Die Welt im Wandel von Nochnoi (Oneshot-Sammlung zu "Dunkelheit/Vergeltung") ================================================================================ Kapitel 4: Lydia ---------------- London, England (1888): Es gab Dinge im Leben, die man einfach nicht vorhersehen konnte. Unwetter, die ohne die geringste Vorwarnung aufzogen und selbst einen wackeren Vampir zu erschrecken vermochten. Ein Donner, so dröhnend, dass man vor Überraschung aus dem Bett fiel. Und ein heller Blitz, der die Nacht zum Tage machte. Alec hatte im Moment auch das Gefühl, im erbarmungslosen Regen zu stehen. Dabei war der Himmel relativ wolkenlos, was für englische Verhältnisse fast schon ein Wunder war. Und dennoch war es Alec, als würde ein schweres Gewitter über ihm toben. „Ich hab dir doch gesagt, dass du aufpassen musst.“ Ling-Nis Stimme war eindeutig zu heiter. Er machte sich nicht mal ansatzweise die Mühe, sowas ähnliches wie Mitgefühl zu heucheln. Alec bedachte ihn mit einem düsteren Blick. „Halt bloß deine Klappe, Li!“ Der Angesprochene jedoch war nicht gewillt, dem Folge zu leisten. „Schon immer habe ich dich davor gewarnt, jedem einzelnen Rock hinterherzulaufen. Aber nein, warum sollte der Casanova auch auf mich hören? Wieso sollte er überhaupt daran denken, den Ratschlag eines Klügeren anzunehmen?“ Ling-Ni grinste eindeutig viel zu schadenfroh, als er hinzufügte: „Das hast du nun davon!“ Alec kniff seine Augen zusammen und wollte zu einer passenden Antwort ansetzen, wurde aber plötzlich von einem kleinen Jungen in dreckiger Kleidung unterbrochen, der aus dem Nichts hervorzuspringen schien und ihnen die neuste Ausgabe der London Times unter die Nase hielt. „Extrablatt!“, brüllte er ihnen entgegen, als würde er sie für schwerhörig halten. „Jack the Ripper hat wieder zugeschlagen! Lesen Sie alles über sein neustes Verbrechen.“ Alec bugsierte den aufdringlichen Knaben wenig liebevoll zur Seite und ging an ihm vorbei. „Wie die Schmeißfliegen“, zischte er Ling-Ni zu. „London ist mit der Zeit wirklich viel zu bevölkert geworden. Wie viele Menschen leben jetzt hier?“ „Keine Ahnung“, meinte der andere. „Auf jeden Fall viel zu viele.“[1] Alec ließ seinen Blick schweifen. Die Straße war uneben und dreckig, ebenso wie die Gebäude, die rechts und links von ihnen emporragten. Unzählige Menschen in dunkler Kleidung und mit den typischen Melonenhüten auf den Kopf huschten über die Gehwege und versuchten, der eisigen Kälte des Winters durch Bewegung oder dem schnellen Hineilen in eine wärmere Behausung zu entkommen. „Die Menschen sollten eigentlich langsam gemerkt haben, dass die Zustände immer schlechter werden, je enger sie sich zusammenrotten.“ Alec schüttelte verständnislos den Kopf. „Und jetzt verhungern sie hier in den schmutzigen Gassen, während sie eigentlich nur in die Natur zu gehen bräuchten, um zu überleben.“ Ling-Ni zuckte mit den Schultern. „Die Menschen sind mit der Zeit nur dumm und verweichlicht geworden. Irgendwann werden sie es allesamt bitter bezahlen.“ Alec konnte dem nur uneingeschränkt zustimmen. „Idioten“, murmelte er. Er schwieg einen Augenblick und beobachtete eine ärmliche Frau, die mühsam versuchte, ranzige Schuhcreme zu verkaufen, ehe er sich wieder zu Ling-Ni beugte und fragte: „Wer ist überhaupt Jack the Ripper?