Der letzte Drache von Karen_Kasumi ================================================================================ Kapitel 1: Tod -------------- Yelin keuchte erschrocken auf, als etwas heiß und scharf an seinem Gesicht vorbei zischte und dabei eine blutige Spur über seine Wange zog. Seine Hand umklammerte Norai noch fester, so dass sich das ohnehin schon schmutzige Leder seines Griffes noch einer weiteren Nuance Rot aus seiner zerschnittenen Handfläche ausgesetzt sah. Er versuchte einfach, den stechenden Schmerz zu ignorieren, obwohl es ihm immer schwerer fiel. Die Linien auf seinem ganzen Körper brannten immer stärker. Doch seine gesamte Aufmerksamkeit wurde nun von seinem Gegner in Anspruch genommen, der sich just in diesem Moment dazu anschickte, ihm einen weiteren kräftigen Hieb mit seinen mächtigen Pranken zu versetzen. Yelin sprang zur Seite, rollte sich geschickt über die Schulter ab - und Krallen, lang wie seine ganze Hand, gruben tiefe Furchen in das tote Holz, vor dem er eben noch gestanden hatte. Schwer atmend richtete er sich wieder auf, so dass ihm sein Schweiß, vermischt mit Blut, über die Augen rann und seine Sicht trübte. Ärgerlich wischte er sich mit der linken Hand über die Stirn und betrachtete mit hochgezogenen Augenbrauen das Blut, dass seine Finger rot färbte. Schnaubend ließ er die Hand wieder sinken. Er hasste diese Art von Kämpfen. Auch wenn er (zumindest der Meinung seiner Lehrer nach) zu den besten des Landes im Umgang mit den Sanuki-Schwertern zählte, so waren ihm doch im Grunde seines Herzens das Töten und der Krieg zutiefst zuwider. Was ihn immer an der Kunst des Schwertkampfes fasziniert hatte, war nie das Nehmen anderer Leben gewesen, sondern das Wesen des Kämpfens an sich. Er liebte jene Momente, wenn das Schwert eins wurde mit seinem Besitzer, wenn die Bewegungen, zu schnell für das gewöhnliche Auge, perfekt ineinander überzugehen schienen und alles um ihn herum zu einem einzigen Rausch der Farben und der Unendlichkeit verschmolz. Der Übungskampf oder die einsamen Studien dieser Kunst gaben ihm etwas, was er sonst immer so schmerzlich vermisst hatte: ein Gefühl der Freiheit. Ein Gefühl, das jede Faser seines Körpers durchdrang und ihn mit innerem Frieden erfüllte. Doch nun, bei einem Kampf um Leben und Tod, hatte er bis jetzt immer jene Empfindungen vermisst, die für ihn sonst die ganze Faszination im Umgang mit seiner Waffe Norai ausmachte. Andererseits.....vielleicht wäre es auch gut so, wenn es weiter so bliebe. Denn wer weiß, was aus ihm werden würde, hätte er erst einmal am Töten Gefallen gefunden.... Ein tiefes Grollen riss ihn aus seine ohnehin schon düsteren Gedanken. Er hatte zwar das Gefühl gehabt, dass Minuten seit dem letzten Angriff vergangen waren, aber die Wirklichkeit wahr wohl doch um einiges langsamer verstrichen. Mit einem Geräusch, das klang, als versuche ein Riese mit einem gewaltigen Mühlstein zu mahlen, richtete sich sein Gegner nun zu seiner vollen, imposanten Größe auf. So konnte Yelin ihn zum ersten Mal seit Beginn dieses langen Gefechtes wirklich in Augenschein nehmen. Was er erblickte, ließ ihn dann doch ein wenig den Atem stocken. Er hatte zwar gewusst, dass sie groß, ja riesig werden konnten, aber letztendlich war er noch nie einem von ihnen begegnet - nun, zumindest nicht bis heute. Sie waren immer nur Stoff für Legenden gewesen, Geschichten, die man sich abends am Feuer erzählt hatte, wenn die Schatten länger und die Weinschläuche leerer wurden. Natürlich war ihm klar gewesen, dass es noch irgendwo auf dieser Welt einige ihrer Art geben musste, aber er hatte nie ernsthaft damit gerechnet, einmal einem von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen. Und schon gar nicht, mit einem zu kämpfen. Sein Kopf überragte sogar den Stamm des großen Yontë, jener seltenen Baumart, welche die höchsten aller Pflanzen waren und die man sonst nur auf den kalten Inseln des Nordens finden konnte. Sein dünner Körper war über und über mit dunklen Schuppen bedeckt, deren Spektrum alle Arten von Grün abdeckte. Zum Rücken und zum hinteren Teil des Halses hin brach sich das Licht eines verirrten Sonnenstrahls ein manches Mal an silbernen Sprenkeln und ließ sie auffunkeln wie winzige Diamanten, die in die Haut eingearbeitet waren. Er hatte einen filigranen Knochenbau, von dem länglichen Kopf, der von zwei schlanken, aber nichtsdestotrotz langen Hörnen gekrönt wurde über den Hals bis hin zu dem zarten Körper mit sanft anmutenden Vorderpfoten und Beinen, die am Ende in feingliedrige Hände und Finger übergingen. An deren Ende befanden sich die Krallen, die von einem ebensolchen schimmernden Weiß waren wie die beiden Hörner, und aussahen, als wären sie von einem Meisterbildhauer geschaffen worden. Das ganze wurde von zwei gewaltigen, zerbrechlich scheinenden Flügeln eingerahmt, zwischen deren Knochen sich eine hauchdünne, aber recht reißfeste Membran spannte. Das Sonnenlicht schien direkt durch sie hindurch zu fallen, als ob sie aus reiner, Gestalt gewordener Luft beständen. Aber das mit Abstand Faszinierenste an ihm waren ohne Zweifel seine Augen. Yelin konnte sie trotz der großen Entfernung genau sehen. Die schlitzförmige schwarze Pupille war von einer Iris umgeben, deren Färbung und vor allem Eindruck sich nur schwerlich beschreiben ließ. Am Rand von einem dunklen Indigo begrenzt, schienen sie zur Mitte hin immer heller zu werden und erweckten den Eindruck, jeden Blauton, von Meeres- bis zu Himmelblau, zu enthalten. Obwohl er sie so gut erkennen konnte, vermochte er doch nicht zu sagen, wie genau sie nun aussahen, denn sämtliche Farben schienen sich von Minute zu Minute immer wieder zu verändern. Gleichzeitig lag ein unbestimmtes Glitzern darin, das etwas widerzuspiegeln schien: Einmal das uralte Bedürfnis, ohne Gnade jeden zu töten, der sich ihm in den Weg stellte und dann aber noch etwas anderes. Er war unfähig, dieses andere wirklich zu deuten, doch unerklärlicherweise war es genau das, was ihn mit der meisten Angst erfüllte. Wieder kam Bewegung in das riesige Lebewesen. Es holte erneut aus, um ihn von den