Lost Things von -Catayane- ================================================================================ Prolog: Ausgangspunkt und Sinnbild ---------------------------------- Die dunkle Nacht, das Reich der Vampire, sie steht erwartungsvoll nach des Tages Mühe im Raum und erwartet die Ankunft ihrer Meister, die sich in Schatten hüllen und sich verborgen vor der Menschheit verschlafenem Auge bewegen. Ihre Stärke ist ihr Geist. Verlieren sie diese Macht, ist ihr Ende ein unaufhaltsames Gewässer, welches sich nicht am Strömen hindern lässt und sie mit sich in die Tiefe reißt. Kapitel 1: Das Schicksal ------------------------ Ein dumpfer Aufprall! - Metall schmetterte auf dem Asphalt! - Räder rutschten auf der regennassen Straße! - Ein wildes Zucken durchfuhr den Fahrer, welcher durch die Luft geschleudert wurde! - Dann Blaulicht und Sirenen! - Viele Töne auf einmal, ohne einen Punkt, von woher aus diese kamen! - Und das Blut floss in eine Pfütze! - Es schimmerte herrlich rot! "Vic? Vicky, was hast du?", fragte Leif und Vic zuckte aus ihrer Vision auf. "Hast du etwas gesagt?", wollte sie wissen und sie durchfuhr plötzlich ein ungewolltes Zittern. "Ich wollte nur wissen, wann du dich endlich fertigmachst." "Bitte sei nicht sauer, aber ich will nicht mit in die Bar." In ihrer Stimme hatte ein Hauch von Angst gelegen, welcher ihn dazu anhielt auf sie zuzugehen. So sehr er jedoch zu ihr wollte, er konnte das unmittelbare Schaudern, welches durch seinen Körper jagte, wenn er jenes Zimmer betrat in dessen Mitte sie stand, nicht verhindern. Leif sog tief etwas Luft in seine Lunge und schritt schnell mit zusammengedrückten Augen auf Vic zu. Es kam ihm fast vor als wäre er ein Ertrinkender und sie sein rettendes Land. Er wusste, wenn er sie fassen konnte, dann brauchte er sein Augenmerk nicht mehr auf das ihm verhasste Zimmer zu richten. Sanft legte er seine Arme um ihre Schultern und atmete aus. Sein Herz schlug aufgeregt und er versuchte keines der Möbel zu berühren, da er so wenig Kontakt wie möglich mit dem Zimmer haben wollte. Schon, dass seine Füße den weichen Teppich berührten, störte ihn. Er war nicht gern hier. "Schatz, was machst du schon wieder hier drin?", fragte er an und atmete den Geruch ihrer blonden Haare tief ein. Vic hatte den Kopf gesenkt und stieß mit den Fingerspitzen ganz leicht an den Rand der neben ihr stehenden Wiege, welche sacht zu schaukeln begann. Noch nie hatte in ihr ein Kind gelegen. Seufzend meinte Vic: "Ich stelle mir, wie es hätte sein können." "Connor meint, dass es womöglich besser wäre, wenn wir umziehen würden. Dann könntest du auf andere Gedanken kommen." Leif löste sie aus seiner Umarmung und sogleich wandte sich Vic zu ihm um. Sie hatte blutrote Tränen in ihren Augen und starrte ihn fassungslos an. Ihr Mund war zu einer Antwort geformt, aber heraus kam kein einziger Ton. Nur ein piepsiger, leiser Schrei wagte es, sich Gehör zu verschaffen. Nie hätte sie erwägen können auch nur an einen Umzug zu denken. Hier stand doch die Wiege, die für ihr Kind bestimmt gewesen war! "Aber was soll dann aus den ganzen Dingen werden?", stellte sie ihn zur Rede und war sich selbst über die Absurdheit ihrer Frage bewusst. Stillschweigend sah Leif sie bittend an und verstand schon ihren Schock über den Vorschlag. Doch er selbst litt ebenso darunter wie sie. Doch wollte er die Geschichte nicht mehr so intensiv vor Augen geführt bekommen, so wie sie in diesem Raum, der das Geschehen mitverfolgt hatte, widergespiegelt wurde. Gequält rang er sich ein Lächeln ab und wirkte beschämt durch ihre tränenverhangenen Augen. Victorias Hals krampfte sich augenblicklich zusammen und schwer begann sie zu schlucken. Sein Lächeln jagte ihr einen Stich durchs Herz und automatisch umfasste ihre Hand den Rand der Wiege und fühlte das warme, glatte Holz. Ihr Griff verfestigte sich und sie gebot dem Ding aus Holz ihr Halt zu gewähren, da ihre Beine sie nicht mehr tragen konnten. Kraftlos ließ sie sich zu Boden sinken und schluchzte hemmungslos. Mit ihrer anderen Hand verdeckte sie ihre Augen. Sie war so traurig. Leif konnte es kaum mit ansehen. Ihm war ebenfalls wieder zum Weinen zumute, aber er versuchte standhaft zu bleiben. Seine Tränen ließ er nach innen rollen, damit er der Starke war. Damit er derjenige war, der ihr Trost spenden konnte. Damit er derjenige war, der ihr helfen konnte. "Vic, ich glaube, wir sollten Connors Vorschlag in Betracht ziehen. Du machst dich vollkommen fertig mit deinen Schuldgefühlen und mich auch." Vic versuchte ihre Stimme wieder zu finden und anklagend brachte sie hervor: "Connor! Connor! Connor! Er redet als hätte er mein Baby verloren. Er spielt sich als Gott auf und du parierst ohne mit der Wimper zu zucken." "Vicky, du weißt, dass es richtig wäre.", gab er ruhig zurück und bemerkte, dass sich ein Kloß in seinem Hals gebildet hatte. Er schluckte nur noch ganz sacht, damit sie nicht merkte, dass er fast mit ihr weinte. "Was wäre, wenn es wäre?", meinte sie schlicht. Er hockte sich zu ihr herunter und sagte sanft: "Du wärst in Gesellschaft und könntest den Schock erst einmal richtig verdauen." Victoria schaute beklommen auf. Ihr verzweifelter Blick traf den seinen. Leif hatte Mühe seine Tränen zurückzuhalten, denn genau diesen Blick hatte sie gehabt als sie die Nachricht von der Todgeburt des Babys gehört hatte. "Leif, ich will mein Baby haben!", schluchzte sie und fiel ihm um den Hals. Sie weinte sogleich los und auch Leif konnte ein leises Wimmern nicht verhindern. "Ich doch auch. Glaub mir, bitte. ", beteuerte er ihr und eine heiße Blutträne rann über seine Wange und tropfte in Vics blondes Haar. Sie hinterließ eine leichten roten Film und während er schluckte, maß er diesem zarten Fleck soviel Bedeutung zu. Er sah ihn als Zeichen der Geburt, als Zeichen des Lebens und, leider, auch des Todes. Alles hatte er durch sein eines Kind schon erfahren müssen. In einer Zeitspanne von nicht mehr als einem Jahr. "Leif, wo haben sie ihn hingebracht?", wollte Vic weinend wissen. Diese Frage hatte sie ihm schon so oft gestellt, dass er bereits aufgehört hatte zu zählen. Und auch die Antwort darauf war immerzu dieselbe gewesen. "Ich weiß es nicht, Vic, ich weiß es nicht." Schweig still, schwarze Seele, dachte Leif in seinem Herzen, sage ihr kein böses Wort zu. Sie hat ein so reines Gemüt und ist es wert, dass man sie lieben muss. Ihre schlechten Dinge, die sie sagte, prallen an mir ab, wie der Regen vom Glas. Ich vergebe ihr. Sie kann nichts dafür. Sie hat, soviel durchlitten und hat so eine lange Zeit geschwiegen, dass es schon beinahe verspätet ist, dass sie ihren traurigen Neigungen nachgeht und diese mit ihrer Verzweiflung überzieht. Manchmal ist sie nicht so an mich gebunden und schickt mich aus dem Raum oder gar aus der Wohnung um zu weinen und um Vergebung zu betteln vor dem Gott, dem wir entsagten. Sie bittet um Vergebung für die scheußlichen Dinge, die ihrer Kehle entfliehen und schwört, dass sie sie nicht so wie gesagt gemeint hatte. Das arme Geschöpf! Und obwohl sie schwankt zwischen schwach und stark sind die weichen Knie, die ich in ihrer Gegenwart bekomme, noch immer dieselben. Ich bin noch immer verliebt in sie, die mich den sanften Weg lehrte und trotzdem beleidigend hart ist, wenn man sie genauer betrachtet. Mein schwarzes Herz ermaß sie als wunderbares Gegenstück zu meiner eigenen Litanei des Lebens. Ich genieße, wenn sie sich mir so nahe gibt und liebe es weggestoßen zu werden, wodurch ich ihrer noch mehr begehre. Ach du, mein Liebstes, mein dunkler Engel. Gib mir die Nacht, meine Seele zehrt von deiner Liebe im Lichte der dunkelsten Schatten. Während sie so nah beisammen saßen und ihr Leid beklagten, da schellte es an der Tür. Die beiden wollte zunächst den Besucher ignorieren und hatten vor, strikt auf ihrem Fleck sitzen zu bleiben und sich nicht anwesend zu stellen. Doch die Person schien nicht zu täuschen zu sein, denn sie begann in Sturm zu klingeln und wollte wohl schon den Knopf in die Wand einhämmern, so läutete es. Das ganze Zimmer schien zu echoen und widerwillig löste sich Leif von Victoria. Entnervt knurrend erhob er sich und schritt bestimmt auf die Wohnungstür zu. Von der eben noch überwältigenden Demut war nun kein Fetzen mehr übrig geblieben und kühl öffnete er die Tür. Ein junger Mann stand draußen. Seine Augen waren wie zwei glühende Fackeln, doch sein Blick selbst wie ein Speer härtesten Eises. Das Haar war rabenschwarz und kurz. Er war groß gewachsen; ein ganzes Stück größer als Leif. Einen schwarzen Rucksack trug er auf einer Schulter, welcher nicht besonders auffiel, da sein absichtlich überlegenes Lächeln einen widerwärtigen Blickpunkt bildete. Obwohl nun diese Gestalt nicht wirklich eine vertrauenswürdige Seele war, was nicht nur sein Aussehen verriet, betrachtete Leif dieses Wesen als einen Freund. "Du lässt dir zu viel Zeit, Leif. Mit deinen Kräften hättest du schneller sein müssen. Ich gehe somit davon aus, dass du nicht öffnen wolltest.", stellte der Mann fest und der herrische Blick, den er dabei aufsetzte, stach regelrecht vor Mordlust. "Was willst du?", fragte Leif und verengte seine Augen zu Schlitzen. Er wollte ihm nicht signalisieren, dass er ihn bestimmen konnte. Der Befragte lächelte ihm nun zu und wirkte erheitert: "Aber, aber! Darf ich denn nicht einmal bei euch vorbeikommen, ohne mich großartig anzumelden? Wir sind doch wie Brüder, du und ich." "Dein Kommen verheißt schlimme Dinge, Connor.", meinte Leif und trat dabei etwas nach draußen um die Tür zu schließen. Er wollte verhindern, dass Connor Vic schluchzen hörte. Er versuchte sein Tun mit größter Vorsicht zu begehen. Er durfte nicht hören, wie sie klagte. Leif befürchtete, dass Connor sonst wieder eine seiner Grausamkeiten an ihr auslassen würde, sehe er sie so angreifbar. Er musste sie schützen. Aber Connor hatte bereits seine Ohren auf die Geräusche innerhalb der Wohnung gespitzt und lauschte dem süßen Klang der weinenden Frau. Er kannte nur zu gut den Grund ihrer Traurigkeit und mochte nichts lieber als noch mehr in ihrer Wunde herumzustochern. Er kannte jedoch ein Limit: Wenn sie vollkommen außer sich geriet und anfing um Gnade zu betteln, dann ließ er ab von ihr, dann ließ er immer von ihr ab und betrachtete mit der Feinfühligkeit eines Künstlers seine Schöpfung. Leif nannte ihn wegen dieses furchtbaren Sinneszuges heimlich Sadist. Doch Connor wusste auch dieses. Es erfreute ihn regelrecht auf Leif einen solchen Effekt auszuüben, trotz der Tatsache, dass er ihn eigentlich mochte. Dieser Zorn, der zwischen ihnen lag, konnte sich nur als launenhafter Zeitvertreib rechtfertigen, welcher Connor eine langweilige Freundschaft ersparte und eine Beziehung voller Überraschungen und unerwarteter Wendungen bescherte. Und um dieses Ziel zu erreichen musste er seinen Freund an seiner empfindlichsten Stelle greifen, welche zweifellos Victoria war. "Sie flennt schon wieder, hab ich Recht?", fragte er grinsend und Leif hielt die Klinke fester in seiner