“ „Ich glaube, irgendein Serienmörder“, meinte dieser desinteressiert. „Ist sowieso unwichtig. In ein paar Wochen kann sich bestimmt niemand mehr an diesen Kerl erinnern.“ Alec nickte verstehend. „Ist eh ein selten dämlicher Name …“ Gemeinsam schritten sie weiter die Straßen hinab. Alec selbst hatte keine Ahnung, wohin sie gingen, Ling-Ni aber schien den Weg genau zu kennen. Er grüßte sogar einige Menschen und plauderte auch kurz mit einem Fischverkäufer, der sehr nach Meerestieren roch und einen ungemein starken Akzent hatte. Ling-Ni hielt sich auch schon seit ungefähr zwei Jahren kontinuierlich in London auf und hatte die Stadt in den Jahrzehnten zuvor immer wieder sporadisch besucht, sodass er dessen Straßen und Gassen fast wie seine Westentasche kannte. Alec war das letzte Mal in Englands Hauptstadt gewesen, als noch niemand geglaubt hatte, dass es in Frankreich eine Revolution geben würde. „Du bist sicher, die alte Hexe kann mir helfen?“ Er massierte sich die Hände und versuchte, die bohrenden Blicke einiger Passanten so gut wie möglich zu ignorieren. Er hasste diese ungewollte Aufmerksamkeit der letzten Wochen über alle Maßen. „Bestimmt“, meinte Ling-Ni derweil zuversichtlich. „Niemand weiß mehr über die Magie als sie. Na ja, abgesehen von Asrim und Necroma vielleicht.“ Alec schnaubte. Am liebsten hätte er sich mit seinem Problem auch an einen von ihnen gewandt. Doch Asrim trieb sich mal wieder irgendwo in der Weltgeschichte herum und würde erst wieder auftauchen, wenn ihm der Sinn danach stand, und Necroma war vor gut fünfzig Jahren in die Neue Welt aufgebrochen. Und sosehr sich Alec auch ihre Hilfe wünschte, eine Überquerung des Atlantiks war wirklich nur der Notfallplan. Wenn es gar nicht mehr anders ging. „Dort ist es“, meinte Ling-Ni unvermittelt und deutete auf ein Reihenhaus, das zwischen anderen Häusern derselben Machart eingequetscht war. Es war ein neumodisches Gebäude, das höchstens zwanzig Jahre alt sein konnte, aber an manchen Stellen den Eindruck erweckte, als hätte es schon mehrere Jahrhunderte auf dem Buckel. Alec war es einerlei. Solange das Ding nicht über seinem Kopf zusammenstürzte, war alles in Ordnung. Und wenn er ehrlich zu sich war, hatte er selbst auch schon in weitaus schlimmeren Behausungen gelebt. Ohne zu zögern kletterte er die paar Stufen zur Haustür hoch und klopfte mehrere Male ungeduldig. Dabei interessiert gemustert von einem Nachbarn, der die Hausbesitzerin wahrscheinlich bestens kannte und sich fragte, was ein Fremder wohl bei ihr wollen könnte. Ling-Ni zumindest hatte ihm erzählt, dass das Treiben der alten Hexe ein offenes Geheimnis in diesem Viertel war. „Vergiss nicht, sei höflich“, rief Ling-Ni ihm nochmal in Erinnerung. Er begann, Alec am Kragen herum zu zupfen und ihn zurechtzurücken. „Schau ihr immer in die Augen und halte deine Antworten so kurz wie möglich. Sie hält nichts von Leuten, die um den heißen Brei herumreden oder gar Smalltalk mit ihr führen wollen. Sei charmant, aber nicht dreist. Und starr ihr vor allen Dingen nie auf die Hände.“ „Warum nicht?“ „Keine Ahnung“, entgegnete Ling-Ni. „Es regt sie einfach auf.“ Alec wollte noch weiter nachhaken, doch plötzlich öffnete sich die Tür und er sah sich einer gedrungenen Gestalt gegenüber, die ihn argwöhnisch musterte. Ihr Blick huschte von einem Vampir zum anderen, als sie herrisch fragte: „Was wollen Sie?