Beinen zu fegen und an den Felsen zu schleudern, der nun hinter ihm aufragte. Yelin hoffte, dieses Mal besser vorbereitet zu sein und deswegen weiterhin festen Boden unter seinen Füßen zu spüren, anstatt ein weiteres Mal näher mit ihm Bekanntschaft zu machen. Als die spitzen Finger wieder hinab sausten, sprang er nun nicht einfach zur Seite, sondern nahm seinen ganzen Mut zusammen und versuchte erfolgreich, sich einfach unter dem Hieb durchzuducken. Dadurch tauchte er blitzschnell unter den heran sausenden Krallen hinweg und hob sein Schwert so, dass die Spitze genau auf die ungeschützte Unterseite des beschuppten Leibes zielte. Bereit zum Zuschlagen, hob er mit einem Aufschrei die Arme und stolperte. Seinen Fuß in einer der vielen Baumwurzeln verfangen, fiel er direkt vornüber und prallte schmerzhaft und dumpf mit seinem Gesicht auf dem bemoosten Boden auf. Sich selbst für seine Torheit verfluchend wollte er sich wieder aufrappeln. Er ahnte es vielmehr als dass er es spürte, und gerade noch rechtzeitig ließ er sich wieder zur Seite fallen - als schon etwas Weißes haarscharf an seinem Kopf vorbei sauste und sich mit einem gedämpften Geräusch in das Moos neben ihm bohrte. Keuchend richtete sich Yelin wieder auf (dieses Mal endgültig) und dankte der Natur für sein untrügliches Gespür, was Gefahren anbelangte. Wobei untrüglich wohl auch nicht so ganz der richtige Ausdruck war - wie hätte er sonst in diese Situation kommen können.....mehr Zeit um über die Wirren des Schicksals nachzudenken blieb ihm allerdings nicht, wie ihm ein dunkles Grollen bewies. Wieder fegte ein Teil seines Gegners heran und dieses mal war es der Kopf, der ihn fast von den Füßen zu reißen drohte. Im Gegensatz zu gerade eben war er nun klug genug, sich nicht ein weiteres Mal fallen zu lassen. Stattdessen gelangte er schon durch ein paar kleinere Schritte außer Reichweite des drohend aufgerissenen Mauls. Tief durchatmend beglückwünschte er sich noch einmal zu dieser Entscheidung, denn auf die Dauer konnte man einem Dutzend Reißzähnen und Krallen nicht im Liegen widerstehen. Und Yelin bemerkte langsam aber sicher, dass er allmählich außer Atem geriet. Dort, wo seine Muskeln saßen, pulsierten nun kleinere Tröpfchen aus Schmerz durch seine Adern, die langsam aber sicher an der Schnelligkeit seiner Bewegungen nagten. Der Kampf dauerte nun eindeutig schon zu lange, und anstatt die ganze Zeit aktiv angreifen zu können, wie es sonst seine Art war, hatte er sich fast immer nur verteidigen müssen. Die wenigen Wunden, die er dem großen Wesen hatte zufügen können, waren für ihn wohl nicht mehr als Nadelstiche gewesen, die ihn nur noch mehr reizten. Und im Gegensatz zu ihm schien er auch kaum zu ermüden. Er spürte schon, wie seine Kräfte erlahmten; wenn er sich nicht schnell etwas einfallen ließ und die Sache zu Ende brachte, war sein Ableben wohl nur noch eine Frage der Zeit. Und als wären diese Gedanken, die ihm gerade durch den Kopf geschossen waren, ein Signal gewesen, hatte sich sein Gegner nun entschlossen, das Spiel (denn mehr war es bis jetzt trotz allem nicht gewesen) zu beenden. Mit einem ungeheuren Gebrüll bäumte er sich auf und stellte noch einmal seine gesamte Kraft eindrucksvoll zur Schau. Yelin atmete tief durch und brachte sein Schwert langsam in Angriffshaltung. "Nun gut", dachte er auffordernd, "dann lass es uns endlich zu Ende bringen!" Bildete er es sich nur ein oder war da tatsächlich so etwas wie ein amüsiertes Funkeln in den tiefen Augen erschienen? Ärgerlich wischte er den Gedanken beiseite und wollte gerade damit beginnen, nach vorne zu stürmen, als er plötzlich einen schmerzerfüllten Aufschrei ausstieß. Er ließ Norai fallen und presste die Hände auf die Ohren, noch immer mit dem Gefühl, weiterbrüllen zu müssen. Genau in jenem Moment, als er sich endgültig entschlossen hatte, hatte das Wesen vor ihm zu ihm gesprochen. Es war beinahe mehr als er ertragen konnte. Unfähig, diese schreckliche und zugleich wunderschöne Stimme in seinem Kopf noch länger auszuhalten, stolperte er zurück, bis er mit seinem Rücken an die Felsen stieß. Keine Worte dieser Welt konnten ihren Klang auch nur annährend beschreiben. Am nächsten kam ihm noch der Ton eines tiefen, alles bis auf den Grund durchdringenden Gong. Wenn du unbedingt willst, dann sollst du es auch bekommen! hatte es gedröhnt. Die uralte Macht, die zugleich seinen Geist durchströmt hatte, war so unglaublich gewesen, dass alles bisherige darunter zu schrumpfen schien. Die wenigen Augenblicke, in denen er einen Blick auf sie hatte erhaschen dürfen, hatte er teuer bezahlen müssen. Fast hatte er das Gefühl, als wäre etwas in ihm schnell und unwiderruflich ausgelöscht worden. Er war nicht mehr fähig, etwas anderes zu tun als zu zittern und mit weit aufgerissenen Augen nach vorne zu starren. Hilflos musste er mit ansehen, wie der Geschuppte vor ihm seine Hand, einen Finger ausgestreckt, als wolle er auf ihn zeigen, hob und näher und näher an ihn heran brachte. Noch immer konnte er sich nicht rühren; es war, als wäre er tief in seinem Inneren zu Eis erstarrt. Weich aus! Weich aus! rief es in ihm, doch er konnte nur weiter regungslos zusehen, wie die scharfe Kralle sich immer weiter auf seine Schulter zu bewegte. Sogar als sie fast liebevoll seinen Arm von der Schulter bis hin zum Handgelenk aufschlitzte, spürte er kaum den Schmerz, als befände sich seine Seele schon nicht mehr wirklich in seinem Körper. Die Welt schien sich um ihn herum zu drehen und in einem wilden Farbentanz zu verschwimmen und er war fast versucht, seine Augen zu schließen und es einfach geschehen zu lassen. Doch was der Schmerz nicht vermocht hatte, schafften die Tropfen roten Blutes, die sich auf seiner Kleidung verteilten, in Windeseile. Schien die Zeit eben noch zäh wie Sirup geflossen zu sein, so war es nun, als wolle sie die Wirklichkeit wieder einholen und bewege sich schneller als sonst. Hatte er sie bis eben noch nicht zu fühlen vermocht, so fiel die Qual nun doppelt stark über ihn her und tobte nun durch seinen gesamten Körper. Die linke Hand hatte er nutzlos auf die scharfe