Hand, wobei versuchte die Tür mit seinem Körper zu blockieren. Sein Blick hatte sich noch um einiges verfinstert und somit wusste Connor, dass er goldrichtig lag. "Ich habe etwas bei mir, dass sie sicherlich etwas aufmuntern wird.", er deutete auf seinen Rucksack und schelmisch verzog er seine Lippen. Vor lauter Vorfreude schlug ihm das Herz in der Brust wild wie eine Herde Antilopen. "Lass sie endlich zu frieden, Connor.", entgegnete Leif, "Sie hat genug durchgemacht, auch ohne dass du es ihr immer wieder ins Gesicht schmieren müsstest." "Dummes Gerede.", kicherte der andere und versuchte ihn beiseite zu schieben. Aber Leif dachte nicht im Entferntesten daran, ihn gewähren zu lassen und versperrte ihm den Weg. "Mein Freund, das bringt nichts.", meinte Connor überlegen. Er verharrte einige Sekunden regungslos vor ihm und stieß dann mit der Faust in die Magengrube seines Hindernisses. Leif krümmte sich sogleich und konnte ihn nicht mehr aufhalten in die Wohnung zu gehen. Nur der lastende Schmerz war in diesem Moment in seinem Hirn präsent. Er hörte das Blut in seinem Ohren tosen und musste sich ernsthaft bemühen normal zu atmen. Er taumelte ein-zwei Schritte und stützte sich mit der Schulter haltsuchend an den Türrahmen, wo er verblieb und wenige Augenblicke später nur eintönige Schwärze vor den Augen wahrnahm. Mehr war nicht mehr präsent. Währenddessen konnte Connor in aller Gelassenheit an ihm vorbei schlendern. Er kicherte amüsiert und schritt schnell in den Raum, wo das Objekt seiner Begierde auf ihn wartete. Sofort trat er nicht ein. Er verharrte kurz im Türrahmen und betrachtete die Weinende. Sie bemerkte ihn nicht, da sie ihr Gesicht in den Händen vergraben hatte und ihr Schluchzen andere Geräusche verstummen ließ. Connor war fasziniert. Das Gegenlicht, das zart durchs Fenster schien, ließ ihr Haar wie reinstes Gold erscheinen. Aber nicht wie das Gold eines einfachen Eherings. Nein, dies war das Gold, welches nur Engelslocken schmücken konnte, wie ein Lichtkranz, der als Heiligenschein um die Köpfe der Auserwählten prangte. Wie viel Anmut doch noch in ihrer Haltung geblieben war, obwohl sie doch so gepeinigt auf dem Boden saß. Connor konnte sich kaum satt sehen an dem lieblichen Geschöpf. Ihm war das schöne Bild schon fast perfekt, aber etwas fehlte ihm noch und dieses musste er selbst noch hinzufügen. Etwas, was er als Schock identifizierte. Das leidliche Bild brauchte dringend noch diesen speziellen Schock von einem Eingeweihten, wie ihm. Doch durfte der Schock nicht willkürlich zugefügt werden, sondern er bedurfte einer bestimmten Laufrichtung, um ihren Schmerz in die richtige Bahn zu lenken. Aber er durfte dabei auch nicht die Grenze überschreiten und ihr das Herz vollständig in Stücke zerschlagen. Schließlich wollte er sich noch eine Weile an ihr erfreuen. Was er vorhatte war riskant. Connor war sich selbst nicht sicher gewesen, ob er es wirklich tun wollte. Doch die Tat war so einfach zu bewerkstelligen gewesen, dass er es sich nicht nehmen ließ, seinen Plan bis hierhin an genau diesen Punkt zu treiben. In seinem Rucksack befand sich das Bindeglied, welches sie hart erwischen würde, vielleicht noch härter als alles zuvor gewesene. Aber die Neugier auf ihre Reaktion, ihren Ausbruch, ihren Blick, die Worte, die sie ausspeien würde - denn er war sich sicher, dass sie ihm danach am liebsten ins Gesicht kotzen würde -, aber vor allem die Entwicklung ihres Hasses ihm gegenüber reizten ihn die Tat zu begehen und sich erst zu einem viel, viel späteren Zeitpunkt Gedanken darüber zu machen. Connor wollte sich austesten und demonstrieren, wie grausam und behilflich er zugleich sein konnte, in einem von ihm geschaffenen Spiel. Die Vorstellung ein Gott zu sein, der hierbei die Fäden in der Hand hatte, war eine krankhafte Angewohnheit von ihm, aber er liebte und pflegte sie. Er schloss seine Betrachtung ab und begann sanft zu pfeifen. Die Melodie klang etwas vertraut und zugleich entfremdet. Etwas europäisch und zugleich exotisch. Vic schreckte von diesem unheilschwangerem Ton auf und blickte mit verweintem Gesicht in seine Augen. Sofort versuchte Victoria ihre Trauer zu eliminieren und wischte sich die Tränen aus den Augen. Er sollte sie nicht so ansehen. Connor ließ sein Lied verstummen und trat näher auf sie zu. Absichtlich blieb er unmittelbar vor ihr stehen und hockte sich zu ihr. "Hallo mein Liebchen. Wir haben uns seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen.", begann er im schmeichlerischen Ton, der sie zum Wegrutschen befähigte, um Abstand von ihm zu bekommen. "Unser letztes Treffen hatte ein wirklich elendes Ende. Das hat mich etwas mitgenommen, Vicky." Er pausierte und wartete auf eine Antwort, von der er wusste, dass sie nicht folgen würde. Aber sie so indirekt mit in das Gespräch einzubeziehen, war ihm eine kleine Höflichkeit. Nach einer kurzen Zeit ihres Schweigens fuhr er fort zu reden und begann dabei den Inhalt seines Rucksacks auszupacken: "Ich will mich nicht bis zur Unendlichkeit mit dir streiten, liebes Vickylein. Also möchte ich dir ein Versöhnungsgeschenk überreichen. Ein absolut persönliches Versöhnungsgeschenk." Er hob etwas schweres und großes aus dem Rucksack und stellte es vor Vic, welcher sich sogleich die Augen weiteten. Das Ding, welches er angeschleppt hatte, war ein Präparatgefäß. Es war mit einer gelbliches wirkenden Flüssigkeit gefüllt und hatte die Form eines Zylinders. Und darinnen befand sich eine Art menschliches Wesen. Es hatte zwei Augenhöhlen, aber keine Augen waren darin. Es hatte normale Hände, aber die Finger daran waren an jeder Hand verwachsen und hatten anstatt halbrunden Nägeln regelrechte Krallen. Seine Füße waren verdreht und die Zehen schrecklich verkrüppelt. Am schönsten anzusehen war der Rumpf, welcher vollendet und normal war; sogar ein Rest der Nabelschnur war noch am Bauchnabel. Das Gesicht allerdings hatte nichts von dieser Schönheit des Rumpfes. Schmerzlich verzerrt starrte es bewegungslos zu seinen Betrachtern. Der geöffnete Mund, der einen stummen Schrei auszustoßen schien, besaß merkwürdig trockene Lippen, welche auf ihre Art zart geschwungen und hinreißend waren. Die kleine Nase darüber erinnerte Vic, welche voller Entsetzen auf dieses Ding starrte, ein wenig an die von Leif. Es war ihr unbegreiflich, wie dieses Monster, das zugleich doch ein Mensch zu sein schien, sie so sehr an ihren Mann erinnerte. Es war ein scheußlicher Anblick, doch sie fühlte sich von ihm angezogen; war fasziniert und angewidert; und dennoch peinlich berührt. Ihr Herz schlug nervös in der Brust und ihr wurde heiß. Ihr glich der Raum plötzlich wie eine Sauna und sie war fast soweit gewesen die Fenster aufzureißen und etwas von der kühlen Luft einzuatmen, welche draußen herrschte. "Es war nicht einfach daran zu kommen, kann ich dir sagen.", begann Connor und beobachtete gespannt die Auswirkung seines Präsents. "Was … Was ist das für ein Wesen?", stotterte Vic perplex und warf Connor einen kurzen Blick zu, bevor sie wieder das Ding betrachtete. "Erkennst du es etwa nicht?", er sprach es mit einer höhnischen Betonung aus, dass sie ihn abrupt wieder ansah und die Brauen senkte; doch er fuhr gelassen fort, "Das da, meine Süße, ist dein eigen Fleisch und Blut in Glas gefasst." Victoria presste sich die Hände auf den Mund und unterdrückte ihren Schrei, der ihr entfliehen wollte. Sie schaute abwechselnd von dem Ding zu Connor, bis sie nach einigem Hin und Her bei Connor verharrte und ihn entsetzt und mit geweiteten Augen anstarrte. Sie glaubte sich verhört zu haben. Etwas derart Scheußliches konnte unmöglich aus ihrem Bauch gekommen sein oder überhaupt darin herangewachsen sein. Es war zu grotesk! Es war ein Monster, welcher in dem Glas vor ihr in seiner ekligen Brühe schwamm und ihr entgegen zu schreien schien. "Warum so aufgebracht? Es ist dein Kind, Schnecke, gar kein Zweifel. Ich habe mich umgehört und vor allem - das ist ein kleines Insidergeheimnis - habe ich das Ding gesehen kurz nach seiner Geburt. Das Faszinierendste dabei war, dass es kurz nach der Geburt echt gelebt hat. Endgeil!", frönte Connor und warf begeistert den Kopf in den Nacken. Vic war vor Schreck wie erstarrt. Plötzlich erklangen Schritte vom Flur her und Leif betrat geschwind das Zimmer. Der Schlag von Connor hatte ihn doch härter erwischt als er es erwartet hätte, denn er konnte sich minutenlang nicht rühren. Nun stand er im Türrahmen und war sich nicht sicher, wie er das Bild vor sich deuten sollte. Vic schien paralysiert und hielt sich die Hand vor den Mund; Connor saß ihr gegenüber und grinste vor sich hin und zwischen ihnen stand das Präparat. Leif sah ein paar Sekunden auf den Zylinder mit der gelben Flüssigkeit und realisierte schnell den gräulichen Inhalt. "Oh Gott!", stieß er hervor und lief zu Vic. Sobald er sie erreicht hatte und sich zu ihr runtergebeugt hatte, klammerte sie sich hilfesuchend an ihn und schluchzte heftig. Er strich ihr übers Haar und warf dabei Connor einen giftigen Blick zu, den dieser lächelnd entgegennahm. "Vorsichtig weinen, Vic. Du machst deinem Mann ein paar nette Blutflecken aufs T-Shirt.", sagte Connor lachend. Er spielte mit seiner Hand an der Naht seiner Jeans und machte ein schabendes Geräusch dabei. Er war sehr erheitert über den Zorn und die Wut und vor allem über die Missgunst, die er säte. Er war stolz auf seinen einschlagenden Erfolg. Ganz zu schweigen von dem Glücksgefühl in seiner Magengegend, dass er es gewagt hatte. Leif stierte ihn an. Sein Inneres grölte und donnerte unaufhörlich, bei jeder Sekunde, die er ihn und sein Lachen ertragen musste. Dass er Victoria durchs Haar fuhr, nahm er nur nichtig zur Kenntnis. Er hätte diesem Schwein an den Hals springen können! Aber die Neugier nach dem Präparat dämpfte entschieden seinen Hass. Er besah sich dies Ding, was da vor ihm war und er konnte kaum fassen, dass er es wiedererkannte. Er hätte nie erwartet, es noch einmal so nahe vor Augen zu haben. Es war sein Kind. Sein Sohn. Er hatte ihn noch einmal auf dem Arm gehabt bevor ihn die Ärzte weggenommen hatte; zu diesem Zeitpunkt war das Kind allerdings schon tot gewesen. Leif konnte sich jedoch nicht erinnern, dass er etwas unterschrieben hatte, wo er sich dazu bereit erklärt hätte, dass man sein Kind in ein Glas steckt und zur Schau stellt. Aber er wusste, dass ihn die Todesnachricht dermaßen aus der Bahn geworfen hatte, dass er nicht einmal mehr wusste, wie viele Formulare er an jenem Tag noch unterzeichnet hatte, geschweige denn deren Zweck zwei Minuten behalten hatte. Es verlief wie in einem Traum, wo alles was man weiß nichtig ist. Klar war am Ende nur, dass es aus war mit dem jungen Leben und dass alle Formalitäten erledigt waren. Nicht etwa, um den für sie bestimmten Sinn erfüllen zu können, sondern um erledigt zu sein. Leif hatte es damals schnell hinter sich bringen wollen, ohne seine Gedanken über kurz oder lang darum kreisen zu lassen. Und nach einer geraumen Zeit, das merkte er jetzt erst, war er aus