“ „Ich bin’s“, meinte Ling-Ni und winkte kurz, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. „Du hast mich doch sicher nicht vergessen, oder?“ Die alte Frau betrachtete ihn aus ihren milchigen Augen und schien tatsächlich zu überlegen, wer da gerade vor ihr stand. Dann aber schien die Erinnerung sie wieder einzuholen. „Ling-Ni, chinesischer Edelmann, Waffen- und Kampfexperte, besserwisserisch und nervig, aber an und für sich ganz süß. Manchmal jedoch extrem ungehobelt, was man aber getrost der unsympathischen und aggressiven Zwillingsschwester zur Last legen kann.“ Sie schaute an ihnen vorbei auf die Straße. „Leyal ist doch nicht mit euch gekommen, oder?“ „Nein.“ „Gut“, meinte die alte Frau erleichtert. „Ich kann das Miststück absolut nicht ausstehen.“ Alec hob eine Augenbraue. Die Dame hinterließ einen interessanten ersten Eindruck, das musste er ihr schon lassen. Äußerlich wirkte sie wenig auffällig – wie eine Frau in den späteren Jahren mit weißem Haar, faltiger Haut, getrübten Augen und gebückter Haltung –, aber man spürte deutlich, dass noch mehr dahintersteckte. Dass ihre Erscheinung bloß Fassade war und ihre wahre Macht versteckte. „Das hier ist Alec“, stellte Ling-Ni seinen Freund vor. „Wir haben über ihn gesprochen. Du erinnerst dich?“ „Muss ich?“ „Das wär wirklich nicht schlecht, Lydia.“ Die Angesprochene seufzte tief, ehe sie Alec näher in Augenschein nahm. Normalerweise war der Vampir gewöhnt, dass die Damen bei seinem Anblick lächelten, aber Lydias Mundwinkel zogen sich stattdessen nach unten. Ihr schien der Besuch gar nicht zuzusagen. „Für mich sieht er aus wie ein dreckiger Lump“, lautete schließlich ihr Ergebnis. „Ein dreckiger Lump und gleichzeitig ein arroganter Schönling, der sich für etwas Besseres hält.“ Alec überlegte, ob er auf diesen Kommentar eingehen sollte, entschied dann aber, dass er schon bei weitem schlimmer beleidigt worden war. Wenn man bedachte, was die Römer bei der Invasion Galliens über ihn gesagt hatten, war Lydias Bemerkung sogar regelrecht liebenswert. „Alec ist ein netter Kerl“, entgegnete Ling-Ni und klang dabei unglücklicherweise nicht ganz so überzeugt, wie Alec sich das gewünscht hätte. Lydia machte derweil den Eindruck, als würde sie kein einziges Wort glauben. Und dennoch trat sie zur Seite und bedeutete ihnen damit, einzutreten. „Weil du es bist, Ling-Ni.“ Ling-Ni grinste zufrieden und setzte sich in Bewegung. Dicht gefolgt von Alec, der immer noch nicht ganz sicher war, was er von dem Ganzen halten sollte. Würde diese alte und unhöfliche Schachtel ihm wirklich helfen können? Das Innere des Hauses wirkte beengt und dunkel, hatte Lydia immerhin so gut wie alle Vorhänge zugezogen und von dem Wort ‚Aufräumen‘ offenbar noch nie etwas gehört. Es herrschte das komplette Chaos, sodass es selbst Alec, der schon so einiges in seinem Leben gesehen hatte, fürs erste die Sprache verschlug. Er bemühte sich jedoch, sich sein Erstaunen nicht anmerken zu lassen, um Lydias eh schon miese Stimmung nicht noch weiter zu belasten. „Was also wollt ihr hier?“, verlangte die alte Frau zu erfahren. Sie begab sich in einen Raum, der wohl das Wohnzimmer darstellen sollte, und nahm auf einem Sessel Platz. „Na ja …“, meinte Ling-Ni zögerlich. „Es ist doch mehr als offensichtlich, oder?