Wunde gepresst, als wolle er den Blutstrom stoppen, der das Leben aus ihm heraus sog. Schon fast blind vor Pein brach er in die Knie, halb besinnungslos durch das Feuer, dass durch seine Adern tobte und jeden Atemzug zur unüberwindbaren Qual machte. Verzweifelt versuchte er, sich auf etwas zu konzentrieren, doch sein Blick schien irgendwie an allem abzugleiten, als stände überall eine unsichtbare Barriere die zu durchdringen er nicht im Stande war. In dem gleichen Maße, wie der metallische Geruch um ihn herum zunahm, breitete sich der bodenlose Abgrund vor seinen Augen lautlos immer weiter aus. Und gleichzeitig mit der gestaltlosen Schwärze kam der Tod, schnell und sanft. Noch nie war er dem Sterben so unglaublich nahe gewesen wie jetzt. Alles verblasste in purpurner Bedeutungslosigkeit. Doch als er sich endgültig in die klammen, kalten Hände begeben wollte, erwachte etwas in ihm. Etwas, das so brutal und schnell über seinen Geist hinweg fegte, dass ihm nicht einmal mehr die Zeit blieb, auch nur an Widerstand zu denken. Da war es, dieses unnachahmliche Gefühl der Macht, der Unbesiegbarkeit, das er bei ernsten Kämpfen sonst immer vermisst hatte. Oh, wie er hatte er es gleichzeitig herbei gesehnt und sich davor gefürchtet! Doch nun war es gekommen und es war zugleich hundertmal mächtiger als sonst, wenn er es erfahren hatte. Nur wegen dieser schrecklich schönen Empfindungen hatte er das Kämpfen begonnen und war letztendlich auch fortgegangen. Und es gab ihm Kraft, vertrieb rasend schnell die grauen Schleier, die sein Bewusstsein umgeben hatten, schenkten seinen geplagten Muskeln erneut die Stärke, sich aufzurichten und nach seinem Schwert Norai zu greifen. Rasend schnellte er vor, es zum Zuschlagen erhoben und die Sinne geschärft wie nie zuvor. Unter normalen Umständen wäre sein Körper spätestens jetzt einfach zusammen gebrochen, doch die unheimliche Energie, die ihn nun beseelte, ließ solch einfache Dinge wie Erschöpfung oder Müdigkeit gar nicht erst Besitz von ihm ergreifen. Es war, als hätte ihn etwas ergriffen, ein scharfer Instinkt, kalt und berechnend wie die Menschheit selbst. Dieser kühle, grausame Rausch war der Grund, warum einzelne Kämpfer ganze Heere auszulöschen vermocht hatten, warum sich Menschen so dem Blutrausch hatten hingeben können, dass sie ganze Dörfer dem Erdboden gleich machten. Um menschliche Schwächen wie Moral oder Gewissen scherte er sich nicht; er war blutrot, gefärbt von dem Strome all jener, deren Leben er schon genommen hatte. Das Schwert schwingend, sprintete Yelin auf seinen Gegner zu, immer wieder Hieben oder Bissen mit Leichtigkeit ausweichend. Er spürte nichts, keine Wut mehr, keinen Schmerz, absolut nichts außer alles verschlingender Kälte und dem Willen zu vernichten. War dieser Kampf bis jetzt noch ungleich und schon seit seinem Beginn entschieden gewesen, so hatte er sich nun zu einem Aufeinandertreffen zweier gleichwertiger Gegner gewandelt, die beide ihr Äußerstes gaben, den anderen endgültig zu vernichten. Und so, wie sie auf einer Ebene standen, so fochten sie auch miteinander. Der eine sich einer Magie bedienend, die so alt und verborgen war, dass sich selbst die Weisen nur noch unter Schaudern ihrer erinnerten. Der andere zwar von geringerer Größe, aber mit einer solchen Schwertkunst kämpfend, wie sie eigentlich schon längst vergessen sein sollte, vergraben unter den unzähligen Gebeinen sterbender Jahrhunderte. Für einen kurzen Moment hätte ein unbeteiligter Betrachter eine Spannung zu fühlen vermocht, die man seit den alten Zeiten nicht mehr hatte verspüren können, einer Zeit, als Elben noch gütig, die Völker aber voller Blutdurst waren und sich Kämpfe noch zwischen Größerem abspielte als Mensch und Tier. Doch wer würde als Sieger hervor gehen? Lange schien die Antwort auf diese Frage in ungreifbarer Ferne schwebend, mal war der eine, dann wieder der andere ein wenig im Vorteil. Doch nie schlug das Pendel so weit aus, als dass es einen von ihnen zum Sieg gereicht hätte. Schließlich aber schien so etwas wie eine kleine Veränderung mit dem Größeren der beiden von statten zu gehen: Seine Bewegungen wurden nicht direkt langsamer oder schwerfälliger, sondern eher widerwilliger, so als wäre er des Kämpfens müde. Yelin (oder besser: die Macht in ihm) bemerkte natürlich die Veränderungen in seinem Verhalten, aber sie vermochte es nicht, sie richtig zu deuten. Stattdessen verstärkte sich nur noch einmal die Wucht ihrer Angriffe, so dass sie noch schneller, noch schwieriger zu erkennen wurden. Es brachte seine gesamte Kraft auf, um den Gegner endlich zu Fall zu bringen. Es war, als hätte das uralte Wesen darin irgendein Zeichen gesehen, denn für einen kurzen Moment huschte ein Ausdruck der Zufriedenheit über sein schuppiges Gesicht. Doch Yelin sah es nicht; und so konnte er auch nicht erkennen, dass es seine Gegenwehr komplett einstellte, kurz bevor sich die Klinge von Norai tief in seine Brust grub. Für einen kurzen Moment schien die Welt still zu stehen, alles Lebende den Atem anzuhalten. Dann stieß der Große einen tiefen Seufzer aus und fiel donnernd auf die Seite, so dass der Boden bebte und die Vögel aus den Baumkornen aufstoben. Nun brachen sich auch die ersten roten Tropfen ihre Bahn durch die tödliche Wunde und färbten den Boden dunkelrot. Wieder war es das Blut, dass den Bann löste. In demselben Moment, als die ersten Spritzer sein Gesicht berührten, fiel die unheimliche Kraft von Yelin ab und verschwand eben so schnell, wie sie gekommen war, wie ein unsichtbarer Mantel, dessen Falten ihn nun nicht mehr behinderten. Doch damit fielen auch all die Dinge über ihn her, die er vorher zurückgedrängt hatte: die Erschöpfung, der Schmerz. Ihm wurde schwarz vor Augen und er taumelte; sein Körper rächte sich nun für das, was er ihm zugemutet hatte. Sein rechter Arm schien in Flammen zu stehen und er spürte auf einmal selbst den kleinsten Kratzer so tief, als wäre er ein Messerstich. Mit einem lauten Aufschrei brach er zusammen und spürte, wie noch im Fallen die Wogen der Bewusstlosigkeit heranrasten und seinen Geist zu verschlingen