diesem monotonen Traum erwacht und stellte sich seiner Aufgabe, Victoria auch wieder zu erwecken. So musste es gewesen sein, vermutete er und sah in das augenlose Gesicht seines entstellten, toten Sohns. In diesem Zustand hatte er ihn zum ersten Mal gesehen, nur war da noch der kleine Körper mit Blut verschmiert gewesen. Ja, Blut; die Kraft des Lebens; die Nahrung des Lebens. Ein Vampir konnte ohne diese Gabe des Herrn nicht sein. Er benötigt es. Leif floss das Wasser im Maul zusammen, wenn er an das blutverschmierte Paket dachte, das ihm die Schwester damals für ein paar Sekunden in den Arm gelegt hatte, weil er sie dazu gedrängt hatte, denn die Dame wollte ihm den scheußliche Anblick ersparen. Damals hatte ihn das Blut angeekelt, nun aber fand er es regelrecht appetitlich. Leif war nicht mehr wie damals. Er hatte sich seitdem gewandelt. War stark geworden und gefährlich. Ein Wesen des Übernatürlichen. Es war ein Vampir. Kapitel 2: Ich wünsche dir Zeit ------------------------------- "Bei deiner Miene, müsste man glauben, dass du Detektiv bist. Du glotzt auf das Viech als ob du's das erste Mal siehst.", stellte Connor fest und machte ein leicht gelangweiltes Gesicht. "Stell es weg.", wisperte Victoria in Leifs T-Shirt. Sie war kaum zu verstehen, aber Leif hatte ihr aufmerksam gelauscht und erhob sich. Er ging zu einem der Schränke im Kinderzimmer und holte, trotz seines Ekels vor dem Raum, eine Decke heraus, mit welcher er sorgfältig das Kind bedeckte. Er fand, dass etwas anderes zu nehmen den Wert des kleinen Wesens mindern würde und so passte es wenigstens: ein Baby eingehüllt in eine Decke. Als er kontrolliert hatte, ob das Gefäß komplett verdeckt war, setzte er sich wieder neben Vic und versicherte ihr, dass sie es jetzt nicht mehr erblicken würde. Vic zögerte ein wenig, doch fasste sie Vertrauen und sah auf die Decke, die es verhüllte. Ein dünnes Lächeln erschien in ihrem verweinten Gesicht und sie meinte mit gedämpfter Stimme: "Die Decke hast du ausgesucht. Schön, dass du die genommen hast. Du fandest die Äpfel darauf so witzig." Leif war sich nicht bewusst darüber gewesen, welche Decke er aus dem Schrank genommen hatte. Er realisierte erst jetzt, wo sie es gesagt hatte, dass es die mit den Äpfeln war. Er erinnerte sich, es war ein heißer Tag im Sommer des letzten Jahres gewesen, als sie zusammen schon angefangen hatten Sachen für ihr Baby zu besorgen und an genau dem Tag hatte er sich fast schlapp gelacht als er in dem Kinderfachgeschäft die Äpfel auf dieser Decke gesehen hatte, welche mit ihren blöden Gesichtern Lieder zu singen schienen. Das Singen wurde durch den Text über den skurrilen Äpfeln ausgedrückt. Es war der Anfang von "Greensleeves". Leif biss sich auf die Unterlippe und versuchte die Erinnerung zu unterdrücken, denn sie rührte ihn zu Tränen. "Also Leute!", stöhnte Connor und verdreht genervt die Augen, "Gewöhnt euch mal an die Tatsache, dass das kleine Monster zu entstellt war, um zu leben. Ist es denn wirklich so schwer zu begreifen? Nein! Da ist man so nett und zerrt euch unter Schweiße des Angesichts aus der Hölle der sterblichen Menschlichkeit und bekommt nicht einmal ein Danke zu hören. Wenn ich euch mal darauf hinweisen dürfte, dass ihr die Ewigkeit vor euch habt! Ihr könnt eine so lange Zeit doch unmöglich mit Heulen und Vergangenheitsfloskeln verbringen. Ich habe zwar schon so manche Heulsusen unter meine Fittiche genommen, aber ihr überspannt meinen Geduldsfaden! Fangt endlich neu an! Packt eure sieben Sachen und macht, dass ihr hier rauskommt!" Es war nicht das erste mal, dass er solch eine Feststellung verlauten ließ. Die beiden Angesprochenen wussten, dass er recht hatte. Leif wäre seinem Freund wahrscheinlich schon längst gefolgt und hätte ein neues Leben begonnen, die Nacht lieben gelernt und den Tag verwünscht für seine Dauer. Aber wegen Vic, die immer noch an allem hing, was in diesen vier Wänden herumstand, blieb er. Seine Neigungen und seine Gefühle waren hierbei, wie zwei sich abstoßende Magneten, jedoch war auch seine Liebe, seine Leidenschaft eine dieser Neigungen, nur aber keine, die sich mit jener Neigung, das alte Leben hinter sich zu lassen, einig wurde. Es konnte nur zur Harmonie kommen, wenn Vic mit ihm kam. Solange würde er verweilen und sich in Warten flüchten. Connor rutschte näher zu ihnen hin. Stöhnend hatte er sich dazu bewogen und trotz seines Unmutes wollte er seinen menschlich-mitfühlenden Zug nun Wirkung zeigen lassen. So gern er auch dem Jammer von Victoria frönte, es war ihm lästig sich stets und ständig ein solches Theater anzutun, wenn er auf seine etwas derbe Art dieses Thema zur Sprache brachte. Leif hielt sie noch immer fest im Arm und sah zu dem sich nähernden Connor. Er stutzte und war sich nicht sicher, was er davon halten sollte. Der andere kam mit einer sehr ernsten Miene auf ihn zu. Als er direkt vor ihm war, gab er ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er sie loslassen sollte. Leif zögerte. Er hatte Connors Gesicht noch nie mit einem so entschlossenen Ausdruck erlebt.. Es war ihm gänzlich neu und er betrachtete den für ihn neuen Zug des Freundes mit alles Verwunderung. Victoria nahm die Männer nicht zur Kenntnis und verloren in ihren Gedanken schmiegte sie sich an ihren Mann und hielt den Blick stumm auf das verdeckte Ding gerichtet. "Leif, verzieh sich mal für 'ne Minute.", sagte Connor als Leif noch immer nicht von ihr abließ. Leif verfinsterte seinen Blick und funkelte dem anderen böse entgegen: "Wieso sollte ich?" Beschwichtigen hob Connor die Hände und meinte so erst er konnte: "Ich will mit Vic unter vier Augen reden." "Ich lasse dich nicht mit ihr allein.", meinte er stur. "Ich werde ihr nichts tun. Ist geschworen.", entgegnete Connor, "Ich will nur kurz mit ihr allein reden, ohne dass sie sich an dich hängt und einfach abschaltet so wie jetzt." Leif blickte auf Vic. Sie schien tatsächlich nicht anwesend zu sein. Er wollte nicht, dass ihr etwas geschieht. Noch einmal schaute er in das ernste Gesicht seines Gegenübers und dann wieder zu seiner Frau. Vielleicht meinte es Connor wirklich ehrlich und wollte wirklich nur mit ihr reden. Vielleicht aber auch nicht. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte. "Komm schon, Leif, vertrau mir.", bat sein Gegenüber und hob fordernd die Brauen. Leif nickte flüchtig, stieß Victoria von sich und verließ stumm das Zimmer. Er konnte sich selbst nicht erklären, was ihn zu dieser Entscheidung bewogen hatte, aber zwischen zwei Stühlen zu sitzen ist kein Vergnügen und er wollte etwas Frieden genießen. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, ging er in die Küche und setzte sich dort auf einen der Barhocker. Auf dem Küchentisch lag eine Schachtel Zigaretten, welche er sich griff und sogleich eine Anzündete und begann sie zu rauchen. Vic mochte es nicht, wenn er rauchte. Sie vertrug den Qualm nicht, da er sie dazu brachte unkontrolliert zu husten. Somit konnte er es nur machen, wenn sie nicht in der Nähe war. Gewöhnlich rauchte er deswegen auch nicht besonders häufig, vielleicht eine, maximal zwei. Als er den Rauch in die Luft blies und zusah wie er sich wieder zerstreute, schweifte sein Blick zu dem sich gegenüberliegenden Fenster. Leif bemerkte erst zu dieser späten Nachmittagsstunde, was es doch eigentlich für ein schöner Tag war. Der Himmel war so herrlich blau und tief, dass man in ihn hätte hineinspringen können. Wie lange er schon den Himmel nicht mehr bewundert hatte, war ihm erst jetzt klar geworden. Er hatte es das letzte mal im vergangenen Sommer getan. Wie schnell doch die Zeit vergehen konnte und sich gleichgefällig aus der Affäre stahl. Vom Winter hatte er kaum noch Erinnerung, vom Anfang des Frühlings ganz zu schweigen. Ihm fiel nur die Zeit richtig ein, wo er den Krankenwagen rufen musste, da Vic über Nacht Schmerzen bekommen hatte. Es waren keine Wehe gewesen, wie sie meinte, es waren merkwürdige Schmerzen in ihrem Bauch. Aber diese körperlichen Qualen waren nichts im Vergleich zu dem, was sich danach einstellte. Vic hatte geflucht, geschrien, geweint; sie war vollkommen außer sich gewesen, geradezu hysterisch. Er fand es schrecklich. Die Erinnerung an diese Zeit konnte er nur schlecht wieder vor Augen bekommen. Womöglich verdrängte er sie. Er war sich nicht sicher. Ein Psychologe hätte das wahrscheinlich schnell analysieren können, aber so war es nur eine rätselhafte Tatsache, die er sich selbst erklären musste. Nach dem Ereignis im Krankenhaus, das konnte er sich noch ins Gedächtnis rufen, trat Connor Snow aktiv auf den Plan. Leif hatte ihn in einer Bar kennen gelernt, was noch während der Zeit war, als er glaubte, die Schwangerschaft verliefe normal. Sie hatten sich auf Anhieb gut verstanden und die Chemie stimmte in allen Ecken. Connor redete nur wenig über sich, aber die Sachen, die er Leif verraten hatte, klangen bitter in seinen Ohren wieder. Es begann damit, dass Leif anfing von seiner Frau Victoria zu berichten, die ihr erstes Kind erwartete und das schon feststand, dass es ein Junge werden würde. Daraufhin wollte Leif wiederum erfahren, ob auch Connor eine Beziehung habe. Dieser wurde gleich ein wenig beklommen und zögerte erst, bevor er sich wagte von seiner Geliebten zu erzählen. Den genauen Wortlaut hatte Leif noch genau im Gedächtnis: "Mein Freundin ist - leider Gottes - psychisch etwas wacklig. Sie stellt sich meist so, dass man glauben könnte, dass sie mich von ganzem Herzen hasst und meint immer, ich solle mich verpissen oder dass ich sie mal kreuzweise kann und solche Sachen. Aber nur tagsüber ist sie so zu mir. Sobald die Nacht hereinbricht, ändert sie sich prompt und will nicht mehr allein sein. Das klingt jetzt wahrscheinlich etwas eigenartig, aber ich liebe sie genau wegen dieses Zuges mich wegzustoßen und wieder zurückzuwollen. Wir passen dadurch aber auch perfekt zusammen, denn ich habe auch solche Macken an mir, die ein normaler Mensch wohl als abscheulich und widerwärtig bezeichnen würde." Nie hätte Leif damals ahnen können, dass er sich mit einem Vampir unterhalten hatte. Aber wenn er so über die Szenerie nachdachte, fielen ihm die verschiedenen Anzeichen, das es so war, beinahe schon peinlich auffällig auf. Einmal war zu bemerken, dass Leif mehrmals sein Glas vom Barkeeper hatte nachfüllen lassen und Connor hingegen den ganzen Abend nur eines vor sich stehen hatte, von dem er nicht einen Tropfen trank. Und dann noch seine roten Augen, die ihm zwar damals aufgefallen waren, ihn aber dennoch kalt gelassen hatten. Nicht zu vergessen war seine blasse Haut trotz der Hitze und seine langen Fingernägel. Zu vieles war offensichtlich gewesen, aber man hatte einfach keinen Gedanken an die Geschichten, Filme und Comics verschwenden wollen und vor allem hätte es nicht die wachsende Freundschaft aufhalten können. Leif war sich sicher, dass Connor sein Freund war. Nachdem Vic eingeliefert wurden war, war die erste Nummer die Leif am Münztelefon wählte die von Connor gewesen. Er hatte mit