“ Und damit deutete er auf Alec. Lydia verzog spöttisch ihre Mundwinkel. „Ja, es ist tatsächlich ziemlich offensichtlich. Da hat sich der kleine Vampir wohl ganz schön in die Scheiße geritten, was?“ Alec zog seine Mundwinkel nach unten. Er mochte ihre Wortwahl nicht, konnte aber unglücklicherweise nicht widersprechen. Er warf einen Blick zur Seite, direkt auf einen Spiegel, und betrachtete sich selbst. Früher hatte ihm immer ein ansehnlicher Bursche entgegengeblickt, der sich trotz seines hohen Alters nicht verändert hatte. Aber nun schaute er auf einen Witz. Sein ganzes Gesicht war mit hässlichen Flecken übersät, die in den verschiedensten Farben schillerten. Blau, grün, rot, violett, gelb – es kam einer Farbpalette gleich. Jeder Maler wäre begeistert gewesen. Und es war nicht nur das Gesicht. Hätte sich Alec seiner Kleidung entledigt, hätte man bemerkt, dass sein ganzer Körper davon betroffen war. Es gab kaum noch einen Zentimeter Haut, der normal war. „Wirklich ein Kunstwerk“, meinte Lydia anerkennend. Alec knurrte. „Eher eine furchtbare Plage.“ Die alte Frau schüttelte aber ihren Kopf. „Na, na, jetzt übertreib aber nicht, Bürschchen. Die alten Ägypter haben damals weitaus schlimmeres durchgemacht. Die wären mehr als nur froh gewesen, wenn man sie bloß angemalt hätte.“ Angemalt? Alec knirschte mit den Zähnen. Lydia benahm sich, als wäre er aus Versehen in einen Farbtopf geplumpst. „Wie ist das denn passiert?“, erkundigte sie sich daraufhin. „Er hat sich mit der falschen Frau eingelassen, wie üblich“, antwortete Ling-Ni, bevor Alec überhaupt den Mund aufmachen konnte. „Ein Zigeunermädchen, soweit ich weiß. Hübsch, verführerisch und leider auch fürchterlich eifersüchtig. Als sie Alec mit einer anderen Frau erwischte, ist sie offenbar ausgerastet.“ Alec wurde nicht gerne daran erinnern. Sophia war eine Schönheit gewesen, wohlwahr, aber auch besitzergreifend und klammernd. Schnell hatte er sich von ihr zu befreien zu versucht, nur um festzustellen, dass sie ausgesprochen hartnäckig war. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, dass Alec ihr Traummann war, und war nicht bereit gewesen, ihn gehen zu lassen. Der Vampir hätte ihr natürlich einfach die Kehle aufreißen und ihr Blut trinken können. Aber Alec hatte schon immer Skrupel gehabt, schöne junge Frauen aus dem Leben zu reißen. Und so nervig sich Sophia auch verhielt, sie hatte immer noch ein gutes Herz. So zumindest hatte Alec es angenommen. „Du weißt ja, wie diese Zigeuner sind“, meinte Ling-Ni. „Magier und Schamanen tummeln sich bei denen zuhauf. Auch besagte Sophia selbst war in der Hexenkunst sehr bewandert.“ Lydia nickte verstehend. „Sie hat dich verflucht.“ „Wie ist das überhaupt möglich?“, zischte Alec. „Ich bin ein Vampir! Magie gegen uns einzusetzen, ist zwecklos.“ Lydia streichelte gedankenverloren über etwas, das erschreckend nach dem Schädel eines Tieres aussah. „Es ist nicht zwecklos“, erwiderte sie. „Es ist nur nicht besonders effektiv. Untote sind stärker im Nehmen und können der Magie länger trotzen als andere Wesen. Der Fluch, den das Zigeunermädchen ausgesprochen hat, sollte dich wahrscheinlich regelrecht pulverisieren und auslöschen, aber dank der Tatsache, dass du ein Vampir bist, hat er nur …“ Sie hielt inne und suchte nach den richtigen Worten: „Na ja, er hat dir nur ein bunteres und fröhlicheres Äußeres verpasst.