drohten. Wie zuvor fühlte er die starren, kalten Arme des Todes nahen, doch dieses Mal würde er nicht von einer unbekannten Macht überflutet und gerettet werden. Seine Augen schlossen sich; seine Glieder wurden schwer. Eine wohltuende Müdigkeit schien von seinem Körper Besitz zu ergreifen und ihn an Gestade zu locken, von denen er nie mehr würde wiederkehren können. So leicht als war Sterben; vielleicht sollte er sich einfach fallen lassen in die wattigen Schatten.... Dieses Mal waren es nicht die unsichtbaren Fäuste seiner selbst, die ihm wieder das Leben schenkten. Nein, dieses Mal war es die Kraft eines anderen, die die dunklen Schleier beiseite wischte. Kurz und flüchtig hatte er den Eindruck riesiger Flügel, die die Armeen der Finsternis vertrieben, den Eindruck einer vergessenen Magie, deren große Kraft er nicht einmal zu erahnen vermochte. Doch egal, was es war, es brachte sein Herz wieder zum Schlagen und füllte Luft in die gequälten Lungen. Hustend und würgend fand er nur langsam in die Wirklichkeit zurück, doch dann öffnete er vorsichtig die Augen. Zuerst blendeten ihn die hellen Streifen des Sonnenlichts, das durch das lichte Laub schien, doch dann gewöhnte er sich langsam daran und die grellen Funken, die bisher auf seiner Netzhaut getanzt hatten, verschwanden allmählich. Mühsam wollte er sich aufrappeln - und zuckte gleich darauf mit einem Schmerzenslaut zurück, als sich glühende heiße Fäden von seinem Arm aus durch den ganzen Körper schossen. Mit vor Qual tränenden Augen tastete er blind mit seiner linken Hand umher, bis er den Saum seines Hemdes gefunden hatte. Vorsichtig und mit zusammen gebissenen Zähnen versuchte er, ein paar Streifen abzureißen, ohne vor Pein bewusstlos zu werden - was ihm allerdings nur halbwegs gelang. Als er endlich wieder klar denken konnte, band er seinen rechten Arm ab seiner Schulter so gut es ging ab, damit er nicht noch mehr Blut verlor. Das Ergebnis war zwar mehr schlecht als recht und die Aktion hatte ihn auch wieder einen Großteil seiner neu gewonnenen Kraft einbüßen lassen, aber für den Moment würde es reichen. Mit geschlossenen Augen blieb er, an einen Felsen gelehnt, noch einen Moment liegen und schöpfte tief Atem. Er wartete so lange, bis seine Glieder aufgehört hatten zu zittern und er sich wieder kräftig genug fühlte, aufzustehen. Erheblich sanfter als zuvor versuchte er wieder, sich zu erheben, was dieses Mal von mehr Erfolg gekrönt zu sein schien. Aus dem rasenden Schmerz in seinem Arm war ein dumpfes Pochen geworden, das zwar noch immer unglaublich quälend war, ihn aber nun nicht mehr an den Rand der Bewusstlosigkeit brachte. Ein dumpfes, schmerzerfülltes Grollen riss ihn aus den Gedanken. Yelin hatte die Augen zwar geöffnet, doch erst jetzt kam ihm wieder die Anwesenheit seines verletzten Gegners in die Gedanken. Ganz bewusst sah er ihn nun vor sich auf dem Boden liegen, die Brust hob und senkte sich langsam im Gleichtakt mit dem Geräusch. Das Wesen vor ihm lebte noch, aber es lag bereits im Sterben. Behutsam näherte er sich ihm. Er verspürte kaum Angst, denn etwas sagte ihm, dass er nun keine Gefahr mehr zu befürchten hatte. Nun, als er Gelegenheit hatte, es in Ruhe zu betrachten, erkannte er die ganze Schönheit, die in seiner Erscheinung lag. Es war paradox; erst jetzt, wo es am Boden lag, wurde ihm die ganze Anmut bewusst, die in seinen Bewegungen gelegen hatte, ein Stück Unwirklichkeit, das es weit über andere erhob. Vorher hatte er nur die Gefahr gesehen, die in seinen spitzen Krallen lag, doch nun fiel ihm die Meisterschaft und Grazie, mit der sie ebenso wie die schlanken Hörner geformt waren, deutlich ins Auge. Das strahlende Schillern seiner Schuppen schien nicht von dieser Welt zu sein, ebenso wie die perfekten Konturen seiner Muskeln, die sich unter ihnen abzeichneten. Es war ganz ohne Makel und nicht einmal die Ströme von Blut, die sich unter ihm ausbreiteten, konnten diesen Eindruck wirklich stören. Ohne Zweifel aber waren seine Augen das Schönste an ihm. Auch dies fiel ihm erst jetzt auf,, aber sie sahen aus wie zwei unendlich tiefe Schächte, an deren Ende das Licht der Weisheit durch sie hindurchschimmerte. In ihnen lag ein Ausdruck, den Yelin unmöglich zu beschreiben mochte, wie auch seine Stimme vorhin. Es war etwas wie eine Mischung aus Trauer, Klugheit, Kraft, Schmerz und einem tiefen inneren Frieden. Etwas an diesem Anblick rührte ihn nachhaltig; was er vor sich sah, das war nicht mehr die brutale Tötungsmaschine von vorhin, sondern ein Wesen, das zu töten eine ebensolch große Sünde war wie einen Menschen zu morden. Tränen stiegen ihm in die Augen und er bereute seine Tat zutiefst. Er fühlte sich mehr denn je wie ein gewissenloser Mörder, obwohl er eigentlich nur sich selbst hatte verteidigen wollen. Doch das Blut, dass dadurch an seinen Händen klebte würde er nie wieder richtig abwaschen können. Tief durchatmend streckte er die Hand aus und berührte sanft mit den Fingerspitzen die geschuppte Haut. Sie fühlten sich glatt an, doch wie von einem unbestimmten, pulsierenden Leben beseelt. Ein plötzlicher Schauer von Wärme durchrieselte ihn und noch etwas anderes, was er aber nicht genau benennen konnte. Es hatte Ähnlichkeit mit dem Geist, der ihn vorhin gerettet hatte, doch es war wesentlich sanfter, als es in ihn eindrang und ihn erfüllte. Zögernd ließ er die Hand vollends auf die grünen Schuppen sinken, immer noch bereit, sofort zurückzutreten, sollte ihn die unsichtbare Macht des Wesens angreifen wollen. Doch nichts dergleichen geschah, lediglich die Wärme schien sich noch ein wenig zu verstärken. Mit einem Mal verspürte er das heftige Bedürfnis, sich dem Kopf zu nähern. Es war, als riefen ihn die dunklen Augen, als sollte er sich noch einmal ihrem undurchdringlichen Blick stellen. Die Hand über den Hals gleitend, schritt er langsam nach vorne, auf den Kopf des riesigen Wesens zu. Dieser lag, sanft auf ein Stück Moos gebettet, auf der Seite und schien sich nicht zu bewegen. Doch Yelin spürte, wie ihm der Blick der Augen folgte, je näher er kam. Langsam konnte er mehr Einzelheiten