Little Man - Great Heart von abgemeldet (Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt...) ================================================================================ Kapitel 14: ~Back to Cologne~ ----------------------------- Kapitel 14 – Zurück nach Köln Sie stand vor dem Spiegel und band ihre Haare zu einem leichten Knoten zusammen. Die Farbe war immer noch gewöhnungsbedürftig. Das Hellbraun passte gut zu ihr, aber gewöhnen müsste sie sich trotzdem erst noch daran. „Chrissi, wir bringen deine Tasche schon ins Auto!“, rief Philipp ihr aus dem Flur zu. „Ist gut. Ich komme auch gleich!“, rief sie zurück. Sie hörte die Haustür ins Schloss fallen. Er war also da, der Tag, an dem sie aus München abreisen würde. Christella schaute sich in ihrem Zimmer um. Sie würde es vermissen. Sie würde alles vermissen. Sie musste schmunzeln, wenn sie an das dachte, was sie mit Philipp und Nicola in den letzten drei Tagen unternommen hatte. Sie waren shoppen, gemeinsam in einem Schwimmbad – mitten im Winter –, im Kino und beim Friseur. Nicola hatte sich so sehr gefreut, als sie Christellas neue Frisur gesehen hatte. Sie war völlig aus dem Häuschen und überhäufte den Friseur mit Lob. Noch interessanter war das gemeinsame Shoppen gewesen. Während Philipp unauffällig wie immer sämtliche Taschen trug, die Nicola ihm reicht, zog sie Christella in jeden Laden rein und fand irgendwie immer etwas, dass sie sich oder Christella unbedingt kaufen wollte. Es war zu komisch gewesen. An diesen Tagen hatte Nicola so viele Fotos geschossen, wie es nur irgendwie ging. Sämtliche Fotos davon lagen jetzt in Christellas Handtasche. Sie nahm sie heraus und schaute sie noch einmal an. Sie musste grinsen als sie ein Foto fand, das Philipp zeigte, wie er mit Tüten beladen zum Auto schwankte. Kurz nachdem dieses Foto entstanden war, sind ihm einige Tüten aus der Hand gefallen. Nicola und Christella hatten sich auf seine Kosten köstlich amüsiert. Die Tür zu Christellas Schlafzimmer wurde geöffnet. „Kommst du? Wir müssen los.“ Nicola stand im Türrahmen und beobachtete sie. „Ich komme.“ Schnell packte Christella die Fotos zurück in ihre Tasche. Sie nahm sich den Bilderrahmen mit einem Foto von ihr und Florian vom Nachttisch, genauso wie das Handy, legte beides zu den Fotos in die Tasche und ging gemeinsam mit Nicola raus. „Es ist so schade, dass du gehst… Aber glaub mir, nicht lange, dann kommen wir dich besuchen, ehrlich“, versicherte Nicola ihr. Christella sagte nichts. Es grauste ihr einfach nur vor der Vorstellung, dass sie in ein paar Stunden in Köln sein würde, wahrscheinlich im Büro der Heimleiterin, und die größte Standpauke aller Zeiten erleben würde. Sie war sich mittlerweile ziemlich sicher, dass sie großen Ärger bekommen würde, weil sie geflohen war. „Schau nicht so traurig. So schlimm wird’s schon nicht werden“, meinte Nicola. Sie hatte ja keine Ahnung, wie es im Heim zuging. Christella zuckte mit den Schultern. Am besten, sie ließ Nicola ihre Illusion. Am Auto angekommen setzte sich Christella auf die Rückbank. Sie versuchte während der Fahrt nicht daran zu denken, dass sie nur noch ein paar Minuten haben würde, bis sie Philipp und Nicola für eine sehr lange Zeit verlassen müsste (wenn sie das Gelände des Heims überhaupt je in ihrem Leben wieder verlassen dürfte). Sie versuchte auch nicht daran zu denken, dass Florian wahrscheinlich mehr als überrascht sein würde, wenn er sie mit Philipp auf dem Bahnhof sehen würde. Er wollte ebenfalls zum Bahnhof kommen. Noch mehr als alles andere schmerzte es Christella, Florian zu verlassen. Sie seufzte, schüttelte den Kopf und schaute Philipp beim Autofahren zu, aber auch das brachte ihre Gedanken nicht zur Ruhe. Sie kam nicht umhin sich die ganze Zeit über vorzustellen, was sie in Köln erwarten würde. Angst ergriff sie, wenn sie daran dachte, wieder auf die anderen Jugendlichen aus dem Heim zu treffen. Energisch schüttelte sie den Kopf, um den Gedanken aus ihren Kopf zu katapultieren – doch es half nichts. Die Angst vor diesen Begegnungen wuchs stetig. „Was ist los? Wieso schüttelst du den Kopf?“, fragte Philipp verwirrt. Er hatte Christella durch den Rückspiegel beobachtet und mitbekommen, wie sie energisch den Kopf geschüttelt hatte. „Ach, nichts. Ist schon in Ordnung…“, antwortete Christella schwach. „Wir sind gleich da“, meinte Nicola. Dann trat erneutes Schweigen ein. Niemand der drei Insassen wusste genau, was sie sagen sollten. Immer noch schweigend stiegen sie schließlich aus dem Wagen, nachdem Philipp endlich einen Parkplatz ergattert hatte. Er nahm Christellas Tasche und führte sie zum richtigen Gleis. Nicola lief neben Christella her. Diese jedoch hielt die ganze Zeit bloß Ausschau nach Florian. Sie konnte ihn nirgends entdecken. Ein kurzer Blick auf die große Uhr, die in der Mitte des Gleises stand, sagte ihr, dass ihr Zug in zehn Minuten eintreffen würde. Zehn Minuten… bei dem Gedanken daran zog sich ihr Magen schmerzhaft zusammen. Philipp stellte die Tasche ab. Er räusperte sich. „Gleich kommt der Zug“, sagte er. Seine Stimme klang ziemlich rau. Nicola nahm Christella in den Arm. „Ich werde dich so vermissen“, murmelte sie. Christella erwiderte die Umarmung, musste sich in Gedanken allerdings zurechtweisen, nicht gleich wieder anzufangen zu weinen. Der Abschied von Rosemarie