Der Bücherwurm von Ryourin ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Es war still, als er durch die Regale wanderte. Keine Menschenseele schien hier zu sein; er wusste, dass er alleine war, daher wollte er jeden Moment auskosten, der im verblieb, bevor sie ihn wieder zu vertreiben suchten. Sie, die anderen. Die Menschen. Genussvoll sog er die Düfte der verschiedenen Werke ein; es roch nach staubiger Luft, nach Druckerschwärze, mal älter, mal neuer. In manchen Ecken der Bibliothek konnte man sogar den Geruch neuer Bücher wahrnehmen, auch wenn der Geruch uralter, nein, betagterer Werke – wie er es liebevoll ausdrückte – zu überwiegen schien. Denn diese hatten ebenfalls ihren Reiz, fast mehr als die neuen ihm bieten konnten: Er spürte das Leben, das in ihnen ruhte, und die Schönheit, die in ihrem Alter lag, wenn er der Erste war, der sich an ihnen bereicherte. „Uralt“ wäre eine taktlose Bezeichnung für solche Dinge gewesen. Zwar konnte er nicht umhin, mancherorts den leichten Hauch von vergilbten Seiten zu bemerken, aber daran störte er sich nicht. Es war für ihn nicht wichtig, nur der Inhalt zählte, auch wenn er gerne den Moment vor dem Genuss solcher Bücher auskostete. So war es auch heute. Er näherte sich einem kleinen Buch in grünem Einband, der eine faszinierende und seltsam anziehende Wirkung auf ihn hatte; es verströmte eine süßliche Note. Dieses Buch schrie förmlich nach ihm, und er konnte es kaum erwarten, darin einzutauchen. Die frohe Verlockung ließ ihn zittern, aber er näherte sich weiterhin unaufhaltsam, bis er schließlich vor dem Büchlein zu stehen kam. Es war nicht einmal sonderlich hübsch. Der grüne Einband beherbergte leicht gelbliche Seiten; alt mußte es sein, jedenfalls machte es den Eindruck. Verwundert betrachtete er es: zwar liebte er Bücher in all ihren Formen – na ja, in all ihren Formaten – und Farben, doch dieses hier schien nicht in sein übliches Beuteschema zu passen. Wie auch immer, der Reiz verging nicht, und so beugte er sich näher darüber. Der süße Duft stieg ihm weiter in den Kopf, benebelte seine Sinne, doch auch dies hielt ihn nicht davon ab, näher hinanzutreten und endlich das bittersüße Verlangen zu stillen, das ihn so betörte und doch gleichzeitig benebelte. Sein Blick war trüb, doch die Umrisse des Buches waren klar zu erkennen, und er musste es tun, er musste jetzt einfach: Und so biss er endlich in die Seiten, das Papier, nach dem er sich so verzehrte. Am nächsten Morgen betrat der Bibliothekar den Raum. Seine ersten Schritte führten ihn ein wenig tiefer in die Bibliothek, dort, wo seine Jagd begonnen hatte; und sobald er ein kleines, grünes Büchlein erblickte, dessen Ränder winzige Löcher aufwiesen, kicherte er leise in sich hinein. Ja, das hatte die kleinen Mistviecher wohl angelockt, so, wie er es sich erhofft hatte; aber dies war ihre Henkersmahlzeit. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)