erkennen, von dem kleinen Stachelkranz unter den Pupillen bis hin zu der Feinheit der winzigen Schuppen, die diese umgaben. Lautlos bat er um Vergebung, diese Schönheit zu Fall gebracht zu haben. Wieder liefen Tränen seine Wangen hinunter; er konnte sie nicht aufhalten. Endlich war er am Haupt des Gefallenen angekommen. Er ließ sich in die Knie sinken, um auf gleicher Höhe mit den wunderschönen Augen zu sein. Behutsam strich er mit seinem Fingern um die Augenpartie, ließ sie zu den Hörnern wandern und dann wieder vor zu der halb geöffneten Schnauze, aus der ein wenig Blut getroffen war. Jetzt, wo er ihm so nahe war, konnte er die Gefühle spüren, die er ausstrahlte: es war etwas Ähnliches, wie das, was er in den Spiegeln seiner Seele gesehen hatte: wieder der Schmerz, der sich durch seine Eingeweide fraß, die Gewissheit, dass er sterben würde. Daneben aber auch das Gefühl einer Zufriedenheit tief in sich, die Sehnsucht danach, endlich heimkehren zu können. Er spürte, wie etwas seinen Geist abtastete, vorsichtig und darauf bedacht, ihm keinerlei schaden zuzufügen. Er wusste genau, dass es das große Wesen vor ihm war und so wehrte er sich nicht und ließ es geschehen. Als sich die unsichtbare Hand wieder zurückzog, war er nicht einmal mehr überrascht, als es in seinem Kopf wieder zu sprechen anhob. Sanuki... .dieses Mal war es nicht der ohrenbetäubende Klang, der in von innen zu zerreißen drohte, sondern lediglich ein leises Flüstern, das in seinen Gedanken umher geisterte. Es war sanft wie eine kühle Sommerbrise. Du bist einer von ihnen, nicht wahr? Ich spürte es schon von Anfang an, dass du etwas Besonderes bist....ich habe dich nicht grundlos auserwählt. "Du...hast mich auserwählt?" Seine Kehle war eng und zugeschnürt. Er brachte nicht mehr als ein mühseliges Krächzen zustande, doch er wurde verstanden. Was dachtest du denn? Etwas wie ein amüsiertes Glitzern glitt durch seine Augen. Ich habe tausende von Jahren auf diesen Moment gewartet, auf jemanden wie dich. "Jemanden wie mich?" Ja. Jemanden, der es würdig ist, mich zu töten. Yelin schrie auf. Die Erkenntnis kam so schnell, so unbarmherzig über ihn, dass er es kaum ertragen konnte. Alles ergab auf einmal einen Sinn. Die Tatsache, dass ausgerechnet er in diesem riesigen Wald auf ihn stieß. Dass er ihn nicht sofort vernichtet hatte oder später, als er gelähmt vor Ehrfurcht erstarrt an dem Stein gestanden war. Der es würdig ist, mich zu töten.....das war der ganze Grund gewesen. Er hatte nicht gesiegt, weil er der Bessere von beiden gewesen war. Nein, er hatte gewollt, dass er ihn tötete! "Aber warum? Sag mir, warum ausgerechnet ich?" Zitternd ließ er die Hand auf seine Stirn sinken, unfähig, das soeben Erfahrene zu glauben oder gar zu verarbeiten. Weil du einer der Auserwählten bist. Ein Sanuki. "Nur deswegen? Weil ich ein Sanuki bin? Du weißt genau so gut, wie ich, dass es noch mehr von uns gibt. Was war der Grund, dass du ausgerechnet mich erwählt hast?" Du bist nicht wie die anderen. Sie sind Kämpfer, Schlächter, Mörder. Du hasst das Töten. Du hast Verstand, Moral und eine innere Stärke. Du bist ein Meister im Umgang mit dem Schwert. Du bist der einzige, der genug innere Größe besitzt, mein Erbe tragen zu können. Yelins Gedanken begannen allmählich, sich im Kreis zu drehen. Diese Worte deuteten noch eine andere Wahrheit, eine Wahrheit, die noch tiefer ging als die Erfahrungen zuvor. "Dein...Erbe?" fragte er stockend. Ja, ich habe dich zu meinem, zu unserem Erben bestimmt. Ab heute wirst du einen Teil von uns in dir tragen. Streck deinen rechten Arm aus! Mit zusammen gebissenen Zähnen und noch immer vollkommen überwältigt von dem, was er soeben erfahren hatte, gehorchte Yelin und zeigte ihm die grausame Wunde, die seine Krallen gerissen hatten. Mühsam hob das Wesen vor ihm den Kopf. Rotes Blut tropfte von seiner Schnauze und auf seinen Arm, als er sich direkt darüber befand. So vermischen wir unser beider Blut, Sterblicher. Dies stellt die mächtigste Bindung dar, die zwischen zwei Lebenden geschaffen werden kann. Du wirst unser Vermächtnis in dir tragen, so lange du lebst. Sei unbesorgt, du wirst es bis auf wenige Dinge kaum spüren. Diese Wunde ist mein Geschenk an dich. Sie wird dich immer an mich, an uns erinnern. Sieh! Gehorsam blickte er auf seinen Arm hinunter. Was er sah, ließ ihn erstaunt den Atem anhalten: Der tiefe Schnitt schloss sich! Das Fleisch fügte sich wieder zusammen, neue Haut baute sich auf, der Blutstrom versiegte. Auch innerlich geschah eine Wandlung: genau in dem selben Maße, wie die Wunde immer kleiner und unbedeutender wurde, schwand auch der Schmerz, der ihn bisher erfüllt hatte. Staunend löst er den verschmierten Stofffetzen, der das Schlimmste hatte verhindern sollen. Die offene Verletzung war vollkommen verheilt. Stattdessen erkannte er jetzt unter dem ganzen Rot die Andeutungen eine großen und breiten Narbe, die sich von der Schulter abwärts über seinen ganzen Arm bis zum Handgelenk zog. Stumm vor Erstaunen tastete er mit der linken Hand über seine neue Haut und senkte dann in wortloser Dankbarkeit und Ehrfurcht den Kopf. Deine Wunden werden ab jetzt immer ein wenig schneller heilen. Nicht ganz so rasant wie diese her, aber doch wesentlich schneller als bei Normalen deiner Art. Wenn ich tot bin, wirst du die Kraft in deinem Körper und deinem außergewöhnlichen Schwert erkennen können. Die Stimme in seinem Kopf wurde immer leiser und voller Trauer erkannte Yelin, wie sich seine Augen trübten und der ungewöhnliche Glanz seiner Schuppen verschwand. Ich sterbe, Sanuki. Mein Körper wird schwer; ich habe wohl lange genug gelebt. Ich hatte gehofft, dass dieser Augenblick niemals kommen würde, aber nun ist er da. Und so sehr es mir auch widerstrebt, ich werde nun gehen müssen. Doch bevor ich dahinscheide, verrate mir bitte deinen Namen, Auserwählter. "Yelin." flüsterte er leise und mit gebrochener Stimme. "Mein Name ist Yelin.". Gedenke meiner, Yelin. Gedenke dem strahlenden Wesen, gegen das du gekämpft hast und auch dem sterbenden, das nun vor dir liegt. Mein Fluch liegt über dir, denn du hast