“ Alec blieb eine Weile still und ließ diese Information erst einmal sacken. Schließlich fragte er zögernd: „Sophia wollte mich tatsächlich umbringen?“ Er hätte eigentlich überrascht und schockiert sein sollen. Zwar hatten ihm schon viele nach dem Leben getrachtet, aber dies auch meist aus annehmbaren Gründen. Alec zumindest hatte ihnen niemals einen Vorwurf gemacht. Allerdings hatte noch nie eine Frau einen Mordanschlag auf ihn verübt, nur weil er sie zurückgewiesen hatte. Andererseits erstaunte es Alec nicht allzu sehr. Sophia hatte sich, nachdem er sie ein bisschen besser kennen gelernt hatte, als psychisch gestört herausgestellt. Wenn sie etwas nicht bekam, setzte sie alles daran, damit auch niemand anderes es kriegte. Ob es das Kleid ihrer Cousine war oder doch ihr Liebhaber. Da machte sie anscheinend keinerlei Unterschied. „Der Fluch muss ausgesprochen stark gewesen sein, damit es bei einem Vampir solch eine Wirkung zeigt“, meinte Lydia und betrachtete Alec erwartungsvoll. „Und das hat sie wirklich nur gemacht, weil sie dich mit einer anderen erwischt hat?“ Der Vampir wiegte seinen Kopf hin und her. „Na ja, vielleicht habe ich auch noch ihre Schwester verführt, ihren Vater bei der örtlichen Polizei verpfiffen und ihr Lieblingspferd gestohlen.“ Er hob die Schultern. „Rechtfertigt das einen Mord?“ Lydia schnaubte. „Ich an Sophias Stelle hätte dir den Kopf abgehackt und deine Überreste verbrannt.“ Alec verzog sein Gesicht. Diese Frau hätte ihn wahrscheinlich auch schon geköpft und eingeäschert, wenn er bloß eine Vase umgestoßen hätte. „Kannst du mir nun helfen oder nicht?“, wollte er ungeduldig wissen. Lydia musterte ihn eine Zeit lang und schien zu überlegen, ob er die Mühen wert war. Alec biss sich derweil auf die Zunge und hütete sich davor, irgendeinen dreisten Kommentar abzugeben, der sie vor den Kopf gestoßen hätte. „Ich wüsste da vielleicht etwas, das helfen könnte“, meinte sie schließlich sehr zu Alecs Erleichterung. „Allerdings musst du dich darauf einlassen, ohne irgendwelche dummen Fragen zu stellen.“ Der Vampir nickte sofort. „Kein Problem.“ Lydias spröde Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das mehr als schadenfroh wirkte. „Sehr gut. Dann mach einen Handstand.“ Alec blinzelte verdutzt. „Bitte?“ „Ein Handstand!“, wiederholte sie mit Nachdruck. „Du weißt doch hoffentlich, was das ist, oder?“ Alec schnaubte abfällig. „Natürlich. Aber warum soll ich …?“ „Es hilft“, meinte Lydia. „Es regt deinen Blutkreislauf an, sodass das Gegenmittel später besser wirken kann. Zwanzig Minuten sollten fürs erste genügen.“ Alec runzelte die Stirn. Meinte die Alte das wirklich ernst? „Das ist doch …“ „Lächerlich?“, vollendete Lydia seinen Satz. „Ich weiß, es klingt vielleicht etwas merkwürdig, aber glaub mir, es bewirkt wahre Wunder. Würde ich dich anlügen? Ihr Vampire könnt es doch erkennen, wenn euch jemand einen Bären aufbindet.