am Tag zuvor war tränenreich genug gewesen. Als die alte Dame erst angefangen hatte, konnte diese nicht mehr aufhören und Christella begann plötzlich auch zu weinen. Sie riss sich zusammen. „Ich dich auch, Nicola“, murmelte sie zurück und ließ dann von Nicola ab. Erneut ließ sie den Blick über die Menge schweifen und versuchte, irgendwo Florian zu erspähen. Dabei fiel ihr etwas ein. Sie öffnete ihre Handtasche und zog das Handy aus der Tasche. Sie trat einen Schritt auf Philipp zu und drückte es ihm in die Hand. „Danke, dass ich das benutzen durfte“, sagte sie. Es gehörte nicht ihr, also musste sie es zurückgeben. Auch wenn es ihre einzige Verbindung zu Florian darstellte. Zu ihrer Verwunderung schüttelte Philipp bloß den Kopf und gab es ihr zurück. „Sei nicht albern. Du kannst es behalten. Dann können wir dich anrufen und du uns… Und Florian nicht zu vergessen“, meinte Philipp und deutete auf etwas hinter Christella. Lächelnd drehte diese sich um und erblickte Florian, der sich durch die Menge einen Weg zu ihr bahnte. „Chrissa!“, rief er ihr zu. Nur wenige Schritte von ihr entfernt registrierte er schließlich die zwei Personen hinter seiner Freundin – und blieb abrupt stehen. Nach einem kurzen Augenblick des Erstaunens ging er schließlich weiter und nahm Christella in die Arme. Während er dies tat warf er verstohlene Blicke zu dem Mann hinter ihr – Philipp Lahm. Er erkannte ihn sofort. Daneben dessen Freundin, Nicola hieß sie, wenn er sich recht daran erinnerte. Langsam löste Florian die Umarmung. Schnell gab er ihr einen Kuss. „Ich dachte schon, ich käme zu spät!“, sagte er. „Ich dachte, du kommst gar nicht mehr…“, meinte sie leise. Er räusperte sich kurz. „Bist du dir darüber im Klaren, wer da hinter dir steht?“, flüsterte er ihr zu. Christella grinste gequält. Sie wusste es. „Ähm, ja, bin ich. Komm!“, forderte sie ihn auf. Sie gingen ein paar Schritte zurück zu Philipp und Nicola, die sich diskret zurückgezogen hatten. „Also – ähm – Flo, das sind Nicola und Philipp, bei denen habe ich gewohnt. Philipp, Nicola, das ist Florian“, stellte sie die drei einander vor, auch wenn das eigentlich völlig überflüssig war. Sie schüttelten sich brav die Hände. Die Verblüffung wich nicht aus Florians Gesicht. Ein weiterer flüchtiger Blick zur Uhr sagte Christella, dass sie noch fünf Minuten hatten. Florian schüttelte den Kopf, murmelte etwas, was sie nicht verstand, und drehte sich dann zu ihr. Nicola tat taktvoll so, als würde sie sich brennend für die Anzeigetafel interessieren, aber Philipp ließ weder Florian noch Christella auch nur den Bruchteil einer Sekunde lang aus den Augen. Florian kramte in seiner Tasche herum. „Ich hab noch was für dich“, sagte er, während er in seinen Hosentaschen weiterhin nach etwas suchte. Schließlich fand er, was er gesucht hatte, und reichte Christella eine kleine Schatulle. „Na los, mach auf!“, drängte er. Verlegen öffnete Christella die kleine Schachtel und schnappte nach Luft, als sie sah, was darin verborgen war. Eine silberfarbene Kette mit einem ebenfalls silbernen Anhänger in Form eines Puzzlestücks lag darin. Sie betrachtete den Anhänger genauer und musste erneut nach Luft schnappen. In das Puzzlestück war etwas eingraviert: ein „L“, ein „O“ und ein halbes „V“. Während Christella die Kette bestaunt hatte, war Florian hinter sie getreten. „Dreh’s mal um“, flüsterte er ihr ins Ohr. Behutsam drehte Christella den Anhänger um – zum dritten Mal blieb ihr für einen Moment der Atem weg und sie musste nach Luft schnappen. „Florian“ war dort eingraviert. Und darunter ihr Datum. Florian nahm die Kette aus der Schatulle und legte sie Christella um. „Ich habe das Gegenstück“, sagte er, drehte Christella zu sich und zeigte ihr ein Puzzlestück, das ebenfalls an einer silbernen Kette an seinem Hals baumelte. Gerührt starrte Christella Florian an. „Ich… danke“, flüsterte sie. Zögernd nahm sie ihn in die Arme und küsste ihn. Eine Stimme aus den Lautsprechern verkündete die Einfahrt ihres Zuges in den Bahnhof. Florian löste sich aus Christellas Umarmung. „Dein Zug“, murmelte er und starrte zu Boden. Philipp und Nicola traten zu ihnen. Christella schaute Florian an. „Ich liebe dich“, sagte sie leise. Sie war sich sicher, dass er es gehört hatte, denn er lächelte. „Chrissa, du musst einsteigen“, meinte Philipp. Er reichte ihr ihre Tasche. „Danke, Philipp.“ Sie nahm ihm die Tasche ab. „Danke für alles, ihr beiden.“ Sie nahm Philipp und Nicola ein letztes Mal in die Arme. Sie konnte dieses Mal nicht verhindern, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. Als sie sich Florian zuwandte, sah sie, dass er eher betreten zu Boden schaute. Sie nahm auch ihn noch ein Mal in die Arme und küsste ihn ein letztes Mal. „Ich liebe dich auch“, flüsterte er ihr ins Ohr. Dann stieg Christella in den Zug. Hastig suchte sie sich einen Platz am Fenster und sah hinaus. Da standen sie, die drei wichtigsten Menschen in ihrem Leben und schauten zu, wie der Zug sich langsam in Bewegung setzte. Am liebsten wäre Christella gleich wieder herausgesprungen. Philipp hatte einen Arm um Nicolas Hüfte gelegt. Beide winkten traurig. Florian schaute ihr einfach nur nach – in seinem Blick lag ein gequälter Ausdruck. Sie hauchte ihm eine Kusshand zu, dann war es ihr fast unmöglich, Philipp, Nicola oder Florian noch zu sehen, der Zug beschleunigte immer mehr. Er fuhr um eine Kurve und nicht einmal den Bahnsteig konnte sie mehr sehen. Die erste Träne rannte über ihre Wange. Jetzt weinte sie doch. Dabei wollte sie doch gar nicht weinen. Aber sie konnte nicht anders. Genauso wie am Abend zuvor konnte sie nicht mehr aufhören zu weinen, nachdem die erste Träne aus ihren Augen gekullert war. Der Zug bog um die Ecke und Florian drehte sich um. Jetzt war sie weg. Weit weg. Er schluckte. Es war bitter, zu bitter. Da hatte er endlich ein Mädchen gefunden und dieses Mädchen war unendlich weit weg. Welch eine Ironie des Schicksals. „Hey, Florian.