mich getötet. Mein Segen liegt über dir, denn du hast mich befreit. Du, Yelin, der Mörder des letzten Drachens dieser Welt! Dann verging er. Seine Augen wurden schwarz und blicklos, alles an ihm verblasste und löste sich auf. Schließlich war nichts mehr von ihm übrig an der Stelle, wo er gelegen hatte, außer Norai, das klappernd zu Boden fiel. Yelin aber war wie erstarrt und wiederholte in seinen Gedanken hämmerte nur dieser einzige Satz: Er hatte ihn ermordet. Er hatte den letzten Drachen dieser Welt getötet. Kapitel 2: Yonami ----------------- Er verharrte noch eine scheinbare Ewigkeit in dieser Position, bis er endlich wieder die Kraft fand, sich zu erheben. Doch auch dies gelang ihm nur schwerfällig, denn die Last seiner eigenen Gedanken drückte ihn fast zu Boden und ließ ihn bis ins Innerste erzittern. Mörder.....was hatte er nur getan! Er hatte den letzten aller Drachen umgebracht, geheiligtes Blut vergossen! Er wusste genau, dass er dafür nie Vergebung erfahren würde, am allerwenigsten von sich selbst. Und er hasste sich für das, was er getan hatte, er hasste das Ding in ihm, das ihn letztendlich dazu gebracht hatte. Sogar die Tiere und die Pflanzen schwiegen und schienen still Trauer zu tragen, ebenso wie die Bäume, die schwermütig ihre Köpfe neigten. Das helle Sonnenlicht, das eben noch die Lichtung mit ihren goldenen Strahlen umhüllt hatte, war hinter einer Wolke verschwunden. Die Vögel hielten in ihrem ewigen Lied inne, als spürten sie, was soeben vorgefallen war. Absolute, undurchdringliche Stille breitete sich auf der kleinen Wiese aus, die Welt hielt den Atem an. Sanft fielen ein paar Blätter zu Boden. Doch selbst sie vermochten es nicht, die Stellen der Schandtat zu verdecken; vielleicht würde das Rot noch in alle Ewigkeit die Erde tränken. Es war, als wäre etwas von dieser Erde verschwunden, als wäre sie ein Stück ärmer geworden. Nicht nur der letzte Drache war gestorben, es war auch etwas mit ihm gegangen, schnell und unwiderruflich. Wieder ein Stück der alten Magie, ohne das die Natur lebloser erschien als noch einige Augenblicke zuvor. Sein Tod war wie ein Symbol gewesen, ein Symbol für den unaufhaltsamen Niedergang der Welt, in der die Menschen langsam die Herrschaft übernahmen und alle Überreste der älteren Zeit vertilgten. Wie betäubt ging Yelin auf Norai zu, dessen Klinge matt zu schimmern schien. Nicht einmal ein Spritzer von Blut war auf dem blanken Stahl zu sehen - fast, als hätte sein Schwert es alles Rot getrunken. Nur zögernd streckte er die Hand nach seinem lederumwickelten Griff aus, als erwartete er ein letztes Zeichen des Dahingeschiedenen. Doch nichts geschah. Langsam schlossen sich seine Finger um das harte Leder, jede einzelne Unebenheit ertastend und spürend. Die Klinge vibrierte leicht, als er sie vom Boden aufhob und ihm kamen wieder die Worte des alten Drachen in den Sinn: Wenn ich tot bin, wirst du die Kraft in deinem Körper und deinem außergewöhnlichen Schwert erkennen können.War es das? Diese außergewöhnliche Stärke, die nun in seinem Schwert zu schlummern schien? Diese ungewöhnliche Kraft, die er, verbunden mit seiner Macht, in sich ruhen fühlte? Vorsichtig hob er Norai und steckte seine Waffe wieder in die lederne Scheide an seinem Gürtel. Mit einem Mal verspürte er das dringende Bedürfnis, von diesem Ort des Grauens zu verschwinden. Er musste seinen Lagerplatz aufsuchen und sich für den Aufbruch bereit machen. Wenn die Nacht kam, wollte er möglichst weit weg von diesem unheiligen Ort sein, dessen Boden er besudelt hatte. Ohne die dunklen Flecken roten Blutes noch einmal eines Blickes zu würdigen, schritt er langsam unter den hohen Bäumen von dannen. Ganz so weit, wie er es sich eigentlich vorgestellt hatte, kam er dann doch nicht mehr, bis die Sonne hinter den hohen Bäumen verschwand. Nachdem er hastig seine Sachen zusammen gesucht und alle Spuren seines Daseins getilgt hatte, brach er sofort auf. Die Richtung war ihm egal, er wollte nur möglichst schnell weg und die grausame Lichtung hinter sich lassen. Der Drache hatte ihn schon mitten in den frühen Morgenstunden überrascht und der Kampf bis in den Nachmittag hinein gedauert, so dass er gar nicht mehr so viel Zeit zum Gehen hatte, bis sich der kalte Schleier der Dunkelheit über den alten Wald senkte. Glücklicherweise fand er wenige Minuten nach Einbruch der Nacht eine Quelle, die mitten aus dem Waldboden sprudelte und einen kleinen See bildete, vor. Gleich daneben entdeckte er unter den Zweigen einer alten Tanne einen angenehm trockenen und geschützten Schlafplatz. Auf dem Weg hatte er schon ein paar ausgetrocknete Äste mitgenommen und mit Hilfe des Feuersteins, den er immer bei sich trug, gelang es ihm auch fast sofort, ein helles Feuer zu entfachen. Er hatte schon seit dem frühen Morgen nichts mehr gegessen, aber er verspürte irgendwie nicht das Bedürfnis nach Nahrung. Die Erinnerung saß wie ein purpurroter Splitter noch immer viel zu tief in seinem Herzen. Stattdessen wurden ihm auf einmal klar, dass er noch immer dieselbe Kleidung wie vorhin trug, beschmiert mit Blut, mit seinem Blut. Plötzlich wallte eine Welle von Widerwillen in ihm auf und er hatte das heftige Verlangen danach, sich zu waschen, alle Spuren der schrecklichen Schandtat von seinem Körper und seiner Kleidung zu tilgen. Fast panikartig befreite er sich von seinen Sachen und sprang kurz darauf selbst in die Quelle. Das Wasser war eiskalt, aber trotzdem blieb er über eine viel zu lange Zeit im Wasser stehen. Krampfhaft versuchte er, alle Blutspuren im Mondlicht von seiner Haut zu tilgen, doch selbst, als er schon am ganzen Leib zitterte, hatte er noch immer das Gefühl, schwarze Flecken auf sich verstreut zu finden. Er konnte es nicht abwaschen. In seinen Gedanken würde es wohl für immer vorhanden sein. Bis auf die Knochen durchgefroren stieg er wieder aus dem Wasser. Als er sich selbst genauer betrachtete, ob nicht irgendwo doch eine dunkle Stelle übrig geblieben war, konnte er die weiße Narbe erkennen, die sich über seinen ganzen rechten Arm hinaufzog. Mein Geschenk an dich...Tief durchatmend versuchte