“ Dem konnte Alec nicht widersprechen. Und ebenso vermochte er in Lydias Worte keinerlei Lüge zu erkennen. Es war zwar seltsam und eigenartig, aber offenbar wirklich hilfreich. Somit blieb Alec keine andere Wahl. Er hätte alles getan, um diesen hartnäckigen Fluch wieder loszuwerden. Die nächsten zwanzig Minuten verbrachte er daher auf dem Kopf und kam sich ziemlich lächerlich vor. Lydia verkniff sich zwar jedweden spöttischen Kommentar, dafür war Ling-Ni umso lebhafter. Er amüsierte sich königlich und war schließlich schon drauf und dran, loszuziehen und einen Fotografen von der London Times zu entführen, die alle mit diesen neumodischen Kameras durch die Gegend liefen, um das Bild von Alec für alle Ewigkeiten festzuhalten. Alec währenddessen nutzte die Zeit, um sich allerlei kreative Foltermethoden auszudenken, die er an Ling-Ni ausprobieren würde. „Und jetzt brauche ich ein paar Zutaten“, meinte Lydia, als Alec endlich wieder auf seinen Füßen stand. Sie überreichte ihm einen kleinen Zettel. Der Vampir musterte die Notizen. „Kartoffeln, Zwiebeln …? Was soll das denn für ein Gegenzauber sein?“ „Bist du der Magier hier oder ich?“, zischte sie. „Tu einfach, was ich dir sage. Und geh am besten nicht an die üblichen Stellen. Ein paar Sachen auf der Liste sind sehr exotisch und um diese Jahreszeit nur ausgesprochen schwer zu bekommen. Aber ich kenne jemanden, der ein wirklich beeindruckendes Repertoire hat. Er wohnt in Whitechapel. Sagt ihm, dass ich euch schicke, und dann wird er euch alles geben.“ „Whitechapel?“, hakte Ling-Ni nach, während er sein Gesicht verzog. „Das ist ja eine Weltreise. Abgesehen von der Tatsache, dass dieses Viertel alles andere als einen guten Ruf hat.“ Lydia zuckte aber nur mit den Achseln. „Sei nicht zimperlich, Vampir. Es geht hier immerhin um Alecs makellose Haut, damit er sich wieder unter Leute trauen kann.“ Sie lächelte schief. „Und seid vorsichtig. Ich hab gehört, im East End soll sich ein Serienmörder herumtreiben.“ Alec schnaubte, ehe er sich umdrehte und sich mit Ling-Ni im Schlepptau in Bewegung setzte. Jack the Ripper oder irgendeinem anderen offensichtlichen Mörder begegneten sie auf ihrem Weg zwar nicht, dafür allerlei anderen zwielichtigen Gestalten, auf deren Gesellschaft Alec sehr gut hätte verzichten können. Wäre er noch ein Mensch gewesen, hätte er diese Personen zu seiner eigenen Sicherheit partout gemieden. Lydias Freund erwies sich als grobschlächtiger und unfreundlicher Riese, der nicht allzu viel von Hygiene zu halten schien. Aber die Lebensmittel, die er unter der Hand vermittelte, machten dennoch einen guten Eindruck, sodass Alecs Bedenken ein wenig abnahmen. Auch als sie Stunden später wieder mit ihren Einkäufen bei Lydia auftauchten, war diese sehr zufrieden. „Wunderbar“, sagte sie. „Dann werde ich jetzt alles vorbereiten. Und du kannst dich was nützlich machen, Alec.“ Der Vampir hob eine Augenbraue. „Nützlich …?“ „Körperliche Arbeit“, erklärte Lydia, als hätte sie es mit einem Zurückgebliebenen zu tun. „Das regt deinen Kreislauf und deinen Organismus an. Gute Voraussetzungen, damit das Gegenmittel besser wirkt.“ Sie schwieg einen Moment. „Du kannst natürlich auch zwei Stunden einen Handstand machen, das dürfte in etwa denselben Effekt für den Gegenzauber haben.