“ Jemand legte von hinten eine Hand auf seine Schulter. Florian musste sich nicht einmal umdrehen um zu wissen, wer es war. Die Stimme erkannte er auch so. „Bist du zu Fuß?“, fragte Philipp ihn. Florian drehte sich zu ihm. „Ja“, antwortete er knapp. Ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen. Theresa hatte sich geweigert, ihn zu fahren, weil sie nicht sehen wollte, wie geknickt er nach Christellas Abfahrt war, und seine Eltern hätte er nicht mal fragen müssen, um zu wissen, was sie sagen würden. Sie hätten es doch so oder so nicht getan. Also war er zu Fuß losgelaufen und beinahe zu spät gekommen. „Wenn du magst, dann fahren wir dich nach Hause“, bot Nicola ihm an. Florian schaute von der jungen Frau zu Philipp zurück. Einerseits wollte er unbedingt alleine sein, andererseits konnte er so vielleicht herausfinden, weshalb Christella meinte, dass sie eigentlich nicht in München hätte sein dürfen. Das hatte er sie nicht gefragt, um sie nicht zu verstimmen. Dann erinnerte er sich daran, dass es eigentlich ein Umweg für die beiden Erwachsenen vor ihm wäre, wenn sie ihn nach Hause fahren würden. „Ähm, es wäre ein ziemlicher Umweg für Sie…“, antwortete er. „Ach, quatsch. Komm. Wir fahren dich. Basta“, meinte Philipp bestimmt. „Okay…“ Florian hatte keine große Lust auf eine Diskussion. Außerdem: Welcher Idiot würde es schon ablehnen, wenn ein angesehener Fußballer ihn nach Hause fahren wollte? Er ließ sich von Philipp abführen. „So, Florian. Und du gehst also mit meinem kleinen Mädchen aus, he?!“, sagte Philipp ernst. Verdutzt starrte Florian ihn an. Hatte Philipp Christella gerade wirklich als sein kleines Mädchen bezeichnet? Es dauerte einen Moment, bis Florian sich daran erinnerte, dass er antworten musste. Er räusperte sich, ehe er antwortete: „Ähm, ja.“ Eine knappe Antwort. „Hm…“, machte Philipp bloß. „Sag mal, was hast du ihr da eigentlich geschenkt?“ ‚Neugierig ist der ja gar nicht’, dachte Florian. Er liebte diesen beißenden Sarkasmus. „Eine Kette.“ Seine Antworten blieben knapp. Als Philipp nichts erwiderte dachte Florian erleichtert, er würde endlich still sein, doch dieses Mal war es Nicola die mit ihm sprach. „Schöne Idee“, lobte sie ihn. Florian zog eine Augenbraue hoch. Wie verquer das Ganze doch war. Er saß mit einem Fußballer, den er schon immer gerne mal getroffen hätte, in einem Auto und wurde aus ihm einfach nicht schlau. Er war verwirrt, weil Philipp und Nicola bei Christella gestanden hatten, dann war es nichts gegen die Verwirrung, die er jetzt spürte. Sie schwiegen alle drei. Dann fasste Florian den Mut, die Erwachsenen vor ihm anzusprechen. „Ähm… Sagt mal… Warum ist Chrissa eigentlich bei euch gelandet?“, fragte er. Er war sich nicht sicher, ob es gut war, so direkt zu fragen, wusste aber auch nicht, wie er es anders hätte formulieren können. Philipp zog überrascht beide Augenbrauen hoch. „Hat sie dir das nicht gesagt?“, fragte er verblüfft. „Nein, sie hat euch nicht einmal erwähnt!“, sagte Florian, in seiner Stimme lag ein verletzter Unterton, den nur Nicola bemerkte. „Verständlich. Also, Florian…“, begann Nicola. Sie drehte sich in ihrem Sitz zu ihm hin. „Sagen wir mal so, sie ist zufällig vor dem Haus von Philipps Großmutter zusammengebrochen und da haben wir sie eben mitgenommen und sie ist bei uns geblieben. Für mehr Details musst du sie schon selbst fragen.“ ‚Tolle Erklärung’, dachte Florian bitter. Er hatte etwas anderes erwartet, auch wenn er nicht genau wusste, was er erwartet hatte. So etwas mehr oder weniger schlichtes, wie ein Zufall war ihm nicht in den Sinn gekommen. Schweigend starrte er wieder aus dem Fenster und dachte angestrengt nach. Eigentlich sollte sie nicht hier sein, das hatte sie ihm schon gesagt. Aber warum? Wenn sie eigentlich nicht sollte, weshalb genau ist sie dann doch in München gelandet? Verwirrt schaute Florian auf, als schließlich der Motor des Wagens ausgeschaltet war. Sie standen vor seinem Haus. Bevor er aussteigen konnte sprach Nicola ihn noch einmal an. „Florian… Wenn du irgendwas brauchst oder so… Du kannst vorbeikommen“, sagte sie. Verwirrt nickte Florian. Jetzt war er völlig verwirrt. So verwirrt wie an diesem Tag war er schon lange nicht mehr gewesen. Wirklich. Die Verwirrung war extrem und das ängstigte ihn ein wenig. Er schloss die Haustür auf und trat in das Haus ohne zu winken oder sich sonst wie von seinem Fahrer und dessen Begleiterin zu verabschieden. Ohne sich die Jacke oder die Schuhe auszuziehen lief er hoch in sein Zimmer und schmiss sich auf sein Bett. Sofort fiel sein Blick auf das Foto von sich und Christella. Er vermisste sie so sehr. Und das nach gerade mal einer Viertelstunde… Er fragte sich ernsthaft, wie er das