er, die Erinnerungen, die ihn überwältigen wollten, wieder zurück zudrängen, was ihm jedoch nur teilweise gelang. Für einen kurzen Moment sah er sich wieder an diesem verfluchten Platz stehen, gefangen im eigenen Rausch. Er sah, wie sich Norais Klinge tief in die Brust des Drachen grub, sah wie in Zeitlupe das Blut heraus spritzen. In seiner Erinnerung war es nicht mehr rot, sondern silbern. Silber...alles wurde überschwemmt von Silber, Grün und dem schillernden Blau seiner ersterbenden Augen, die ganze Szene ertränkte sich in dem wilden Farbenrausch. Yelin fand sich schluchzend und nackt auf dem Walboden kniend wieder. Trauer und tiefe, bittere Reue schien sein Herz zu überfluten und es zusammen zu pressen, so dass er kaum noch Luft bekam. Gedenke meiner, Yelin. Er weinte wie ein kleines Kind, schrie all den Schmerz aus sich heraus und verfluchte die Götter, die ihn zum Sanuki gemacht und in diesen Wald geschickt hatten. Mörder des letzten Drachens dieser Welt! Lange würde er das nicht mehr aushalten können. Entweder er würde verrückt werden, oder er würde sich eines Tages selbst das Leben nehmen. Schluss jetzt! rief eine Stimme in seinem Kopf. Sie hatte recht. Er musste sich jetzt zusammen reißen und vernünftig über die Situation nachdenken, damit er wieder ein Stück weit in die Realität zurück fand. Er ballte seine Hände fest zusammen, so dass sich seine Fingernägel schmerzhaft in seine Handflächen gruben. Doch er brauchte den Schmerz, er half ihm, wieder in die Wirklichkeit zurück zu kommen. Langsam verebbten die Wellen der Tränen auf seinen Wangen und sein Atem wurde wieder ruhiger. Sein Puls wurde langsamer und sein Körper hörte auf zu zittern. Tief durchatmend setzte er sich wieder auf und blieb für einen kurzen Moment in dieser Stellung. Die Fetzen des Kampfes zogen sich erneut hinter die unsichtbare Barriere zurück, woher sie gekommen waren und er war wieder komplett Herr seiner Sinne. Allerdings konnte er nicht wissen, wann sie das nächste Mal zuschlagen würden.... Diesen erschreckenden Gedanken beiseite wischend stand er auf und ging zu dem Bündel, in dem er seine zweite Kleidung aufbewahrte. Betont ruhig und langsam trocknete er sich mit seiner Decke ab und zog sie an, bis er wieder vollständig eingekleidet war in Hemd, Hose und weichen Lederstiefeln. Zu guter Letzt schnallte er sich noch seinen Gürtel um und fuhr sich einmal durch sein widerspenstiges, braunes Haar, um die störenden Strähnen zu beseitigen, die in sein Gesicht hingen. Dann lief er zu dem Ort, an dem er seine Sachen vorhin fallen gelassen hatte und hob sie auf, sorgsam darauf bedacht, nicht an die blutigen Stellen zu fassen. Langsam trug er sie zu dem Ufer des kleinen Sees und begann damit, sie von dem ganzen Blut zu reinigen. Doch es war dasselbe wie vorhin: andauernd hatte er das Gefühl, die großen, dunklen Flecken noch immer auf dem hellen Stoff schimmern zu sehen. Seufzend gab er es schließlich auf und hängte die Sachen zum Trocknen über einen kleinen Ast, den er in der Nähe fand. Es hatte keinen Sinn. Morgen früh, wenn das Licht ein wenig besser war, würde er es noch einmal versuchen. Und vielleicht ließen sich ja auch die Dämonen in ihm vom hellen Tageslicht vertreiben... Ein paar Augenblicke später saß Yelin vor dem brennenden Feuer, nachdenklich den Kopf auf beide Hände gestützt. Obwohl er die Ruhe dringend gebraucht hätte, konnte er keinen Schlaf finden. Die Augen unverwandt auf die flammenden Scheite gerichtet, versuchte er, das Chaos hinter seiner Stirn ein wenig zu ordnen. Was sollte er nun machen? Dass er jetzt nicht einfach so weiter konnte wie bisher, war ihm klar; dazu war einfach zu viel passiert. Doch was sollte er tun? In Gram und Selbstmitleid zu versinken, brachte ihn natürlich auch nicht weiter. Gedankenverloren strich er über den Griff seines Schwertes. Norai.....es war etwas ganz Besonderes, sogar für ein Schwert der Sanuki. Ihre Schwerter wurden für gewöhnlich aus einem einzigartigen Stahl geschmiedet: dem Makeno, das seltenste Metall auf dieser Welt. Man fand es nur tief im Boden und selbst dort auch nur in geringen Mengen. Doch wenn man genug für ein ganzes Schwert geschürft hatte, wurde es zu einem Meister gebracht, der tief in den grauen Bergen im Westen lebte. Er war angeblich der einzige, der fähig war, diese Schwerter zu schmieden. Wenn man einigen Geschichten Glauben schenken wollte, dann war er sogar selbst ein Sanuki. Keiner kannte das Geheimnis seiner Schmiedekunst, aber seine Schwerter waren das Schärfste und Härteste, was man in dieser Welt finden konnte. Man munkelte sogar, dass Magie im Spiel sein sollte, denn bei jeder Waffe von ihm zog sich eine dünne weiße Linie quer und in verschiedenen Verästelungen über die ganze Klinge. Dabei ähnelte keine der anderen. Diese feine Linie war auch gleichzeitig das Erkennungsmerkmal eines Sanuki. Die Sanuki gab es seit alters her und sie waren Menschen, die über das "Wesen" verfügten. Solch ein Mensch wurde einmal in zehn Jahren geboren und es konnte jeden treffen, Frauen wie Männer. Schon von frühester Kindheit an hatten sie eine ausgeprägte Neigung zum Schwertkampf, ungewöhnlich scharfe Sinne und eine fast unheimliche Körperbeherrschung. Spätestens im frühen Erwachsenenalter war ihnen keiner mehr gewachsen, außer die anderen Sanuki. Hatte ihr Lehrer festgestellt, dass sie nun von ihm nichts mehr lernen konnten, so wurde ihnen in einer feierlichen Zeremonie ihr Schwert überreicht. Jeder Sanuki hatte sein eigenes, nur zu ihm gehörendes Schwert. Dieses zeichnete sich dadurch aus, dass die weiße Linie auf seiner Klinge genau gleich verlief wie die selbige auf dem Rücken der "Auserwählten". Ab dem Zeitpunkt, an dem sie ihr Schwert empfangen hatten, entwickelten die Sanuki noch andere, außergewöhnliche Talente. Einige von ihnen vermochten es, die Sprache der Tiere zu verstehen, andere beherrschten Magie. Doch egal was es war: jeder von ihnen wurde mit einer einzigen solchen Begabung ausgezeichnet. Mit einem leichten Lächeln erinnerte sich Yelin zurück an seine Kindheit. Die Nachricht, dass ausgerechnet der Sohn