“ Alec hob sofort abwehrend die Hände. Nicht noch einmal wollte er sich vor dem schadenfrohen Ling-Ni diese Blöße geben. „Ich mache mich gerne nützlich“, meinte er daraufhin und versuchte sich an einem einigermaßen überzeugenden Lächeln. Und so verbrachte Alec die nächsten Stunden damit, das löchrige Dach abzudichten, Leitungen zu reparieren und quietschende Fenster und Türen zu reparieren. Ling-Ni beobachtete ihn dabei eine Weile tatenlos und gab nur ab und an einen Kommentar zum besten, aber schließlich erbarmte er sich und ging seinem Freund zur Hand. Aber weniger, um Alec wirklich zu unterstützen, sondern eher aus der Tatsache heraus, dass er irgendwann anfing, sich zu langweilen. Schließlich begaben sie sich wieder ins Wohnzimmer und wurden von einem bestialischen Gestank begrüßt. Alec hielt sich sofort die Hand vor Mund und Nase und fluchte: „Du heilige Hera, was hast du gemacht, alte Hexe? Verwest du allmählich?“ Lydia kam aus der Küche, in ihrer Hand eine Flasche mit einem grünlichen Inhalt und auf ihrem Gesicht ein Ausdruck tiefsten Missfallens. „Verkneif dir deine dummen Sprüche, Vampir, sonst werfe ich das hier in den Müll und du darfst für immer und ewig als Farbpalette durch die Gegend laufen.“ Alec schaute auf die Flasche, die ganz offensichtlich der Auslöser des Gestanks war. „Das ist das Gegenmittel?“, fragte er entsetzt und hoffte im selben Moment, dass Lydia ihren Kopf schütteln würde. Doch sie tat ihm den Gefallen nicht. „Ganz recht. Das ist eine Salbe, die deinem hübschen, bunten Ausschlag entgegenwirken wird.“ Alec riss die Augen auf. „Aber …!“, begann er. „Das stinkt furchtbar! Als wäre The Great Stink zurückgekommen und hätte sich in der Flasche niedergelassen.“[2] Ling-Ni warf ihm einen Seitenblick zu. „Du warst doch zu dieser Zeit gar nicht in London.“ „Aber ich hab davon gehört“, erwiderte Alec. „Und schon die Geschichten haben mir mehr als gereicht. Und jetzt soll ich eine Salbe …?“ Er konnte nicht weitersprechen, es war alles zu viel. „Drei Wochen“, meinte Lydia. „Oder besser vier, um wirklich alles auszumerzen. Einmal am Tag auftragen und dich am besten von Lebewesen fernhalten.“ „Dadurch wirkt es besser?“ „Nein, es wäre einfach nur nett von dir, dass du nicht deine Umgebung verpestet, wenn du wie eine Kloake riechst.“ Ling-Ni nickte bei diesen Worten bestätigend, woraufhin Alec ihn mit einem düsteren Blick bedachte. „Verdammt, ich hätte nie gedacht, dass Kartoffeln und Zwiebeln dermaßen stinken können“, zischte er übellaunig. Lydia schwieg einen Augenblick, ehe sie sagte: „Oh, das sind nicht die Zutaten, die ihr aus Whitechapel geholt habt. Das, was ich für die Salbe brauchte, hatte ich alles noch hier.“ Alec blinzelte. Hatte er das gerade richtig verstanden? „Aber warum mussten wir dann …?“ „Ich wollte mir heute Abend eine Suppe machen“, verkündete Lydia lächelnd. „Und ohne Lebensmittel geht das ja etwas schlecht, nicht wahr?“ Alec knirschte mit den Zähnen. „Deswegen hast du uns ins East End geschickt?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Warum hätte ich mir selbst die Mühe machen sollen, wenn mich zwei so leichtgläubige Gentlemen besuchen?“ Alec holte einmal tief Luft und rang um Fassung, als ein Verdacht in ihm hochstieg. „Was ist mit dem Handstand? Dem Hämmern und Zimmern?“ Lydias darauffolgendes Lächeln gefiel dem Vampir überhaupt nicht. „Für dein kleines Fluch-Problem völlig unnötig. Aber es war extrem lustig, wie du die ganze Zeit so emsig auf deinem Kopf standest.“ Sie musterte ihn eindringlich. „Und was das Hämmern und Zimmern angeht … das wollte ich schon lange mal einen Handwerker anvertrauen. Aber dann kamt ihr und wart so naiv, da musste ich einfach zuschlagen.