Ganze über mehrere Wochen oder Monate aushalten sollte. Er war überzeugt davon, dass er das wirklich nicht aushalten würde… „Nächster Halt: Köln Hauptbahnhof“, sagte diese mechanisch klingende Stimme aus den Lautsprechern des Zuges. Christella wischte sich die letzte Träne aus dem Gesicht, während sie aufstand, das Handy auf lautlos schaltete und es in die Hosentasche steckte. Bis gerade eben hatte sie Nachrichten von Philipp, Nicola und Florian erhalten und sie beantwortet. Am meisten taten ihr Florians SMSe weh. Er klag gequält und das war fast nicht zu ertragen. Die SMSe von Philipp und Nicola klangen eher aufmunternd. Christella nahm sich ihre Taschen und schwang sie sich über. Noch ein letztes Mal straffte sie die Schultern, dann atmete sie tief durch und wollte aus dem Zug steigen und den Bahnsteig betreten, doch sie stolperte. Ein Schaffner fing sie auf. „Vorsicht!“, sagte er. Christella bedankte sich bei ihm und stellte überrascht fest, dass es derselbe Schaffner war, dem sie schon bei der Fahrt nach München begegnet war. Welch eine Ironie. Langsam stieg sie schließlich aus. Wie nicht anders zu erwarten war, wurde sie von der Heimleiterin persönlich vom Bahnhof abgeholt. Hastig versteckte Christella die Kette unter ihrem Pullover. Sie musste der Frau ja nicht unbedingt alles auf die Nase binden, was sie in München gemacht hatte. „Christella Sophie Larenz, schön, dass du uns auch mal wieder beehrst“, begrüßte die alte Frau Christella kühl. Die Falten in ihrem Gesicht waren tief. Frau von Waldorf war einfach nur eine Hexe. Als etwas Anderes konnte man sie wirklich nicht bezeichnen. Hexe traf es ziemlich exakt. Ihre schick frisierten Haare färbte sie immer wieder knallrot nach. Eine typische Hexe eben. „Frau von Waldorf“, sagte Christella trocken und nickte. „Folge mir“, befahl Frau von Waldorf. In ihrem Kostüm sah sie geradezu lachhaft aus. Eine Nummer zu klein, wie immer. Sie wirkte wie eine Presswurst, total eingequetscht. Sie hielt sich für modisch und extrem stilvoll. Widerwillig folgte Christella der Heimleiterin zu deren Auto. Sie lud ihre Reisetasche in den Kofferraum des Renault Twingo und stieg schließlich zu Frau von Waldorf in das Auto. „Ich hoffe, du hast eine gute Erklärung für das, was du getan hast, Christella Sophie! Dir ist hoffentlich klar, dass es ein großer Fehler von dir war!“ Kaum war Christella eingestiegen, schon ging es los. Wie sie ihren zweiten Namen verabscheute. Dieser Name war gleichzeitig der Vorname ihrer Mutter, die sie verlassen hatte, kurz nach ihrer Geburt. Dennoch regte sie sich in diesem Moment eher darüber auf, dass es für sie kein Fehler war, nach München zu gehen, Frau Waldorf es aber als solchen bezeichnete. Es war kein Fehler! Definitiv nicht. Der einzige Fehler, den sie gemacht hatte, war, wieder zurück nach Köln zu kommen. „Ich verlange eine Erklärung, Christella Sophie. Ich will, dass du mir alles erklärst, sobald wir daheim sind“, verlangte Frau von Waldorf. Innerlich seufzte Christella. ‚Daheim’. Das Wort hallte in ihrem Kopf wieder. ‚Daheim’ war sie nicht in Köln. Nein. Das dunkle Heim war noch nie wirklich ihr zu Hause gewesen. Definitiv nicht. Demonstrativ starrte Christella aus dem Fenster und beobachtete die Menschen, die auf den Gehwegen entlangliefen. Sie sah eine Frau, die beladen mit Einkaufstüten über den Gehweg stakste. Es erinnerte sie schmerzhaft an Nicola. Hastig blickte sie auf das Auto, das vor ihr fuhr, doch als sie bemerkte, dass es dasselbe Model war, wie das, das Philipp fuhr, blickte sie auf ihre Füße. Welch eine Ironie. Es erinnerte sie so viel an Philipp und Nicola, dass es fast schmerzte. Als sie dann auch noch ein Pärchen an einer Bushaltestelle sah, blickte sie gar nicht erst wieder auf. Frau von Waldorf sagte nichts mehr. Sie interpretierte Christellas Schweigen wahrscheinlich total falsch, deutete es wahrscheinlich als Reue, aber es störte Christella nicht wirklich. Vielleicht würde ihre Strafe ja milder ausfallen, wenn sie so tat, als würde sie es bereuen? In ihrem Inneren sträubte sich alles gegen den Gedanken, so zu tun, als würde sie bereuen, nach München gefahren zu sein. Es war die schönste Zeit ihres Lebens gewesen. Sie konnte nicht einfach so tun, als würde sie es bereuen. Unmöglich. Die Fahrt zum Heim dauerte nicht lange. Christella nahm sich extra viel Zeit, ihre Tasche aus dem Kofferraum des Twingos zu holen. Wie nicht anders zu erwarten standen einige ihrer alten Peiniger in der Eingangshalle und grinsten sie hämisch an. Am liebsten hätte sie ihnen alle eine verpasst. Sie erschrak über sich selbst. So etwas hatte sie noch nie verspürt. Diesen Drang, das hämische Grinsen aus ihren Gesichtern zu wischen. Sie unterdrückte diesen Impuls, was ihr besonders schwer fiel, als sie Rainer begegnete, der zunächst erstaunt, dann wütend und schließlich triumphierend zu ihr hinab blickte, als er die Treppen hinunter kam. Sie schloss die Augen für einen Moment, dann marschierte sie weiter hinter Frau von Waldorf her, ohne Rainer weiter zu beachten. Frau von Waldorf führte Christella in ihr Büro. Kaum war die Tür hinter ihr zugefallen, begann sie auch schon, zu reden: „Christella Sophie, ich muss dir wohl kaum erklären, dass das, was du getan hast, absolut unverantwortlich gewesen ist. Ich hätte nie auch nur von einem von euch erwartet, dass er reiß aus nimmt. Am allerwenigsten von dir, Christella Sophie. Ich hoffe nur, du kannst mir eine Entschuldigung abliefern.