ihm die endlos erscheinende Wartezeit verbracht und hatte sich in den Kreissaal geschlichen, um ihn über den Stand der dort passierenden Dinge zu unterrichten. Nach Connor hatte das Baby sogar ein paar Minuten gelebt, was Vic fast wahnsinnig machte vor Schuldgefühlen. Und in der Nacht desselben Tages offenbarte sich Connor als das, was er war; ein Vampir. Er hatte es sehr mitfühlend gemacht und war nicht mit der Tür ins Haus gefallen. Er und Leif saßen beisammen in genau dieser Küche, in welcher er jetzt saß und Leif berichtete von den Dingen, welche Vic gesagt hatte, dass sie lieber sterben wollte als mit dieser Schuld zu leben. Er fügte auch noch hinzu, dass er sich selbst umbringen würde, wenn sie stürbe. Und genau diesen Punkt schnitt Connor an: "Wenn es dir so wichtig ist sie nicht zu verlieren, dann frage ich dich, ob es dir gleichgültig ist, in welcher Form ihr zusammen sein könnt." "Wie meinst du das?", hatte er damals blauäugig gefragt und wusste nun besser, dass diese Frage wohl in allen Streifen über Vampire einmal auftauchte und es absolut naiv von ihm war noch so blöd zu fragen. "Ich meine, dass ich euch die Chance für einen Neuanfang biete, die euch ein wenig von der restlichen Bevölkerung abheben wird." "Ich denke nicht daran, mich in Drogen zu flüchten, damit das klar ist!", hatte er noch sicherstellen wollen, obwohl seine jetzige Nahrungsquelle wohl gut und gern als Droge für Serienkiller gewährtet werden konnte. "Nicht doch! Was ich dir gebe, kostet erstmal nichts und macht trotzdem glücklich ohne einen schlechten Nachgeschmack zu hinterlassen." "Und was willst du dafür?", er war zwar noch nicht bereit gewesen, wollte aber dennoch das Angebot hören. Das war so ähnlich wie bei einer Auktion, wo man erst alle groben Angaben über das Objekt und dessen Startpreis gesagt bekommt und dann erst mit dem Bieten beginnt, wenn es einen dann interessiert. "Ewige Freundschaft würde schon reichen.", hatte er lachend gesagt und Leif lachte mit, da es ein sehr bescheidener Preis für einen Neuanfang war. Doch das Wort "ewig" hätte ihm schon deutlich bedeutungsschwangerer erscheinen müssen, denn normalerweise hätte man nur von Freundschaft gesprochen, nicht gleich von einer ewigen. Aber er war einfach nur leichtgläubig gewesen; einfach zu unerfahren als das er hätte auch nur erahnen können, was er da für ein Angebot bekam. Lange hatte er nicht überlegt und zugestimmt und dann war es auch schon besiegelt gewesen, sein Schicksal, welches sich nun nicht mehr ändern ließ. Ein paar Tage hatte er einfach so neben Vic her gelebt, ohne dass sie etwas von seiner Veränderung bemerkt hätte. Aber ihre Wahrnehmung war sowieso völlig eingefroren von ihrer Trauer als dass sie irgendetwas hätte bemerken können. Und als sie auf der Fensterbank saß und verloren in den Tag schaute, da wollte er sie eigentlich küssen und ein wenig liebkosen. Er hatte ihren Hals geküsst und spürte dabei wie ihr Blut durch die Adern floss und ein unbeschreiblicher Hunger sich in ihm aufbaute. Es war zu spät gewesen, um sich diesem animalischen Gefühl zu entziehen und so geschah es, dass er Victoria mit jenem besonderen Kuss beglückte, der aus ihr eine seinesgleichen machte. Sie war wenig beeindruckt von ihrem neuen Dasein. Die Gedanken in ihrem Kopf waren gleich geblieben und hatten nur ihren Blickpunkt verändert. Trotz allem hatte sie Leif deswegen niemals einen Vorwurf gemacht, was ihm bestätigte, dass sie ihm auch ein wenig dankbar war. Auf ihn machte sie den Anschein als ob sie sich entschloss ein neues Leben zu beginnen, dass sie aber im Augenblick noch nicht bereit dazu war. Somit hatte er sich entschieden auf sie zu warten und dann wirklich neu irgendwo anders beginnen zu können. Kapitel 3: Stille Tränen ------------------------ Victoria sah mit einem entsetzten Blick zu, wie Leif sie etwas unsanft von sich stieß und stumm das Zimmer verließ. Ihr war es zu plötzlich passiert und ängstlich wurde ihr zumute als er dann auch noch die Tür hinter sich verschloss. Mit geweiteten Augen sah sie zu Connor, welcher in aller Gelassenheit dasaß und mit der Zunge über seine Unterlippe fuhr. Die Blonde hatte nur noch den Wunsch sich einfach in Luft aufzulösen. Ihr war es nicht geheuer mit diesem Kerl allein in einem Zimmer zu sein. Besonders nicht, nachdem er ihr sein kleines "Präsent" dargebracht hatte. Vics Puls raste und sie fühlte sich wie festgeschnallt. Nicht fähig auch nur einen Muskel bewegen zu können starrte sie ihn an. Der Vampir jedoch verblieb in seiner Ruhe und machte zunächst nicht den Anschein etwas zu sagen. Ihm war es wichtig, nichts Falsches zu sagen, denn er spürte ihre Angst und diese noch zu schüren, wäre ein unnötiges Tun gewesen, das sich auf eine zwar etwas mühevolle, jedoch auch mitfühlende Weise verhindern ließ. Sein Blick war neutral. Seine Hände kratzten über die Seitennaht seiner Jeans. Etwas nervös wirkte er, obwohl er doch eigentlich recht entspannt war. Dann nach einiger Zeit des Schweigens, räusperte sich Connor und sagte: "Erwarte jetzt bloß kein Trostgebet von mir. Ich bin schon vollkommen genervt von der Show, die du mit ihm die ganze Zeit abziehst." Vic schluckte abrupt und ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie war erschrocken von seinen Worten. "Du brauchst gar nicht so zu tun!", meinte er und seufzte, "Du bist überhaupt nicht so zartbesaitet, wie du es ihm glauben machen willst und mich stellst du in deinem Spielchen als den Unhold hin. Wie krank muss man eigentlich sein, um so einen Müll mit dem Mann, den man liebt, abzuziehen?!" "Du weißt nicht, wovon du redest.", gab Vic nach kurzem Zögern zurück, was Connor ein Lächeln ins Gesicht brachte. Es freute ihn, dass sie wenigstens mit ihm redete. "Wie lange soll das Schauspiel noch gehen, Vicky? Wochen? Monate? Jahre, etwa? Willst du ihn vollkommen zerstören mit deinem trostlosen Getue und den Heulkrämpfen? Es kommt mir allmählich so vor." Er pausierte und beobachtete wie sie ihr Gesicht in alle möglichen Richtungen abwandte, nur um den seinen zu entrinnen. Er war sich fast sicher, dass er ihren schwachen Punkt getroffen hatte. "Ist dir schon mal in den Sinn gekommen, dass das nicht nur dein Kind war, sondern auch seines?" "Seines oder meines, ist doch egal. Unser Kind ist tot. Kein Weg es zurück zu bekommen und kein Weg es zu vergessen. Ist es so schwer zu verstehen, dass ich dieses Baby haben wollte?!" Den letzten Satz schrie so fast heraus und presste sofort eine Hand vors Gesicht als sie ihn ausgesprochen hatte. Sie schluchzte auf und zitterte unentwegt dabei. Connor kam zu ihr und umschlang sie mit seinen Armen. Er legte sein Kinn auf ihre Schulter. "Hör auf zu heulen, du hast eben selbst gesagt, dass es keinen Weg gibt alles ungeschehen zu machen.", er sagte es in einem sehr feinfühligen Tonfall, sodass Victoria schon fast überrascht war, dass er aus seinem Munde kam. "Pass auf, Vic", begann er dann und sie sah ihm in die Augen, "Ich will dir nicht wirklich etwas Böses antun oder meinem Kumpel eins Auswischen, ich will nur, das ihr mit dieser Sache endlich abschließt und wirklich eine neue Existenz aufbaut. Das funktioniert jedoch nur, wenn du endlich damit abschließt." "Alles vergessen, meinst du das?" "Ja. Das ist der einzige Weg." "Und warum dann die Sache mit dem Umzug?" "Weil das die einzige Möglichkeit ist, dass ihr Abstand von euren Erinnerungen bekommt." "Hast du schon mal ein Baby verloren?" "Nein. Das gebe ich sogar ohne Scheu zu." "Dann weißt du auch nicht, wie es ist einen Tritt in sich zu spüren oder zu bemerkten wie es in einem heranwächst. Du würdest anders denken, hättest du es erlebt." "Da hast du wahrscheinlich recht. Aber auch ich habe mein Päckchen zu tragen und das wiegt auch unglaublich schwer auf meinen Schultern. Also müsstest du doch nachvollziehen können, dass Zerstreuung das einzige Gut für unsere Verzweiflung ist." "Vielleicht." "Nein! Nicht vielleicht. Mit Sicherheit ist es so." Connors Hingabe zu diesem Thema beeindruckte Vic. Sie konnte in seinen Augen eine Ehrlichkeit entdecken, die ihr bis dahin noch nie an ihm aufgefallen war. Ihr Innerstes kam ihr leer vor. Die Trauer war einer Unbehaglichkeit gewichen, die sie verwirrte. Sie stand vom Boden auf und schlich zu dem verdeckten Ding, welches ihr vor wenigen Augenblicken fast das Herz zum Stillstand gebracht hatte. Connor sah ihr interessiert zu, wie sie sich davor wieder setzte und es mit einem faszinierten Blick betrachtete. Vorsichtig legte sie die Hände darauf und fühlte die Weichheit der Decke. Victoria hätte sich gewünscht, ein Gefühl in sich zu spüren, aber da war nichts in ihr, was ihre Gefühle hätte beschreiben können. Ihr Herzschlag war normal und kam ihr zu ruhig vor; viel zu gelassen und doch vermischt mit der Gewissheit, dass alles in bester Ordnung war. Sie atmete ein und presste die Lippen fest aufeinander. Ihre Finger packten die Decke und zogen diese sanft von dem Präparat. Sie enthüllte ihr Kind und behielt den merkwürdigen Blick bei. "Was siehst du?", fragte Connor, woraufhin sie mit den Schultern zuckte und mit den Fingern das Glas befühlte. Es sah aus, als ob sie zum ersten mal Glas vor sich hatte und es nun, verwundert über dessen besondere Glätte, anfassen musste. "Du benimmst dich, wie ein ungebildetes Kind.", bemerkte der Vampir ein wenig abwertend und verdrehte die Augen. Ohne den Kopf von dem toten Baby abzuwenden entgegnete Vic: "Findest du es auch in einem bestimmten Maße reizend?" "Ob ich es was?", es war für ihn einfacher eine Gegenfrage zu stellen als ihr ehrlich zu antworten. "Du musst es reizend finden.", sprach sie und sah ihn lächelnd an. Connor war fast schon ein bisschen erschrocken über ihren Gesichtsausdruck. Seit Wochen hatte sie nicht mehr gelächelt und es nun als Erster miterleben zu können, war für ihn schon zu viel der Ehre. "Wie kommst du darauf?", stotterte er unsicher, weil er wusste, dass sie recht hatte. Aber nie hatte er diesbezüglich eine Andeutung gemacht. Es gab nur eine einzige logische Erklärung für ihr Wissen; Victoria konnte Gedanken lesen! "Komm und gib es zu!", forderte sie ihn auf und drehte den Kopf wieder zurück. "Seit wann kannst du es?", fragte Connor frei heraus. "Seit mich Leif verwandelt hat.", gab sie schlicht zurück. "So lange schon!?", kam es ihm fassungslos über die Lippen, "Wie konntest du das nur für dich behalten?" "Ich fand es nicht wichtig.", meinte sie trocken. "Wie kannst du das als unwichtig empfinden? Hast du etwa die ganze Zeit über Leifs Gedanken gelesen?" Er kam zu ihr. "Was soll die Frage? Glaubst du wirklich, dass ich meine Kräfte so ausnutze? Ich habe nie seine Gedanken gelesen, nur die von anderen Leuten. Und dann auch nur aus Jux." Connor seufzte und versuchte wieder zum eigentlichen Thema der Unterhaltung zu kommen. "Was ist nun mit dem neuen Lebensabschnitt? Dich scheint der Anblick deiner Ausgeburt ja nun nicht mehr zu schocken." "Mich hat er nicht so sehr geschockt, wie er dich geschockt hat. Du erinnerst dich ja noch recht