wäre sie die Prinzessin, worauf hin Jawhel überrascht fragte: „Aber wieso? Ihr habt so viel für Dorien getan, habt so lange nach eurer Vergangenheit gesucht, warum wollt Ihr das alles so plötzlich aufgeben? „ „Weil ich das gefunden habe, was Caileen gesucht hat!“, erklärte sie beschwichtigend, „Als Caileen hatte ich das Leben am Hofe gehasst und ich wollte eine Kriegerin sein und ein normales Mädchen, dass allen helfen und von Nützen sein kann, keine Prinzessin, die Tag und Nacht bedient wird, nur um dann irgendeinen daher gelaufenen Adligen zu heiraten und als Königin jeden Tag mit Angst und Bangen zu warten, dass ihr Ehegatte unversehrt aus der Schlacht zurückkehrt.“ „Ja, so habe ich Euch kennen gelernt: Als Frau, die ihr Schicksal selbst bestimmt“, bestätigte Jawhel. „Ich glaube, dass man mir einfach noch eine Chance gegeben hat, eben das Leben zu führen, das ich haben wollte, indem ich mein Gedächtnis verloren habe. Fern des höfischen Lebens habe ich eine Familie gefunden, die mich wirklich braucht. Ich kann nun endlich mein Leben nach meinem Belieben gestalten und habe nun endlich meinen Frieden gefunden. Dadurch habe ich eins gelernt: Caileen zog in den Krieg, weil sie es als Abenteuer sah, ihr Volk zu verteidigen und weil sie Freude daran fand, ein normales Kriegerdasein zu fristen. Kazary hingegen kämpft, weil es notwendig ist, um jene zu beschützen, die ihr wichtig sind, und um dafür zu sorgen, dass nicht noch mehr Kriege geführt werden müssen, als es ohnehin schon auf der Welt gibt. Ich bin charakterlich eine vollkommen andere Frau geworden.“ „Ich…verstehe“, erwiderte der Elf und sah etwas betrübt zu Boden. Für ihn war es immer noch kaum zu glauben, dass die einst so kriegerische Caileen jetzt den Krieg nur noch als Notwendigkeit empfand, auch wenn sie jetzt Kazary hieß. „Es tut mir Leid, wenn ich eurer aller Erwartungen nicht erfülle“, entschuldigte sie sich, ehe sie sich wieder Elodris und Lavinia anschloss. Auf dem Weg fragte sie sich, wie sie im Stande war, solche Worte zu formulieren. Ihr war, als hätte Caileen selbst durch sie gesprochen. Hatte Elodris etwas Recht? War Kazary nur eine geistig gewachsene Caileen, reifer und erfahrener, aber sonst immer noch dieselbe Elfe? Oder begannen gar, die die Gedanken und Empfindungen Caileens mit den ihrigen zu verschwimmen? War es ihre gemeinsame Erinnerung? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)