“ Christella wusste, dass Frau von Waldorf erwartete, dass sie nun sprach, doch sie schwieg beharrlich. Kein Wort kam über ihre Lippen. Stattdessen konzentrierte sie sich darauf, ihre Schuhspitzen anzustarren. Seufzend fuhr Frau von Waldorf fort. „Du kannst dir hoffentlich vorstellen, was hier los war. Wir waren alle besorgt um dich, als du plötzlich verschwunden warst.“ An dieser Stelle schnaubte Christella innerlich. Alle? Sie bezweifelte, dass irgendjemand außer Frau von Waldorf ihr Verschwinden wirklich bedauert hatte. Nicht einmal diese aus Fürsorge, sondern wahrscheinlich eher aus Sorge um den ‚guten Ruf des Hauses’. „Wir haben dich gesucht! Wir waren kurz davor, die Polizei nach dir suchen zu lassen, als diese merkwürdige Frau schließlich bei uns angerufen hat! Sag einmal, Christella Sophie, wie kannst du nur bei wildfremden Leuten hausen? Was, wenn dir etwas zugestoßen wäre? Es war nicht klug von dir, wirklich nicht. Wer weiß, was dir hätte passieren können! Ganz allein nach München gereist und bei fremden Leuten untergebracht! Diese Frau am Telefon versicherte mir, dass es dir gut geht und nur weil sie mir beteuerte, dass dir nichts zugestoßen war, erfüllte ich ihre Bitte, dich in München zu lassen. München! Das ist sehr weit weg! Ich frage mich bis heute, wo du so viel Geld für das Zugticket herhast! Mal ganz abgesehen davon, wie du jetzt aussiehst! Schau mal, deine schönen Haare! Hast du sie etwa erneut gefärbt?“ Schockiert starrte Frau von Waldorf sie an. ‚Erneut? Ich ? Haha.’ Die Anderen aus dem Heim hatten sie damals gezwungen, diese komische Haarfarbe zu nehmen, weil sie eine Wette verloren hatte. Nicht freiwillig hatte sie Rotschwarz getragen. Nein. Außerdem, warum war Frau von Waldorf so schockiert? Es war ein offenes Geheimnis, dass das abscheuliche rot ihrer Haare nicht natur war. Gerade sie sollte sich nicht so darüber aufregen, wenn sich jemand die Haare färbte. „Das geht doch nicht! Wer hat dir die Erlaubnis gegeben!? Und überhaupt! Was hast du die ganze Zeit gemacht? Du warst nicht einmal in der Schule! Du hinkst nun sicher etwas zurück! Christella Sophie, wieso hast du nicht nachgedacht, bevor du gefahren bist? Warum bist du überhaupt gefahren!? Ich verstehe das einfach nicht, junge Dame, und ich verlange noch immer eine Erklärung. Ja, genau.“ Wieder hielt Frau von Waldorf inne, doch Christella schwieg weiterhin. Sie wartete auf den entscheidenden Part: ihre Strafe. „Christella Sophie, ich hoffe, es ist dir klar, dass dein Verhalten nicht ungestraft bleiben kann.“ ‚Na endlich kommt sie zum Punkt’, dachte Christella bitter. „So leid es mir tut und so froh ich auch bin, dich wieder unter meine Fittiche zu haben, ich muss dir leider eine Strafe auflegen. Ich denke nicht, dass du ausgehen darfst.“ – ‚Als hätte ich das vorher gedurft’, dachte Christella verächtlich. – „Dein Ausgehverbot wird über eine Zeitspanne von acht Wochen gelegt. Tut mir Leid, aber eigentlich ist das noch viel zu wenig, Christella Sophie. Du wirst an keinen Ausflügen des Heims teilnehmen. Raus darfst du nur, wenn du zur Schule musst. Ansonsten bleibst du auf dem Gelände. Hast du verstanden?“ Drohend schaute Frau von Waldorf ihren ‚Schützling’ an. Diese nickte nur. „Gut. Außerdem wirst du in den nächsten drei Wochen die Treppen wischen und in der Küche abends den Dienst verrichten. Haben wir uns verstanden?“ Erneut nickte Christella. „Du kannst schon heute Abend in der Küche anfangen. Ich werde die Küchenmädchen fragen, ob du deine Arbeit gründlich erledigst. Ich möchte keinen schlechten Ton von dir hören, Christella Sophie, ansonsten sehe ich mich gezwungen, dir noch mehr Strafen aufzuerlegen. Ich hoffe, dies ist dir eine Lehre. Ich wünsche, dass du jetzt ohne Umwege auf dein Zimmer gehst. Das Abendessen findet in zwei Stunden statt. Ich erwarte dich pünktlich im Speisesaal. Ich hoffe, du erklärst mir deinen Ausflug noch!“ Christella stand auf. „Irgendwann. Ja, irgendwann. Aber ich bin Ihnen keine Rechenschaft schuldig. Ich musste eben raus hier. Vielleicht reicht Ihnen das ja als Entschuldigung oder Erklärung…“ Christella wusste selbst, dass sie sich besser anders hätte ausdrücken sollen, aber sie hatte keine Lust, großartig über ihre Wortwahl nachzudenken. Während Frau von Waldorfs Predigt hatte ihr Handy zwei Mal gezurrt. Sie saß quasi auf heißen Kohlen und wollte unbedingt wissen, wer sie erreichen wollte. Außerdem wollte sie sofort bei Florian anrufen. „Christella Sophie!“ Frau von Waldorf schnappte empört nach Luft, sagte aber nichts weiter. „Geh, bitte. Du kannst gehen.“ Erleichtert hob Christella ihre Taschen vom Boden auf und warf sie sich um. Mit schnellen Schritten verließ sie das Büro der Heimleiterin. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann musste sie sich eingestehen, dass sie eine härtere Strafe erwartet hatte. Küchendienst, Treppendienst und Ausgangssperre über zwei Monate – man konnte diese Strafe wirklich als milde bezeichnen. Grinsend stieg Christella die Treppen zu ihrem Zimmer empor. Auf dem Weg dorthin traf sie auf einige Kumpels von Rainer. Sie war überrascht, Rainer nicht persönlich anzutreffen. Doch wahrscheinlich würde er sie später irgendwie abfangen. Aber sie würde sich sicher nicht erneut runtermachen lassen. Nein, definitiv nicht. Sie würde Rainer diese Genugtuung nicht geben. Sie war zurückgekommen und war irgendwie anders als vorher. Sie hatte zwei Menschen gefunden, die beinahe so etwas wie eine Art ‚Eltern’ für sie waren. Sie hatte einen Freund, den sie liebte und der sie liebte. Sie griff nach ihrer Kette. Der Anhänger lag kalt an ihrer Haut. Sie zog ihn hervor, als sie in ihrem Zimmer war und zückte anschließend schnell ihr Handy. Eine Nachricht von Philipp und eine von Florian. Der Inhalt war beinahe identisch. Sie erkundigten sich nach ihrer Strafe. Sie antwortete beiden, dass sie nichts Hartes auferlegt bekommen hatte. Sie hoffte, sie würden sich beruhigen lassen. Keine zwei Minuten nachdem Christella die Nachrichten abgesendet und angefangen hatte, ihre Tasche auszupacken, klingelte das Handy. Sie sah Florians Nummer auf dem Display und nahm den Anruf hastig entgegen. „Florian!“, meldete sie sich. „Chrissa!“ Er klang erleichtert. „Florian. Oh Mann, ich bin so froh, deine Stimme zu hören“, teilte sie ihm wahrheitsgemäß mit. Sie vermisste ihn jetzt schon total. „Ha. Und ich erst. Was hast du als Strafe bekommen?“, fragte er besorgt. Christella lächelte. „Ich muss die nächsten drei Wochen über in der Küche aufräumen, muss die Treppen sauber halten und darf zwei Monate nicht ausgehen“, zählte sie auf. „Autsch. Das klingt hart. Tut mir leid für dich“, sagte Florian. „Muss es nicht“, meinte Christella. Der ‚Ausflug’ nach München war es ihr mehr als nur wert gewesen. „Was machst du jetzt?“, fragte Florian. Im Hintergrund hörte Christella jemanden nach ihm rufen. Er schien es zu ignorieren. „Ich packe meine Tasche aus. Was machst du?“ „Im Bett liegen und an dich denken“, antwortete Florian. „Und meine Mutter ignorieren“, fügte er nach kurzem Zögern hinzu. „Das solltest du nicht tun“, tadelte sie ihn, doch sie konnte nicht verhindern, dass sich ein Grinsen um ihre Lippen stahl. „Ich weiß“, seufzte Florian. „Wenn sie dich ruft, dann solltest du zumindest reagieren“, sagte sie ernst. „Gut“, meinte Florian zu ihr. Dann rief er: „Was ist denn, Mama?“ Was seine Mutter antwortete konnte Christella allerdings nicht verstehen. Das nächste, was sie hörte, war sein Seufzen. „Was ist los?“, fragte Christella. Nun war sie leicht besorgt. „Ich soll runter kommen. Meine Tante ist zu Besuch. Sie will mich unbedingt sehen. Mist“, antwortete er. „Na, dann geh runter“, schlug Christella ihm vor, auch wenn es ihr lieber wäre, sie würden noch ein wenig reden können. „Hm… Ich will aber lieber mit dir reden“, gab er zu. „Ich weiß“, seufzte Christella. „Aber du kannst doch später noch mal anrufen, ja? Geh erstmal deinen Besuch empfangen. Ich muss eh noch auspacken und Philipp und Nicola anrufen.“ Wieder rief jemand im Hintergrund nach Florian. „Ich komme gleich!“, rief er. „Also gut. Sobald meine Tante weg ist, dann rufe ich dich an, ja?“ „Alles klar. Ich liebe dich“, verabschiedete sich Christella. „Ich dich auch. Bis nachher.“ Dann war die Verbindung weg. „Interessant“, sagte jemand hinter Christella. Sie zuckte zusammen und drehte sich um. „Rainer.“ Erschrocken musste Christella feststellen, dass Rainer im Türrahmen lehnte und sie mit verschränkten Armen beobachtete. „Wie war das gerade?“, fragte er. Es war klar, dass er diese Frage rhetorisch stellte. Während er sprach, kam er langsam in die Mitte des kleinen Zimmers. „Wen liebst du? Habe ich was verpasst, Chrissa?“ Er spie ihren Namen spöttisch aus. „Das geht dich nichts an. Verschwinde.“ Sie versuchte krampfhaft, ruhig zu klingen, aber ihre Stimme zitterte und er bekam das mit, das wusste sie ganz genau. „Och, unsere Ausreißerin meint, mir Befehle erteilen zu müssen?!“ Rainer grinste spöttisch. „Das ich nicht lache. Wo hast du überhaupt dieses Telefon her?“ Er musterte Christella. Hastig steckte sie das Handy in die Hosentasche. „Ich sagte, du sollst gehen, Rainer. Du hast hier nichts zu suchen. Lass mich einfach in Ruhe.“ Nun klang ihre Stimme etwas ruhiger. Sie zitterte nicht mehr. In Gedanken wiederholte sie nur einen Satz: ‚Lass dich nicht unterkriegen.’ „Oh, jetzt habe ich aber Angst. Ich zittere schon“, meinte Rainer. Er verspottete sie, aber er war verärgert, weil sie nicht so reagierte, wie sie früher immer reagiert hatte, wenn er sich über sie lustig machte. Sie begann nicht zu zittern, sie lief nicht weg, ihr stiegen auch keine Tränen in die Augen und sie schwieg auch nicht beharrlich, während sie auf den Boden starrte. Sie sah ihm in die Augen und klang ruhig. Sie war schon fast mutig. „Was haben sie in München mit dir gemacht? Haben sie dir gut zugeredet? Haben sie dir gesagt, dass sie dich ganz arg doll lieb haben?“ Er lachte laut. Christella schloss die Augen und atmete tief ein. Sie rief sich innerlich zur Ordnung. „Rainer. Verschwinde und lass mich in Ruhe. Geh. Raus. Aus. Meinem. Zimmer.“ Innerlich schäumte sie vor Wut. „Ansonsten werde ich schreien! Du darfst nicht in einem Mädchenzimmer sein. Wenn Frau von Waldorf das mitbekommt, dann bekommst du Ärger.“ Sie versuchte, so sachlich und nüchtern wie möglich zu klingen, aber der Ärger wollte nicht ganz aus ihrer Stimme verschwinden. Für ein paar Sekunden starrte Rainer sie bloß ungläubig an, dann verzog er seinen Mund zu einem spöttischen Lächeln. „Pah. Als ob du dich das traust. Also, erzähl. Hast du einen Kerl aufgerissen dahinten, oder was?