gut an den Tag im Krankenhaus." Connor lächelte amüsiert: "Du Biest!" "Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich hier weg will." "Nimm meinen Rat an Vic: Mach es! Ansonsten brichst du uns wieder zusammen." Sie sah ihm in die Augen. "Du würdest schon dafür sorgen, nicht wahr?" "Immer." "Gib uns noch zwei oder drei Wochen.", bat sie schließlich und klang entschlossen das Angebot anzunehmen, mit dem er sie plagte. Connor erhob sich erfreut. Ein Grinsen trat in sein Gesicht und er sagte während er nach der Türklinke griff: "Dann kannst du ja Leif endlich mal ein bisschen was über dich erzählen. Der wird bestimmt erfreut darüber sein, dass deine Nerven sich wieder erholt haben." Er ging und ließ sie allein. Connor hatte es nicht für nötig gehalten sich zu verabschieden. Er war weder noch einmal zu Leif gegangen, noch hatte er die Haustür hinter sich geschlossen. Er fühlte, dass seine Mission vollendet war und er ganze Arbeit geleistet hatte. Vic enthielt sich noch eine Weile ihrer Anwesenheit und saß schweigend im Kinderzimmer, unsicher ob sie zu Leif gehen sollte oder warten sollte bis er zu ihr käme. Die Zeit schien für sie im Stillstand zu sein. Sie bemerkte kaum die Minuten an sie vorüberziehen, welche sie ohne einen Gedanken verbrachte. Doch dann nach einer Weile war es ihr zu still und zu schweigsam geworden, sodass ihr die Stille in den Ohren dröhnte. Sie begab sich auf leisen Sohlen zu ihrem Leif, welcher noch immer in der Küche saß und den nun dunkelblauen Himmel betrachtete. Kapitel 4: Das Geben und Nehmen ------------------------------- Man erinnere sich an Regen. Die einmalige Erscheinung der in sich verworrenen Wolkenfetzen, die in einem schmutzigen Grau auf die Erde weinen. Unbedeutende Schauer und grandiose Gewitter. Kaum noch Licht, aber dafür nasse Wege. Es ist ein zu schönes Schauspiel, als dass man es nicht sollte genießen. Dieser Tag war ein Regentag. Die Wohnung stand voll mit braunen Pappkartons. Kaum ein Schrank stand mehr herum. Die Wände waren kahl und begannen immer mehr zu schallen je mehr aus ihrem Innenraum entfernt wurde. Es wirkte so karg und trostlos. Victoria wickelte die letzten Gläser, die noch auf dem Küchentisch standen, in Zeitungspapier ein. Es war ihr etwas komisch bei dem Gedanken alles hinter sich zu lassen und in eine neue Welt einzutreten, die ihr bis dahin vollkommen unbekannt gewesen war. Sie würde in das skurrile und ominöse Leben der Vampire, ihrer Artgenossen, eintreten. Sie fühlte sich, wie kurz vor dem Eintritt in eine neue Schulklasse. Es absolut neues Erwachen würde es werden; neu und unwahrscheinlich beängstigend. Während sie ein Glas mit Zeitung füllte streifte ihr Blick gedankenverloren durch die Küche, die noch als einziger Raum mit dem Bad noch Mobiliar hatte. Es war kaum noch eine persönliche Note von den Einwohnern, welche sie und Leif waren, übrig geblieben. Alles war sauber und in genau dem Zustand, wie vor ihrem Einzug. Außer dem Ding aus Glas, welches vorerst auf den Küchenschrank gestellt worden war. Sie hatte es behalten. Schließlich war trotz seines Zustandes ihr Baby. Und sie hatte auch vor ein weiterhin zu behalten, als gute und schlechte Erinnerung. Victoria hatte ihren Sohn in eine Position gedreht, dass sie ihn direkt ansehen konnte. Ihr war selbst unerklärlich, wie sie es fertig brachte dieses Wesen fast zu vergöttern. Sie schob es auf ihren Mutterinstinkt. Sie schaute lächelnd zu ihm hinüber und schickte ihm sogar einen Kuss zu. Ja, sie war wieder glücklich. An der Haustür rüttelte jemand an der Klinke und hatte offensichtlich Schwierigkeiten den Schlüssel im Schloss umzudrehen. Vic lauschte dem Geräusch, aber machte fuhr mit ihrem Verpacken unvermindert fort. Es dauerte nicht lange als sich die Tür schließlich öffnete und Leif entnervt fluchend über die Tür eintrat. Er war vollkommen durchnässt gewesen und in vollständiger Motorradmontur ein. Seine Schuhe hinterließen nasse Abdrücke auf dem Flurboden. Vic eilte zu ihm und meinte besorgt: "Das muss jetzt aber für heute reichen, Leif. Der Regen wird immer schlimmer und du bist nass bis auf die Knochen." Leif strich sich die Haare aus dem Gesicht und entgegnete: "Einmal muss ich noch hin. Von dem blöden Regal aus dem Wohnzimmer fehlen die Schrauben." "Das kann doch auch bis Morgen warten.", beharrte Vic. "Ach, was. So sind wir heute schon damit fertig und brauchen uns Morgen nicht damit abzuquälen.", sagte er scherzend und vermittelte, dass er ihren Einwand nicht ernst nahm. "Aber Leif, bitte!", wand sie penibel ein, "Ich will nicht, dass dir etwas passiert." Er drückte ihr sorglos einen Kuss auf die Wange, doch Victoria behielt ihren sorgenvollen Gesichtsausdruck bei. "Mach dir keine Gedanken, Darling. Ich bin in etwa einer Stunde wieder hier; unversehrt und in einem Stück." Beklommen schaute sie kurz zu Boden. Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, ihn bei diesem nicht zu durchblickenden Regen draußen zu wissen. Und plötzlich kam ihr ein unheilvolles Bild in den Kopf, welches sie schon fast vergessen hatte. Ihre Augen weiteten sich und sie sah ihn entsetzt an. "Was hast du?", fragte Leif verwirrt. "Geh nicht", bat sie kleinlaut und drückte sich an ihn, auch wenn sie seine nasse Jacke als unangenehm empfand, "Ich hab ein ungutes Gefühl, du bei Regen auf diesen mörderischen Straße, das ist …" "Es wird schon gut gehen, Vic. Mir kann doch gar nichts Schlimmes passieren. Ich bin schließlich ein Vampir." Seine fröhlich klingende Voraussicht beruhigte Vic um keinen Deut. Aber sie konnte ihn nicht aufhalten, da er ein viel zu sturer Kerl war, als dass er sich hätte von ihr belehren lassen. Er ist so dumm!, dachte sie sich und sah zu, wie er sich die Tüte mit den Schrauben griff und erneut durch die Tür ging. Seufzend faltete Vic ihre Hände vor der Brust und meinte nervös: "Das du mir bloß gesund wieder kommst!" Hilfesuchend wandte sie sich an das Baby, dass in seiner gelblichen Flüssigkeit schwebte. Sie umarmte es, wie ein lebendiges Wesen und flüsterte ihm zu: "Dein Dad ist unverbesserlich." Feucht war sie. Absolut feucht. Er dachte nicht im Traum daran überhaupt zu erwägen, dass man diese "Feuchtigkeit" schon als nass bezeichnete. Der Himmel war fast nachtdunkel geworden, aber Leif störte sich nicht daran. Er wollte schnell in die neue Wohnung und das Regal aufstellen. Er gehörte, und darauf war er sogar sehr stolz, zu jenen Menschen, die, wenn sie eine Sache begonnen hatten, diese auch schaffen wollten. Leichtsinn? Nicht die Spur! Zumindest nicht für Leif. Sein Motorrad fuhr auf der Straße sicher wie bei schönem Wetter auch. Er hatte alles unter Kontrolle und seines Erachtens nach, hätte er auch schneller fahren können, ohne auch nur die geringsten Schwierigkeiten damit zu haben. Die Tüte mit den Schrauben hatte er in die Innentasche seiner Jacke gesteckt und seine wachen Augen überblickten scharf seine Fahrstrecke. Es herrschte kaum Gegenverkehr. Gavin Wrighley fuhr in seinem Truck durch die Stadt. Er hatte bereits einige Stunden hinterm Lenkrad hinter sich gebracht und trank nun gegen seinen ansteigende Müdigkeit einen heißen Kaffee nebenbei. Er hatte schon oft solche Arbeitsmomente gehabt, in welchen er kaum noch die Augen aufhalten konnte und sich nach nichts mehr sehnte als nach einem gemütlichen, warmen Bett. Und dies war wieder so ein Moment. Wrighley vertröstete sich mit dem Gedanken, dass er die Müdigkeitsphase bald hinter sich hatte und er dann ohne Mühe locker noch ein paar Stunden bis zum nächsten Truckstore durchhalten konnte. Er war ein kräftiger Kerl und kannte genau die Grenzen seines Körpers. Gemächlich fuhr er den Highway entlang und begleitete dies mit gelegentlichem Gähnen. Leif nahm die nächste Ausfahrt und wechselte auf den Highway. Die Strecke war auf diese Weise schneller zu ende und er konnte recht bald wieder bei seiner Vic sein. Der Regen wurde indes immer stärker und seine Sicht wurde arg beeinträchtigt. Er verengte die Augen, trotz seines Helms, der seinen Blick vor Wasser schützte und blinzelte unkontrolliert. Sein Blinzeln lenkte ihn hierbei besonders ab. Er hatte es schwer sich auf die Straße zu konzentrieren und musste seine Arme regelrecht zwingen den Lenker gerade zu halten. Leif wurde es etwas bang. Wrighley zügelte seine Fahrgeschwindigkeit. Es erschien ihm bereits schon sehr gefährlich überhaupt auf der Straße zu sein. Schnell trank er seinen Kaffee in einem Zug aus und warf den Becher auf den Beifahrersitz. Er war sich sicher, dass er nun seine ganze Aufmerksamkeit auf den Fahrtweg richten musste. Ihm blieb nun keine Zeit für eine Kaffeepause, wenn er heil an sein Ziel kommen wollte, Der Scheibenwischer vor seinen Augen zog behände die Regentropfen von der Scheibe. Aber der Regen war hartnäckig und legte sich sogleich wieder auf das Glas, sobald die Fläche für eine Sekunde frei war. Es war kein guter Tag, um nicht zu Hause zu sein, dachte Wrighley. Leifs Jacke war vollkommen durchnässt und er konnte bereits seine Sachen an seinem Körper spüren, welche ekelhaft klebten. Er wagte sich kaum noch seinen Brustkorb zum Atmen zu heben, weil es ihn so ekelte. Er war froh, dass wenigstens seine Hände durch die Handschuhe vorm Regen geschützt waren. Doch durch seine festen Griff, kamen ihm seine Finger schon bald wie eingeschlafen vor. Sie kribbelten und waren schwer wie Blei. Leif versuchte, sie kurz zu bewegen. Er begann mit der rechten Hand und lockerte seine Griff, sodass er seine Finger etwas strecken konnte und packte sofort wieder nach dem Lenker. Als er die erste Hand problemlos hinter sich hatte, versuchte er es mit der linken. Diese war zu seiner Überraschung nicht ganz so leicht wieder in Funktion zu bringen; sie hatte sich verkrampft als er die Finger gestreckte hatte. So war er gezwungen die Übung zu wiederholen. Aber als er die Hand zu einer Faust formte, entfernte er die Hand zu weit vom Lenker und er verlor auf der glatten Straße das Gleichgewicht. Leif schrie entsetzt auf. Er hatte sein Motorrad nicht mehr unter Kontrolle und schusselte Hin und Her. Wrighley schaute angestrengt nach vorn und konnte nur gering etwas anderes als den Regen erblicken. Als er noch ein paar hundert Meter gefahren war, konnte er vor sich ein Licht erkennen, welches unvorhersehbar von einer Fahrbahn auf die andere wechselte. "Was in drei Teufelsnamen?", meinte der Trucker perplex zu sich selbst und trat augenblicklich auf die Bremse. Der Truck kam nicht sofort zum Stehen. Er schlitterte noch ein paar Meter bevor er endlich anhielt. Doch es war zu spät gewesen! Ein dumpfer Aufprall! - Metall schmetterte auf dem Asphalt! - Räder rutschten auf der regennassen Straße! - Ein wildes Zucken durchfuhr den Fahrer, welcher durch die Luft geschleudert wurde! - Dann Blaulicht und Sirenen! - Viele Töne auf einmal, ohne einen Punkt, von woher aus diese kamen! - Und das Blut floss in eine Pfütze! - Es schimmerte herrlich rot! Kapitel 5: Der Teufel an der Wand --------------------------------- Das Telefon läutete. Es