“ Alec überkam das unbändige Verlangen, dieser Frau an den Hals zu fallen. Und er benötigte all seine Willensstärke, um ruhig zu bleiben. Lydia grinste derweil spöttisch. „Tja, dumm, dass ich die Fähigkeit besitze, Vampire anzulügen, wie es mir passt, nicht wahr?“ Alec knirschte mit den Zähnen und ballte seine Hände zu Fäusten. Plötzlich kam ihm sein schon seit Jahrtausenden befolgter Vorsatz, alten Menschen nichts anzutun, überholt und vorsintflutlich vor. Es wäre so leicht gewesen, Lydia den Hals umzudrehen. Ihr das gehässige Grinsen von den Lippen zu wischen. So einfach … Doch Alecs Rachegedanken wurden jäh unterbrochen, als Ling-Ni amüsiert auflachte. „Oh Mann, Lydia, das hätte ich eigentlich kommen sehen müssen. Schon die Sache mit dem Handstand fand ich merkwürdig … doch ich hab nichts gesagt.“ Alec funkelte ihn zornig an. „Das hättest du aber vielleicht mal tun sollen!“ Ling-Ni zuckte bloß unbekümmert die Schultern. „Es sah aber wirklich verdammt witzig aus!“ Alec knurrte übellaunig, ehe er Ling-Ni einen Klaps auf den Hinterkopf verpasste. Dann ergriff er ungeniert die Flasche mit dem stinkenden Inhalt aus Lydias Händen und zischte: „Wehe, wenn das hier nicht funktioniert!“ „Es wird funktionieren“, sagte sie dermaßen überzeugt, dass man ihr zwangsläufig einfach glauben musste. Alec schnaubte daraufhin wutentbrannt. „Wenn wir uns das nächste Mal sehen, werde ich dir den Kopf abreißen und ihn falschrum wieder aufsetzen!“ Lydia lächelte bei dieser Drohung nur unbeeindruckt. „Nein, wirst du nicht“, meinte sie, bevor sie sich abwand und in Richtung Küche verschwand. Alec hörte, wie sie Fenster öffnete, um den furchtbaren Gestank aus ihren vier Wänden zu vertreiben. Ling-Ni beugte sich derweil zu seinem Freund und grinste breit. „Sie gefällt dir, nicht wahr?“ Alec warf ihm hierauf einen drohenden Blick zu. „Sei froh, dass Leyal mich anzünden würde, wenn ich dir etwas antue. Ansonsten wärst du in der nächsten Minute tot!“ Mit diesen Worten drehte er sich um und ging. Weg von der alten und schadenfrohen Hexe. Die nächsten Wochen sah Alec sich genötigt, tagein tagaus wie die Hölle auf Erden zu stinken. Isoliert und abgeschottet vom Rest der Welt. Selbst die Blutopfer, die ihm die anderen Vampire hin und wieder mit zugehaltenen Nasen vorbeibrachten, fürchteten sich mehr vor dem Gestank als vor seinem dämonischen Antlitz. Es waren lange Wochen. Lange, lange Wochen. Die schließlich aber auch den gewünschten Erfolg erzielten. Allerdings benötigte Alec noch zwei weitere Monate, um den Geruch, der sich tief in seinen Körper gefressen hatte, vollends loszuwerden. Und das alles nur, um letztlich von Necroma, die gut zehn Jahre später wieder nach Europa zurückgekehrt war, zu erfahren, dass ein einfacher und unkomplizierter Gegenzauber ohne jeglichen Gestank völlig ausgereicht hätte. ________________________________________ [1] Wen’s interessiert: London hatte zu dieser Zeit knapp 5 Millionen Einwohner. [2] The Great Stink von 1858: Damals war das Abwasser in die Themse geleitet worden. Und im Jahr 1858 war der Sommer dermaßen heiß, dass … na ja, man kann es sich vorstellen. Kurz gesagt: Eine sehr eklige und bestialisch stinkende Angelegenheit. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)