“ Der Spott schwang in jeder Silbe mit. „Ich meine es Ernst, Rainer. Ich schreie nach Frau von Waldorf, ich schwöre es dir!“, drohte Christella ihm. Wenn er dachte, sie würde ihm allen Ernstes von Florian erzählen, dann hatte er sich aber deftig geschnitten. Er würde sie nicht wieder in diese graue Maus, die sich als ein Nichts betrachtet, verwandeln. Ganz sicher nicht, das hatte sie sich fest vorgenommen. Es war beschlossene Sache. Rainer starrte sie bloß an. Was war bloß aus seinem liebsten Opfer geworden? Richtig mutig. So etwas hätte sie bis vor ein paar Wochen nicht einmal in seiner Nähe gesagt, geschweige denn gedacht. Sie hatte zu viel Angst gehabt. Er musste sich eingestehen, dass er für Heute lieber still sein sollte. Morgen würde er es noch einmal versuchen. Wenn sie wirklich – wie er aus dem belauschten Gespräch schloss – so etwas wie einen ‚Freund’ hatte, dann würde er es schon noch rauskriegen. Den Idioten wollte er sehen, der sich auf Christella Larenz einließ. Erneut grinste er spöttisch. „Wir sehen uns beim Abendessen“, sagte er zum Abschied und zuckte bedrohlich mit den Augenbrauen. Zu seiner Überraschung zuckte Christella kaum merklich zusammen. Er war wütend. Wenn sie so reagierte, dann machte es gar keinen Spaß, sie aufzuziehen. Wütend drehte er sich um und stapfte aus dem Raum. Er schlug die Tür kräftig hinter sich zu. Christella war erleichtert, als er endlich gegangen war. Erschöpft ließ sie sich auf das Bett sinken. Sie war in einem gewissen Maß stolz auf sich. Sie hatte ihn nicht an sich ran gelassen und ihm keinen Triumph gegönnt. Diese Runde hatte sie gewonnen. 1:0, wie Philipp sagen würde. Bei dem Gedanken lächelte Christella. Sie schrak zusammen als sie das Handy klingeln hörte. Philipp rief an. Sie nahm ab. „Ich habe gerade an euch gedacht!“, sagte sie fröhlich. Sie hörte, wie Philipp lachte und konnte sein Grinsen praktisch hören. „Trifft sich, wir nämlich auch an dich.“ Der eigentliche Grund für den Anruf war, dass Philipp und Nicola wissen wollten, ob es viel Stress gab und wie die Anderen aus dem Heim auf ihre Rückkehr reagiert haben. „Naja, also Frau von Waldorf war ziemlich wütend auf mich und so. Ist ja irgendwo auch verständlich, sie hat zwar nicht geschrieen, aber die Enttäuschung war groß. Sie hat mir eine ziemlich lange Predigt gehalten, von wegen unverantwortlichem Verhalten. Meine Strafe ist nicht so hart, ich hab mit etwas Schlimmerem gerechnet. Die Anderen haben ganz okay reagiert. Klar hat Rainer wieder versucht, auf mir rumzuhacken…“ Sie biss sich auf die Lippen als sie hörte, dass Philipp scharf die Luft einzog. „Dieser Kerl… was hat der gemacht?“, fragte er, versuchte dabei, ziemlich ruhig zu klingen, was ihm aber nicht besonders gut gelang. „Nicht viel, hat mich belauscht und wollte wissen, von wem ich das Handy habe“, antwortete sie hastig. Sie wollte nicht, dass er sich Sorgen machte. „Und wie hast du reagiert?“, rief Nicola. Es klang weit weg. Vermutlich hatte Philipp den Lautsprecher angeschaltet und Nicola hörte mit. „Ich hab’ ihm gesagt, er solle verschwinden und mich in Ruhe lassen, schließlich geht es ihn nichts an“, meinte Christella. Sie konnte nicht verhindern, dass leichter Stolz in ihrer Stimme mitschwang. „Gut!“, kam es von Philipp und Nicola gleichzeitig. Christella lachte. Es tat gut, die Stimmen von den beiden zu hören. Ihr war nicht bewusst gewesen, wie sehr sie sich an sie gewöhnt hatte. Erst jetzt merkte sie, wie sehr sie München und die beiden inklusive Florian wirklich vermisste. „Ähm, sorry, aber ich muss gleich runter zum Abendessen und anschließend die Küche sauber machen, vorher noch auspacken und so. Ich will euch wirklich nicht abwimmeln oder so…“ Verlegen schaute Christella an die Wand, obwohl Philipp und Nicola dieses Detail nicht sehen konnten. „Schon okay. Melde dich, wenn du was brauchst, ja?! Du kannst jederzeit anrufen“, versicherte ihr Nicola. „Wir erwarten jetzt auch gar nicht, dass du dich jeden Tag einmal meldest oder so“, meinte Philipp. Der Sarkasmus war unschwer aus seiner Stimme zu hören. „Ich melde mich so lange, bis ihr genervt von mir seid“, versprach Christella lachend. Es war so einfach, mit Philipp und Nicola zu lachen, dass es fast schon wieder unheimlich war. Sie hörte Philipp im Hintergrund kichern. „Du wirst uns nicht nerven!“, sagte Nicola ernst. „Ja, ist ja gut. Ich melde mich, spätestens Morgen! Grüßt bitte Rosemarie von mir, ja?!“, bat Christella. „Klar, machen wir. Bis dann, Chrissi“, sagte Philipp. „Tschüss.“ Christella legte auf. Sie steckte das Handy wieder in die Hosentasche und seufzte. Wie gerne wäre sie jetzt wieder bei Philipp und Nicola. Sie hatte sich so daran gewöhnt, bei den beiden zu sein, dass sie schon wieder eine große Sehnsucht nach München verspürte. Und sie wollte Florian schon wieder sehen. Seufzend packte Christella ihre Tasche aus. Sie musste feststellen, dass sie nicht genug Platz im Schrank hatte und musste ein paar Schubladen aus ihrer Kommode ausräumen, um noch einige Sachen wegpacken zu können. Dank Nicola hatte sie jetzt sehr viele Klamotten. Als alles verstaut war suchte Christella nach dem alten Bilderrahmen, in dem ein Foto ihrer alten Grundschulklasse war. Sie entfernte das uralte Foto und klebte ein anderes hinein – ein Foto von Philipp, Nicola und ihr – und stellte dieses auf ihr Nachttischchen. Daneben platzierte sie das Foto von ihr und Florian. Als letztes zog sie noch das Lebkuchenherz, das Florian ihr geschenkt hatte, aus der Handtasche und hängte es auf. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es Zeit war, in den Speisesaal zu gehen. Die Handtasche legte sie auf ihren Schreibtischstuhl. Zur Sicherheit schloss Christella ihr Zimmer ab. Normalerweise tat sie das nicht, aber sie hatte Angst, dass Rainer oder einer seiner Anhänger sich den Spaß erlaubte, in ihr Zimmer zu gehen und sich irgendetwas daraus zu stibitzen. Den Schlüssel verwahrte Christella sicher in ihrer Hosentasche. Ihr fiel das Handy ein und sie schaltete es wieder auf lautlos, damit es nicht losbimmelte, während sie aß. Würde wohl nicht gut ankommen, wenn sie unangenehm auffallen würde, gleich am ersten Tag. Mit zügigen Schritten ging Christella in den Speisesaal und setzte sich in ihre übliche Ecke. Wenigstens würde sie hier niemand nerven. Sie bemerkte, wie Rainer sie spöttisch angrinste, aber sie ignorierte ihn. Als Frau von Waldorf allen einen guten Appetit wünschte und sie beginnen konnten zu essen, war Christella angenehm erleichtert. Niemand hatte sich neugierig zu ihr gesetzt, keiner wollte mit ihr reden. Fürs Erste würde sie es dabei belassen. In ihrem Kopf machte sie sich eine Liste. Auf dem ersten Punkt setzte sie ‚Rainer ignorieren.’ Es war der wichtigste Punkt. Danach würde sie sich den Punkten ‚Freunde’ und ‚Schule’ widmen. Sie empfand es als unglaublich störend, dass niemand beim Essen redete. Sie war etwas Anderes von Philipp gewöhnt. Sie war es gewohnt, dass Philipp beim Essen rumalberte und über irgendetwas Witze machte. Die bedrückende Stille war ungewohnt und unangenehm. Sie schüttelte den Gedanken ab. Zwei Plätze von ihr entfernt saßen ein paar Mädchen, die etwas jünger waren als sie selbst. Sie beobachteten sie heimlich und warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu. Christella seufzte, was die Mädchen aufschrecken ließ. Sie schauten sich an – Christella und die Mädchen – und die Mädchen schauten beschämt weg. Es war ihnen peinlich beim Beobachten erwischt zu werden. Christella grinste vor sich hin. Immerhin bemerkte sie jemand – Andere als Rainer und Kumpanen. Christella war nicht einmal frustriert oder genervt, als sie nach dem Essen den Küchendienst antrat. Sie war erleichtert, dass sie nicht allein war. Ein Junge, geschätzte zwölf Jahre alt, musste ebenfalls Küchendienst schieben. Er schaute sie ehrfürchtig an, als sie eintrat. „Hi“, piepste er und wandte sich dann schnell den Tellern in seiner Hand zu. „Hallo“, sagte Christella fröhlich. Sie nahm sich die Teller, die der Junge schon abgewaschen hatte, und trocknete sie ab. „Wer bist du denn, dich kenne ich noch gar nicht“, versuchte sie, ein Gespräch in Gange zu bekommen. Warum nicht gleich zu Punkt zwei übergehen? Erstaunt sah der Junge sie an. „Ich bin Thomas“, sagte er leise. „Ich bin neu hier.“ Christella zog eine Augenbraue hoch. „Hallo, Thomas. Ich bin Christella.“ „Ich weiß“, meinte der Junge. „Es war Einiges los, als du abgehauen bist. Da hast du für ordentlich Wirbel gesorgt.“ Grinsend stapelte Christella die trockenen Teller aufeinander. „Na, immerhin etwas. Wie alt bist du?“ „Ich bin zwölf. Ich bin am Tag, an dem du abgehauen bist, hier ins Heim gekommen und seitdem…“, er brach ab. Irgendetwas verschreckte ihn. „Alles okay?“ Christella bemerkte, dass Thomas zitterte. „Was ist seitdem?“ Jetzt hatte sie beinahe Angst vor der Antwort. „Ich… ich soll niemanden was sagen…“, flüsterte Thomas. Hastig wusch er schneller ab. „Oh.“ Das kam ihr schrecklich bekannt vor. Dasselbe hatte ihr Rainer ihr immer gesagt. Sie solle niemandem sagen, dass er sie schikanierte. ‚Zu niemandem ein Wort’, hallte seine Stimme in ihrem Kopf wieder. Sie schüttelte den Kopf und schlug sich die Erinnerung aus dem Kopf. „Du solltest Rainer nicht so ernst nehmen, Thomas.“ Sie schluckte. Das aus ihrem Mund, wie absurd. „Eigentlich ist er ein Angsthase.“ Sie lachte über sich selbst. Es klang beinahe hysterisch, was Thomas aber nicht zu bemerken schien, worüber sie recht froh war. „Warum bist du zum Küchendienst eingeteilt?“ Ablenkung. Thomas brauchte Ablenkung, ganz dringend. „Ich habe ein Fenster zerbrochen“, sagte er und seine Stimme klang reumütig. „Oh“, machte Christella erneut. Den Rest der Zeit verbrachten sie schweigend. Als sie später auf ihrem Zimmer war, kam Christella der Gedanke, dass jetzt, wo sie Rainer so deutlich gezeigt hatte, dass sie nicht mehr sein Opfer Nummer Eins sein wollte oder sein würde, dass er nun Thomas zu seinem Opfer Nummer Eins auswählen würde. Es lief ihr kalt den Rücken hinunter. Das wollte sie nicht. Sie wollte nicht, dass Thomas litt, weil sie sich gegen Rainer wehrte. Vielleicht sollte sie dem Kleinen irgendwie helfen… Ihr Handy klingelte und ihr Gedankengang wurde so unterbrochen. Wie versprochen rief Florian noch einmal an. Als sie abhob hatte sie beschlossen, Thomas ein wenig unter ihre Fittiche zu nehmen, wenn sie auch nicht wusste, wie sie das genau anstellen sollte, aber sie würde schon einen Weg finden, dessen war sie sich sicher. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)