wurde nicht gleich erhört, was den Anrufenden fast wahnsinnig machte vor Spannung. Es dauerte noch einige Zeit, dann endlich wurde der Hörer abgenommen und Connors etwas herrische Stimme meldete sich: "Hallo?" "Ist Leif bei dir?", fragte es gleich aufgeregt zurück und der Befragte musste sich erst einmal fassen ehe er überhaupt wusste, wer am anderen Ende der Leitung war. "Vicky? Bist du das?" "Ja, natürlich bin ich es! Wo ist Leif?", Victoria war nicht in der Stimmung lange mit ihm herum zu diskutieren. "Ist schon um halb fünf von hier verschwunden. Ich dachte, er wollte zu dir?" "Da war er auch. Aber er wollte noch dieses scheiß verdammte Regal aufbauen und ist noch mal zurück gefahren." "Also hier ist er nicht wieder gewesen.", gab der schwarzhaarige Vampir verwundert zurück. "Wo kann er denn nur sein?", wollte Vic verzweifelt wissen. "K-keine Ahnung", stotterte Connor ratlos, "Vielleicht hat er irgendwo angehalten und wartet, dass der Regen nachlässt." Er sah kurz aus dem Fenster. "Ist echt ein Leichtsinn bei solchem Wetter überhaupt außer Haus zu gehen.", meinte er noch hinterher. Victoria schwieg eine Weile und sagte dann beklommen: "Du wirst hoffentlich Recht haben. Danke für deine Hilfe. Ich melde mich, wenn er wieder hier ist. Bis bald." "Bye." Es tutete an der anderen Leitung und auch Connor legte den Hörer auf. Seufzeng kratzte er sich am kopf und schritt wieder in den Raum, aus dem er gekommen war. Es war sehr finster in ihm gewesen, aber es störte Connor nicht. Er konnte sogar von sich sagen, dass seine Sicht um einiges besser war, wenn das Licht seine Augen verschonte. Eine Gestalt befand sich dort drinnen. Sie saß zusammengesunken auf einem Sessel und hatte den kopf nach einer Seite gelehnt. Es war eine Frau. Ihr Haar war braungelockt und verwahrte wie ein Vorhang ihr Gesicht. Sie trug ein braunes Kleid mit einem schwarzen wilden Muster. "Wer war dran?", fragte sie mit dünner Stimme. Connor drückte ihr einen Kuss auf die Wange und entgegnete: "Victoria." "Die Frau von Leif." "Genau die.", er kniete sich vor sie und meinte während er ihr das Haar auf dem Gesicht strich, "Ich hasse es, wenn dein schönes Gesicht versteckt ist." "Du dummer Lügner!", gab sie ernst zurück, ließ ihn jedoch gewähren. "Wie kannst du so etwas sagen, mein Engel? Ich würde nie deine Schönheit verleugnen." "Du kannst mir den Buckel runterrutschen mit deinen Sprüchen!" Hinter ihrem Schleicher aus Locken kamen ihr von Blut verschmiertes Gesicht zu Vorschein, welches ohne Zweifel ein ebenmäßiges, bildschönes Antlitz war. Ihre Augen boten hierbei eine ganz besondere Faszination; da sie keine besaß. Ihre Augenhöhlen waren ausgefüllt mit Flächen immerzu blutenden Fleisches, die nichts erblicken konnten und nichts betrachteten. Für Connor war sie, das Schönste, was er auf dem Erdengrund kannte und er hätte sie nicht für alle schönen Frauen der Welt eingetauscht. Diese hier war ganz die seine und würde es auch für immer bleiben. "Du gehörst einfach zu mir.", meinte er träumerisch und lehnte seinen Kopf an ihre Brüste. "Connor?" "Ja, mein Schatz?" "Warum hängst du so an mir?" "Wie ist das denn gemeint?", fragte er verwundert. "Was hält dich dazu an, mich zu lieben?" Er kicherte und erhob sich. Dann küsste er sie zärtlich auf die Wange und streifte seinen Mund zu ihrem Ohr, woraufhin er flüsterte: "Weil zum Winter nunmal der Schnee gehört." Sie lächelte, da es sie freute, wenn er einen so treffenden Vergleich zwischen ihnen zog. "Was hat Victoria gewollt?", brachte sie nach einer Weile hervor, "Sie ruft doch nicht ohne Beweggrund an." Er zögerte kurz. "Sag es mir!", forderte sie und ihre Stimme klang so süß wie Honig, auf dass er ihr keine Bitte hätte abschlagen können. "Nun weißt du, Leif hatte eigentlich vorgehabt noch einmal hierher zu kommen, um in seiner Wohnung noch etwas zu machen, aber er ist hier bis jetzt noch nicht erschienen." Sie wurde ganz still und gab plötzlich summende Geräusche von sich, welche tief aus ihrer Kehle zu kommen schienen. Es war beinahe ein Grollen. Connor schaute ihr gespannt zu und zischte ihr vorsichtig zu: "Was siehst du?" Noch eine Weile summte sie und gab dann fast säuselnd zur Antwort: "Ein unglückseliges Tun wird hart bestraft werden. Der Leichtsinnige wird nicht er selbst sein." Sie pausierte kurz und atmete schnell dabei. "Eine Blutgeburt wird sich aus ihrem Grab erheben und ihren vorbestimmten Platz einfordern." Sie atmete einmal noch tief ein, als wenn sie ertrinken würde und tastete dann erschöpft nach Connors Hand, welche sich ihr unverweilt nährte. "Mehr war nicht zu erblicken.", meinte sie außer Atem. "Ist gut so, Roxane.", beschwichtigte er sie. Connor strich beidhändig über ihr Gesicht und befreite es erneut vor dem Schleier der wilden Locken, die es verbergen wollten. Ihren blutenden Augenhöhlen waren zwei Linien entflohen, die sich gleich Tränen daran machten ihre Wangen entlangzufahren. Doch wurde sie von einer behänden Zungenspitze daran gehindert. Er leckte genüsslich das zarte Blut von der weißen Haut und genoss ihre Nähe, die mehr war als Freiheit. "Der Winter und der Schnee.", sprach Roxane als er sie liebkoste. "Oh ja. Du bist der Winter und ich der Schnee.", stimmte Connor ihr zu und küsste sie leidenschaftlich auf die Lippen. Süßer als Nektar und Ambrosia, waren diese wundervollen Lippen von Roxane DeWinter. Die Stunden zogen sich hin und Victoria wusste nicht mehr aus nicht ein mit sich. Sie war vollkommen ratlos über den bloßen Verbleib ihres Mannes und malte sich die schlimmsten Dinge aus, die ihm widerfahren sein konnten. Angespannt lief sie durch die Wohnung, welche voll mit Kartons stand. Sie hatte ihrer Arme vor der Brust verschränkte und redete Unverständliches vor sich hin. Wenn er sich doch nur melden würde, dachte sie und sah aus dem Fenster. Der Regen hatte aufgehört. Es roch angenehm und doch stimmte es die Vampirin unruhig. Ihr Herz schlug wild und sie konnte keine Ruhe finden. "Ihm wird doch wohl nicht geschehen sein," mutmaßte sie zu sich selbst und rang die Hände ineinander. Noch nie war sie so besorgt um Leif gewesen. Ihr war fast schon schlecht vor Nervosität. Draußen war alles schwarz. Nur der Schein der Laternen brachte einen Strahl Ordnung in das nächtliche Chaos. Vic spähte auf den Gehweg und hoffte, dass er gleich dort entlanggehen würde, um wenige Augenblicke später vor der Wohnungstür zu stehen und sich wieder einmal über das Türschloss zu beklagen. Aber er kam nicht. Ein oder zwei Passanten gingen unten vorbei. Vic war jedes mal von einem falschen Erleichtern erfüllt gewesen und war der Annahme, dass es ihr Mann sein würde. Doch es war nicht so; beide waren ihr fremd. Erneut machte sie sich auf in der Wohnung umherzugehen. Sie hatte nichts weiter zu tun. Der Fernseher und das Radio waren bereits in der neuen Wohnung, sodass sie nicht einmal den billig produzierten Schrott im Abendprogramm ansehen und sich müde langweilen. Es blieb ihr also nur noch das sinnlose Wandern. Sie ging in die Küche. Den Grund kannte sie nicht, weshalb es gerade dieser Raum sein musste, aber es war ihr im Augenblick vollkommen gleich, wo sie war, wenn sie nur wüsste, was mit Leif war. Auf dem Küchenschrank thronte noch immer das Baby, dessen Gesicht genau in ihre Richtung gedreht war. Vic entrann ein flüchtiges Lächeln, als sie es erblickte. "Hey Baby", begrüßte sie es und ging darauf zu. Sie hockte sich etwas runter und freudevoll betrachtete sie die Scheußlichkeit, zu welcher sie sich vernarrt hingezogen fühlte. "Du willst sicherlich auch wissen, wo dein vermaledeiter Daddy steckt, nicht wahr, mein Liebling?" Sie redete mit ihm, wie eine Mutter mit ihrem Kind eben redete. Das Baby machte zwar keine Anstalten, dass es sie verstand, aber der Wille das Baby noch als ein lebendiges Baby anzusehen war zweifellos ein unzweifelbar liebevoller Akt der Zuneigung. Eine zeitlang hatte nur das Präparat im Blick, aber dann schweiften ihre Augen unbeabsichtigt genau daneben. Es lag eine Schachtel Zigaretten auf dem Küchenschrank. Leif musste sie dort liegen gelassen haben, dachte sich Vic und nahm sie in die Hand. Interessiert schaute sie hinein; es waren noch fünf Zigaretten darinnen. Lange überlegte sie nicht. Ohne ein rechtes Bewusstsein dafür zu haben, nahm sie eine heraus und klemmte sie sich zwischen die Lippen. Es schmeckte schon jetzt widerlich, obwohl das Ding noch nicht einmal angezündet war. Dann schlich sie hinaus auf den Flur zur Garderobe und wühlte gezielt in einer von Leifs Jacken. Sie wusste genau, dass er in jeder seiner Jacken mindestens ein Feuerzeug hatte und sie wurde auch sehr schnell fündig. Als hätte sie es schon Hunderte von malen gemacht steckte sie sich die Zigarette an und zog einmal tief daran. Sofort musste sie entsetzlich husten, aber das hinderte sie kaum daran fortzufahren. Victoria war entschiedene Nichtraucherin; das dachte sie zumindest. Außer dem erstmaligen Probieren auf der High-School hatte sie keine Kippe mehr angerührt. Und wenn man das Passivrauchen durch Leif nicht mitzählt, hatte sie auch keinen Kontakt mit Rauchern gehabt. Selbst Connor, der sonst immer einen auf coolen Boss machte, rauchte nicht in Anwesenheit von Nichtrauchern. Es überraschte sie also selbst, dass sie nun in ihrem Flur stand, sich die Religion vom Leib hustete und rauchte! Es schmeckte ihr nicht, es war ihr unangenehm, aber dennoch konnte sie es nicht lassen. "Was mache ich hier eigentlich?", fragte sie sich selbst und starret auf das brennende Teil in ihrer Hand. Kopfschüttelnd schritt sie dann wieder bestimmt zurück in die Küche, wo sie das Fenster aufriss und die Zigarette einfach hinaus in eine darunter befindliche Pfütze warf. "Ich rauche doch gar nicht!", erinnerte sie sich und setzte sich auf einen der Barhocker. Nun wurden ihre Gedanken klarer. Sie dachte an Leif und wie sie sich sorgte. Es machte sie wahnsinnig so zu warten, aber eine andere Beschäftigung hatte sie nicht, sodass Vic bis zum nächsten Morgen so wie sie jetzt war ausharrte und die Sekunden zu zählen begann. Kapitel 6: Des Gehirns Schwarzes Loch ------------------------------------- Es war wie ein Blitz über ihn gekommen. Ein einfaches, schnelles und präzises Zucken, welches die Ereignisse, die um ihn herum geschehen waren, vollkommen hat verschwinden lassen. Er verspürte seinen Kopf nur noch als ein riesiges schwarzes Loch. Da war nichts mehr. Kein Gedanke, keine Erinnerung. Eine schlichte Leere, ohne aber das Gefühl mit sich genommen zu haben, dass man etwas vermisste, Eine Scheußlichkeit von Gefühlserfahrung, aber dennoch war sie da und quälte den Nerv seines Verstandes, der sich langsam wieder an des Zustand des Wachseins gewöhnen wollte. Er selbst hatte die Augen geschlossen. Alles, was er sah, war pure Schwärze, für die er aber dennoch dankbar war, weil er dadurch das Erwachen seines Bewusstseins beobachten konnte, Es war etwas sehr faszinierendes, wenn man in einem Moment absolut kein Empfinden hat und plötzlich etwas verspüren kann. Ein augenblicklicher Schlag, der etwas Totes zum Leben bringen kann. Für die lange Zeit, die dieser Prozess mit sich brachte, war er auch in gewisser Weise dankbar, denn er konnte dadurch genießen. Nach Stunden, in denen er sich fragen musste, ob er die eigene Existenz nicht nur erträumte, kamen ihm Gedanken in den Sinn, welche in ihrer verwirrenden Art seltsame Gefühle in ihm auslösten. Einerseits waren das Personen, die ihm entgegen lächelten und andererseits komische Worte, die sich wiederholten. Ein großer Salat von Dingen, die nichts miteinander zu tun hatten. Es geschah in stetiger Wiederholung, dass die Bilder verschwammen und die Worte in ihrem Echo untergingen, aber dennoch war er felsenfest davon überzeugt, dass er nicht träumte sondern nachdachte. Er schlief nicht. Er hatte nur die Augen verschlossen. Mit einem mal explodierte es in ihm. So merkwürdig eben noch Dinge wirr in seinem Hirn getanzt hatten; es endete blitzartig! Er hörte Geräusche, die nicht im Echo waren. Sie waren fest und laut. Eine Mischung aus Dutzenden von Stimmen, Vogelgesang, Geklapper, Quietschen, dumpfe Aufpralle, Verkehr und noch dazu technische Pieptöne. Wenn man es mit seinem Gehörten davor verglich, war der Unterschied grauenvoll, ein entsetzlicher Lärm. Sein Körper zuckte kurz vor Schreck und seine Finger klammerten sich in das erstbeste, was sie greifen konnten, was problemlos nachgab und zusammengedrückt wurde. Plötzlich konnte er seinen ganzen Körper wieder spüren. Es war ihm, als wenn sein Geist wieder in die rechtmäßige Hülle schlüpfen würde und abrupt riss er die Augen auf. Diese waren kurz geblendet und sahen nur das grelle Licht, aber es mischten sich sogleich wieder Konturen unter und Details bildeten sich heraus, sodass er seine Umwelt erblicken konnte. Wild hämmerte sein Herz. Es war kaum zu verstehen, weshalb es sich so nervös gab. Reflexartig stützte er sich mit den Ellenbogen auf und musterte erstaunt seine Umgebung. Er lag in einem Bett in einem weißen Zimmer. Alles war sehr hell und sauber. Es roch sogar unangenehm peinlich sauber und noch dazu nach Medizin. Ihm kam in den Sinn, dass er in einem Krankenhaus sein musste. Aber wieso? Er hatte keine Erinnerung daran. War er krank? Hatte er irgendein Leiden, dass er in einem Krankenhaus sein musste? Er wusste es nicht. Noch immer das Zimmer betrachtend setzte er sich auf. Er konnte sich nicht erklären, was er hier sollte, denn er fühlte sich gänzlich gesund. Eine merkwürdige Angelegenheit war das. In naivem Erstaunen erhob er sich schließlich. Wenn er sich vollkommen gut fühlte, warum sollte er dann noch im Bett liegen bleiben? Behände patschten seine Füße auf dem Linoleumboden. Sie waren nackt, doch bemerkte er die offensichtliche Kälte des Bodens gar nicht. Er streckte noch kurz die Glieder, wobei es in seinem Rücken etwas knackte, und lief dann schnurstracks zu dem sich gegenüberliegenden Schrank. Er hatte vor sich schnell seine Klamotten anzuziehen und dann so schnell wie möglich aus dieser Einrichtung zu verschwinden. Er dachte gar nicht daran hier zu bleiben. Oh nein, er würde ganz einfach gehen. Doch hier erschreckte ihn der Gedankengang! Wohin sollte er gehen? Abrupt blieb er stehen und blickte verloren zu Boden. Er hatte keine Ahnung, wo er wohnte oder wo er herkam. Es war einfach nicht mehr in seinem Kopf vorhanden. So sehr er auch versuchte es wieder in seinem Gehirn abzurufen, es blieb nur blanke Schwärze in den Gedanken. "Was mache ich denn nun?", fragte er sich selbst und zuckte mit den Schultern. In diesem Moment klopfte es kurz an die Tür und unmittelbar danach wurde diese auch schon geöffnet. Er schloss aus diesem schnellen Öffnen, dass es sich bei dem Klopfen lediglich um eine Höflichkeitsfloskel gehandelt hatte und niemals die Erwartung des Eintretenden bestanden hatte, dass er hereingebeten würde. Eine Krankenschwester kam herein. Sie trug eine Vase mit Blumen in der Hand, die sie wohl in das Zimmer stellen wollte. Gespannt sah er ihr entgegen. "Jesus, Maria und Josef!", stieß sie empört hervor und hätte um ein Haar ihre Vase fallen gelassen. Sie schloss hinter sich die Tür und schritt auf ihn zu. Sie war viel kleiner als er und musste zu ihm herauf schauen. Ihr schwarzes Haar war streng zurückgekämmt und zu einem Pferdeschwanz zurechtgemacht. Dazu trug sie eine Krankenschwestertracht und wirkte recht niedlich durch ihre leicht rundliche Form. "Legen Sie sich sofort wieder ins Bett!", wies sie ihn an, doch er rührte sich keinen Zentimeter, sondern schaute sie nur überrascht an. Das war der Schwester natürlich nicht recht und sie wiederholte noch nachdrücklicher: "Ins Bett! Wird's bald!" In einem solchen Ton ließ er nicht mit sich reden und er verschränkte die Arme vor der Brust und entgegnete ihr: "Ich werde nichts dergleichen tun! Ich gehe nach Hause." Das war der Schwester zu viel. Knurrend stellte sie die Vase mit den Blumen auf dem Nachttisch ab und packte ihn dann grob am Handgelenk. Ihr Griff war zwar seines Erachtens nicht der Rede wert, aber dennoch hatte die kleine Person genug Kraft, um ihn zum Bett zurück zu ziehen. Er war vollkommen perplex. Während sie ihn gegen seinen Willen wieder in das Krankenhausbett packte und noch dazu seine Kissen aufschüttelte meinte sie nörgelnd nebenher: "Hatte einen schweren Unfall und will sich jetzt schon wieder aus dem Staub machen. Ich glaube, mein Schwein pfeift 'La Paloma' rückwärts! Er könnte sich sonst was einfangen oder zusammen brechen und wer wäre dann wieder Schuld? Grace! Es ist doch immer dasselbe! Wenn etwas schief geht, ist es immer mein Bier!" Sie redete so plappernd, dass man meinen könnte sie rede mit sich selbst, aber sie war so gut zu verstehen, dass sie garantiert mit jemandem reden musste und sie blickte ihn immerhin auch dabei an. Er war vollkommen entnervt von dieser Frau. Er verdrehte die Augen und blickte trotzig. Er kam sich vor, wie ein kleiner Junge, der wegen einer Erkältung nicht hinaus durfte. Was bildete sich diese Person bloß ein?, dachte er. "So", ließ sie zufrieden verlauten als sie ihn übertrieben sorgfältig in der Decke verpackt hatte und scheinbar endlich in der Lage war, andere Informationen, die nicht in der Schwesternverordnung standen, aufzunehmen. Er bemühte sich seine unverkennbare Entrüstung, die in seinem Leib zu brodeln begann, so gut es ging zu verbergen. Nachdem er einen gehörigen Zug Luft in seine Lunge gesogen hatte und sich sicher sein konnte, dass die Frau ihn anhören würde, sprach er: "Hören Sie, ich bin mir nicht wirklich klar darüber, was ich hier eigentlich soll. Ich fühle mich körperlich vollkommen gesund und brauche bei weitem keine ärztliche Versorgung." Er sah ihr ganz ernst in die Augen, wobei ihm jetzt erst ihre Jugend auffiel. Diese Frau war höchstens Mitte zwanzig, obwohl ihr Verhalten eher auf einen früheren Jahrgang passte. Aber das konnte ihm egal sein, denn seine Einstellung blieb gleich und er weigerte sich, diese zu ändern. Die Schwester musterte ihn mit scharfem Blick. Die Arme hatte sie in die Seiten gestemmt und wollte wohl auf diese Weise von ihrer Körpergröße ablenken, die wie bereits erwähnt der seinen stark unterlegen war. "Scheinbar sind Sie wirklich körperlich in einem guten Zustand", begann sie und hörte sich wie eine Lehrerin an, "Haben Sie in irgendeiner Form Schmerzen oder Schwindelgefühle? Taubheitsgefühle oder ähnliches?" Er schüttelte entschieden den Kopf. "Fein. Dann würde ich nun gern ein paar persönliche Angaben von Ihnen haben." "Wenn es denn sein muss. Schießen Sie los!", meinte er bereitwillig, wenn es nur dazu führen würde, dass er hier endlich herauskam. "Wie heißen Sie?", begann sie. Er lächelte freudig und war zuversichtlich diese Frage noch beantworten zu können. "Ich bin ...", weiter konnte er nicht sprechen. Als er seinen Namen nennen wollte, wurde ihm bewusst, dass er wieder keine Ahnung hatte. Er war weg! Sein Name war wie aus seinem Hirn radiert! Er war einfach weg, es war unglaublich! Er stotterte stumm vor sich hin und bewegte seine Lippen. Die Augen hatte er weit aufgerissen und starrte entgeistert vor sich hin. Es war einfach unerklärlich. Es war wie nie da gewesen, diese kleinen einfachen Dinge, die doch eigentlich zu wissen selbstverständlich waren. "Können Sie sich an Ihren Unfall erinnern?", fragte sie weiter, diesmal etwas sanfter und ihr Gesicht bekam einen mitleidigen Zug, doch behielt sie ihre Körperhaltung bei. "Was? Ein Unfall? Wie denn das?", er zuckte mit dem Gesicht und konnte ihre Worte nicht nachvollziehen. Sie faltete die Hände vor dem Bauch und schaute mitfühlend an. Mit einer sehr weichen Stimmlage erzählte sie schließlich: "Sie waren auf dem Motorrad unterwegs auf dem Highway. Die Straße war schrecklich glatt von dem starken Regen. Sie haben höchstwahrscheinlich die Kontrolle über das Fahrzeug verloren und stießen mit einem entgegenkommenden Truck zusammen. Der andere Fahrer hatte noch zu bremsen versucht, aber er schaffte es nicht rechtzeitig. Der Mann hatte eine harmlose Platzwunde davongetragen und Sie waren ungefähr vier Tage ohne Bewusstsein." Ungläubig schüttelte er den Kopf. Er war wie versteinert und sah noch lange die Schwester an, welche ihn stumm zu bedauern schien. Kapitel 7: Das neue Beleben --------------------------- Vic hatte die letzten kleineren Kartons in die neue Wohnung gestellt. Teilweise hatte sie sie über den Boden gezerrt, weil der Inhalt doch schwerer gewesen war als sie es erwartet hatte. Sie verschnaufte gerade einen Moment und besah sich die Arbeit, die noch vor ihr lag. Leif war nicht wieder gekommen. Ganze vier Tage war er nun schon fort. Sie hatte keine Ahnung, wo er war oder was er tat. Sie wusste nur, dass er ihr unaussprechlich fehlte und sie sich nach ihm sehnte. In den ersten zwei Tagen hatte sie sich zusammen mit Connor aufgemacht, um nach ihm zu suchen. Sie hatten sämtliche Plätze, Bars, Straßen, Gassen und noch so vieles mehr in der Umgebung abgesucht und waren erfolglos gewesen. Es hatte sie innerlich schier zermartert. Alles hatte sie vergessen gehabt, doch als ihr Mietvertrag fast abgelaufen war, musste sie sich zwangsläufig wieder dem Umzug widmen. Es fiel ihr schwer sich darauf wirklich zu konzentrieren, aber es musste geschehen, wenigstens bis die neuen vier Wände eingerichtet waren. Sie lebte nun in einem völlig neuen Teil der Stadt, welcher ihr bis dahin nicht besonders bekannt gewesen war. Es gab hier viel mehr dunkle Gassen und zwielichtige Plätze als da, wo sie vorher gelebt hatten, wenngleich die von den Leuten häufig besuchten Plätze und dazu zählte besonders der Boulevard, sehr gut gepflegt waren und äußerst freundlich wirkten. Als sie noch ihr Baby erwartet hatte, hätte sie sich nie träumen lassen an so einen Ort zu ziehen. Es wäre ihr wohl zu unsicher gewesen. Aber nun, wo diese heitere Zeit der Familienplanung weit hinter ihr lag, erschien ihr diese Gegend nicht mehr allzu düster und auch stellte sie sich vor, hier ganz einfach jagen zu können. Ein perfektes Plätzchen für Vampire. Das war im wahrsten Sinne des Wortes so, denn in dem Gebäude, in dem sie hauste wohnte auch Connor, das wusste sie und nach seiner Aussage bekamen sie auch häufig Besuch von anderen Blutsaugern. Victoria war es allerdings recht egal, ob sie neue Kontakte knüpfte oder nicht. Sie hatte nichts dagegen, aber im Moment konnte sie gut darauf verzichten. Sie hatte es schon schwer genug, die neue Wohnung allein einzurichten und dabei die Sorge um Leif in ihrer Kehle herunter zu schlucken. "Zu dumm, dass ich keinen Alkohol mehr trinken kann. Heute hätte ich wirklich einmal Lust, mich zu betrinken.", meinte sie missmutig zu sich selbst und spielte in ihrem struppigen Zopf herum, welchen sie in aller Eile gemacht hatte und der sich nun zu lösen begann. Sie schaute sich um. Die Wohnung war fast fertig eingerichtet, es fehlten nur noch Kleinigkeiten. Vic überkam ein leises Gefühl der Erleichterung als sie das feststellte. Dann dachte sie daran, dass sie fast alles allein gemacht hatte. Ohne Leif oder jemand anderen. "Es geht auch so ohne dich.", wisperte sie vor sich her und tat dabei so als wenn sie mit Leif sprach. Doch dieses Geständnis ließ sie erschaudern. Sie bekam eine Gänsehaut und ihre Unterlippe begann zu beben. Tränen sammelten sich in ihren Augen. Vic machte eine Kühle in ihrem Herzen aus und sagte, beinahe schon etwas laut: "Es geht auch ohne dich. Aber warum weine ich dann? Es läuft doch alles bestens. Ich meine, ich könnte ohne dich leben, aber ich will es nicht! Ich will dich bei mir haben und mit dir leben und nicht allein. Ohne dich geht es zwar, aber ich halte es nicht aus!" Auch wenn sie sich nach ein paar Tränen, die ihre Wangen herunterliefen, gesehnt hatte, sie blieben aus. Sie konnte nicht weinen. Da waren zwar ein paar Tränen in ihren Augen, aber diese blieben stur da, wo sie waren. Victoria war wütend auf sich selbst. Sie schlug sich mit der Hand an die Schläfe und sagte im festen Ton zu sich: "Reiß dich gefälligst zusammen! Du weißt nicht, wie es ihm geht! Er könnte noch schlechter dran sein und dich stört schon das bisschen Alleinsein, du schwaches Ding!" Ihr kam es komisch vor, sich selbst in der dritten Person anzusprechen, aber nur so erschien ihr die Zurechtweisung echt. Sie sog ein paar tiefe Atemzüge von Luft in ihre Lunge und fasste neuen Mut. Nein, Mut konnte man es zwar nicht ganz nennen, aber immerhin kam es schon beträchtlich nahe an dieses Sein heran. Sie griff nach ihrer Jacke, welche achtlos zwischen einigen Kartons lag und schon etwas zerknittert war. Behände zog sie sie an und machte sich daran die Wohnung zu verlassen. Vic wollte etwas spazieren gehen. Vielleicht würde sie Leif unterwegs finden und wenn nicht, dann hätte sie wenigstens nicht nur nutzlos herumgesessen. Als sie gerade aus der Tür getreten war, rannte neben ihr jemand die Treppe herunter. Das Poltern der Schritte ließ Vic aufschauen und sie erblickte Connor. "Ich wollte eben zu dir und dich um etwas bitten.", sagte er und er klang bedrängt. Vic wollte eigentlich nicht von ihrem Spaziergang ablassen, um Connor einen Gefallen zu tun. Entnervt seufzte sie und fragte dann, obwohl sie es nicht gewollt hatte: "Um was willst du mich bitten?" "Nur eine Kleinigkeit.", meinte er einleitend. "Und die wäre?", hakte sie ungeduldig nach und er fuhr fort. "Also ich muss kurz was erledigen und wollte sie fragen, ob du Roxane ein wenig Gesellschaft leisten könntest bis ich zurück bin." "Wer ist Roxane?" "Geh einfach hoch und klingle. Sie wird sich dir schon selbst vorstellen.", er wäre um ein Haar weiter die Treppen herunter gestürmt, da hielt er noch einmal kurz inne und rief ihr mit einem Lächeln zu: "Danke für deine Hilfe!" Vic stand resigniert da und konnte sich nicht entsinnen ihm zugesagt zu haben. Er hatte sie einfach übergangen! Aber sie hatte schließlich auch nichts besseres vorgehabt. Sie seufzte kurz und stieg schließlich die Treppe hinauf bis zu Connors Wohnung. Die Flure weiter oben sahen genauso aus wie die unten. Man konnte dadurch leicht vergessen, wo man war, wenn nicht an den Wohnungstüren die Namen ihrer Bewohner stehen würden. Verloren im eigenen Haus, so kam sich Vic fast schon vor und doch gewahrte sie, dass es ihr Heim war. Mit flinkem Blick schaut sie sich nach Connors Nummer um. Sie kannte die Wohnung an sich nicht. Das lag wohl daran, dass sie deren Besitzer nicht besonders mochte, auch wenn er sie zu unterstützen versuchte. Die Gelegenheit, ihn in den letzten Tagen und Wochen einen Besuch abzustatten, hatte sich auch nicht ergeben, weshalb sie sich nicht schuldig vorkam. Es war einfach nur eine unglückliche Anhäufung verschiedener Ereignisse, die sie nicht hätte beeinflussen wollen. Nun denn, sie fand die Tür, welche nur angelehnt war, sodass sie ungehindert hineintreten konnte, ohne kaum ein Geräusch zu verursachen außer einem dezenten Luftzug, der womöglich nur einem Tier oder eben einem Vampir aufgefallen wäre. Welch ein Abenteuer es in den unbekannten vier Wänden zu bewältigen gab, vermochte sie nicht zu ahnen, aber ein wenig prickelte die Spannung schon in ihren Knochen und es überkam sie seit ewiger Zeit ein Welle des Entzückens, die ihr selbst in den Lenden einen gewissen Reiz verursachte. Ein Lächeln flog über ihre Lippen und sie trat schaudernd und mit der Anspannung eines Entdeckers in die neue Welt ein. Wie töricht sie sich selbst vorkam! Nicht einmal bei ihrer neuen Wohnung hatte sie sich so aufgeführt und hier bei Connor stellte sie sich so an! Lächerlich! Albern! Aber an sich war es nun doch interessant. Connor; ein Kerl, der so respektlos, ungehobelt und nicht mal besonders stilvoll gekleidet war, lebte auf eine solch unglaubliche Weise, dass sich Vic fragen musste, ob sie hier richtig war. Sie hatte sich insgeheim immer eine wahre Abstellkammer von Wohnung bei ihm vorgestellt; vergilbte Tapeten, Müll in allen Ecken, Zigarettenrauch dicht wie Nebel in London, Kakerlaken, Ratten und weiteres Getier; ja, sie dachte bisweilen sogar, er lebte in der Kanalisation. Doch das Gegenteil - nein, eher etwas vollkommen anderes, war der tatsächlicher Sachverhalt. Connors Wohnung, war ebenso im Grundriss aufgebaut, wie die von ihr und Leif. Sie besaß eine reichlich wildgemusterte Tapete in einer Mischung aus grün und beige, die, wie sie merken sollte, in allen Räumen zu finden war. Eine solche Tapete hätte sie normalerweise geschmacklos, geradezu furchtbar gefunden, wenn sie sie irgendwo in einem Laden gesehen hätte, aber hier war sie seltsamerweise passend drapiert wurden. Sie passte, denn alles war in grün und beige gehalten. Alt und wenig jauchzend, ein wenig als sei die Zeit stehen geblieben. Alle Möbel in einem alten Charme und scheinbare Antiquitäten, hübsch erhalten und gepflegt. Vic war überrascht. Sie drehte sich um sich selbst und besah sich alles, was ihre Augen erfassen konnten. War ihr verhasster "Kumpel" etwa ein Sammler? Ein Kunstliebhaber? Wohnte er denn überhaupt hier? Hatte er es allein angerichtet? Sie entbrannte ein wenig, etwas mehr über ihn zu wissen. Sie vergaß fast völlig, weshalb sie hier war und nur ein vernehmliches Räuspern aus einem Zimmer zu ihr drang. Vic fuhr zusammen und blieb wie versteinert stehen. Ihre Augen glitten zur Zimmertür, die einen Spalt offen war und sie schluckte. Warum war sie hier? Ach richtig, wegen Roxane! Wer war das doch gleich? Sie wusste es beim besten Willen nicht. Kannte sie denn überhaupt jemanden außer Connor in diesem Haus? Eigentlich nicht. "Wer ist da?", fragte jemand aus dem Zimmer. Eine Frau war es und ganz offensichtlich war auch sie es gewesen, die das Räuspern von sich gegeben hatte. Vic war nervös. Ihr Herz schlug heftig. Sollte sie es wagen sich zu zeigen, sich vorzustellen? Es jagte ihr eine Gänsehaut über den Leib, wenn sie drüber nachdachte. "Komm rein!", forderte nun jene unbekannte Frau hinter der Tür. Nun spürte Vic, dass sie hineingehen musste. Wie sähe es denn aus, wenn sie eine Wohnung betrat und dann nicht einmal die Courage aufbrachte sich vorzustellen? Zögernd öffnete sie die Tür und betrat den düsteren Raum, der eine Silhouette beherbergte, die wohl Roxane sein sollte. Wenn sie es war, dann saß sie auf einem Schaukelstuhl, der sich leicht bewegte und das Haar hing ihr im Gesicht. "Du bist drin, wie schön.", hörte Vic sie sagen, "Hat Connor dich überreden können, ja? Er ist manchmal zu besorgt. Ich weiß gar nicht, wieso er sich so hat. Victoria, richtig?" "Äh, ja.", antwortete sie schnell. Beinahe hätte sie die Frage überhört. Die Silhouette im Zwielicht wirkte faszinierend und geheimnisvoll, sie nahm ihre ganze Aufmerksamkeit ein. "Ich bin Roxane.", erzählte sie weiter. Roxanes Stimme war seltsam. Sie klang leicht erotisch gehaucht, teilweise gebieterisch und sanft zugleich. Melodisch erklang ihr Atem und Vic, die davon fasziniert, betört und verzaubert war, trat lammfromm ein paar Schritte näher auf sie zu. Der Schatten konnte nun nicht mehr seinen Schleier über Roxane halten und entwich der Klarheit. An dem von Haaren verhangenen Gesicht, lief etwas herab. Es sah aus wie eine Träne. Weinte Roxane? Vic blieb vor ihr stehen. Die Neugier trieb sie. Die Spannung platze wieder in ihr Herz und sie konnte sich nicht gegen den Drang wehren, der sich so geschwind aufgebaut hatte, nun in ihrem Körper verlangte, gebot, sie handeln ließ und damit drohte, ihr Herz zerspringen zu lassen, wenn sie sich ihm verweigerte. Mit Bestimmtheit und mit einer Erlaubnis, die sie nur sich selbst gegeben hatte, strich sie mit zwei Fingern Roxanes Haare beiseite und enthüllte damit die trostlose Gestalt, das Gesicht, welches schön, aber unvollkommen war. Vic durchfuhr ein leichtes Schaudern. Aber die Faszination obsiegte. Sie schaute nicht weg. Ihre Augen weiteten sich bei dem Anblick der augenlosen Schönheit. Blutige leere Löcher, aus denen noch immer mit rubinrote Lebenssaft tropfte. Kein Augapfel, der diese zierte. Die Schönheit des blanken Fleisches in einem Gesicht von Alabaster. Roxanes Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. "Ich bin blind.", meinte sie leicht. "Weswegen?", hauchte Vic und ihr Herz schlug. Aber wie es schlug! Dieser ganz bestimmte Rhythmus. Liebe! Nur im Liebesmoment bediente sich ihr Herz dieses Schlags. Machte sie dieser Anblick denn verliebt? "Ich habe mir die Augen ausgekratzt als ich Vampir wurde und diese Wunde heilt nun nie mehr. Ein schmerzliches Schicksal trägt uns auf seiner Irrfahrt davon; nicht wahr, du kennst es auch? Mit deinem Mann." Vic sank auf die Knie. Ihre Beine gaben schwer nach und sie kniete vor Roxane, wie Connor es sonst immer in seiner inbrünstigen Liebe tat. Dieses entstellte Wesen, welche Göttin, welche Heilige! Wunderschön durch ihre Entstellung. Vic fühlte sich, wie in einem Moment höchster Ekstase. Wie wenn sie mit Leif schlief und ihn in sich spürte. Und diese Frau vor ihr, löste das alles nur durch ihre Erscheinung aus. Verwirrt blickte sie sie an und hauchte ihr ein Ja als Antwort zu. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)