des Königs ein Sanuki war, musste sich schneller verbreitet haben als ein Lauffeuer. Bestimmt war sein Vater sehr stolz darauf gewesen, einen dieser außergewöhnlichen Krieger zum Erben zu haben. Und anfangs schien es auch so, dass sein Nachkomme jede einzelne seiner Vorstellungen wah werden ließ. Er lernte sehr schnell und war auch sonst in anderen Dingen ungewöhnlich aufgeweckt und intelligent. Doch schon ab dem Alter von sechs Jahren stellte sich heraus, dass es etwas gab, was ihn grundlegend von den anderen Sanuki unterschied: Yelin verabscheute das Töten. Er liebte den Kampf, aber Menschen umzubringen war immer das Schlimmste gewesen, was er sich vorstellen konnte. Statt eines starken Heerführers war er ein friedliebender Mensch geworden, der sich immer weigerte, bei Schlachten mitzureiten. Über all die langen Jahre verteilt hatte es nur einen gegeben, dem er immer bedingungslos vertraut hatte: Korell, der Sohn eines Dieners und zu dem selben Zeitpunkt wie er geboren. Die beiden waren immer zusammen, egal um was es ging und schon in frühen Jahren war ihre Freundschaft so fest und unzerbrechlich König es aufgab, sie trennen zu wollen. Bald schon zeigte sich, dass auch Korell eine außergewöhnliche Begabung hatte: Er war einer der besten Bogenschützen und Reiter, die es je gegeben hatte. Sein Pfeil traf immer ins Ziel egal, wie weit entfernt oder wie klein es auch sein mochte. Er liebte Pferde, er konnte stundenlang über die weiten Ebenen seiner Heimat reiten. Die Tiere schienen auch zu ihm eine große Zuneigung zu besitzen und egal, was er ihnen befahl, sie führten es aus, so sehr vertrauten sie ihm. Auch als sie älter wurden, hielten sie immer zusammen, trotz (oder vielleicht gerade wegen) ihrer Verschiedenheit. Als Yelin 15 Jahre alt war, hatte der Meinung seines Lehrers nach alles von ihm gelernt, was er konnte. Wenige Tage vor seinem sechzehnten Geburtstag traf ein Bote des Schmiedemeisters aus den grauen Bergen ein und überbrachte ihnen das Schwert, das er von nun an tragen sollte: Norai. Schon als er es das erste Mal berührte, spürte er die Kraft, die in dem gehärteten Stahl schlummerte wie einen Funken auf sich überspringen. Es war einfach perfekt: kaum kämpften sie miteinander, schienen er und seine Waffe zu einer kompletten Einheit verschmolzen zu sein. Seit jenem Tag trug er es immer mit sich und selbst im Schlafe lag es immer griffbereit neben ihm. Und Korell....ja, jeden hatte es gewundert: Der Bote hatte noch ein weiteres Bündel dabei gehabt, das einen schlanken, aus schwarzem Holz gearbeiteten Langbogen enthielt, der für ihn bestimmt war. Die Verwunderung war groß gewesen, denn es war immer nur einen Sanuki, der pro Jahrzehnt geboren wurde und die weiße Linie befand sich nicht auf dem Rücken des Dienersohns. Und doch konnte niemand seine Begabung leugnen, ebenso wenig wie die wilde Kraft, die aus seinen fast schwarzen Augen und seiner schmächtigen Gestalt strahlte. Nach diesem Tag schien sich nur wenig zu verändern und das Leben ging weiter in seinen gewohnten Bahnen. Doch dann kam jener schicksalhafte Moment, der es für immer verändern sollte: In der Woche, in der die beiden 18 wurden, brachte ein Reiter die schlimme Nachricht: die Elben waren eingefallen und verwüsteten die Dörfer an der Landesgrenze. Und unter ihnen war angeblich ein schwarzer Krieger....der König schickte sofort seine Truppen los, um der Bedrohung Herr zu werden. Sogar Yelin, der Schlachten hassende, war dieses Mal trotz seiner Abneigung mitgekommen, Korell natürlich an seiner Seite reitend. Er war sich nur allzu bewusst gewesen, dass die Armee seines Vaters jedes Schwert gut gebrauchen konnte und natürlich vor allem das eines Sanukis. Doch dann..... Yelin verscheuchte den Schrecken, den die aufkeimende Erinnerung in sich barg. Nein, jetzt wollte er nicht mehr daran denken. Was damals passiert war, lag nun schon über sieben Jahre zurück. Sieben Jahre, in denen sein Geist immer ruheloser und sein Herz immer verschlossener geworden waren. Nur sechs Monate nach der Katastrophe am Rande des Alten Waldes hatte er es nicht mehr ausgehalten, alleine durch die leeren Gänge des Schlosses zu streifen. Norai war das einzige, was er immer noch die ganze Zeit bei sich trug und das er selbstverständlich auch mitnahm, als er sich dafür entschied, zu gehen. Er rechnete es seinem Vater hoch an, dass er damals nicht versucht hatte, ihn aufzuhalten, was ihm ohne Zweifel gelungen wäre. Denn obwohl er kein Wort gesagt hatte, hatte der König es mit Sicherheit in seinen Augen zu lesen vermocht, was er vorhatte. Doch ebenso stillschweigend, wie er es registriert hatte, hatte er es auch akzeptiert. An dem Morgen, als es so weit war, fand Yelin die Wachen abgezogen und den Schlüssel für die Seitentür, die er zu nehmen gedacht hatte, vor seinem Zimmer vor. Er hatte nicht gewusst, wohin ihn sein Weg führen würde, sondern war einfach in das Licht der aufgehenden Sonne gegangen. Mit offenen Augen starrte Yelin auf die einzelnen hellen Sternenlichter, die er durch die Zweige der Tanne zu sehen vermochte. Er war in diesen viereinhalb Jahren weit gereist. Von seinem Heim, der Feste Hagi aus den grauen Bergen des Nordens, wo er mit eigenen Augen den Schmiedemeister gesehen hatte bis zu den lichtumspielten weiten Grasebenen des Südens. Er war an den großen Sümpfen vorbeigekommen, in denen namenlose Kreaturen des Nachts aus dem Schlamm krochen und die Reisenden peinigten. Ein paar Wunder hatte er gesehen, und doch war sein Herz stets leer und einsam geblieben. Von den Strapazen der Reise war er härter geworden, seine Miene finsterer und seine dunkelgrünen Augen erstrahlten nur noch selten im Funkeln eines plötzlichen Lachens. Die ganze Zeit war er auf der Suche nach etwas gewesen. Er spürte es ganz deutlich und doch hatte er keine Ahnung, wohin sein Geist strebte. Vielleicht wollte er einfach nur Ruhe und Vergessen finden, vielleicht war es ihm auch von Anfang an bestimmt gewesen, dem letzten Drachen zu begegnen. Oder er war auf der Suche nach seiner besonderen Fähigkeit, die Fähigkeit, die jeder Sanuki im Laufe der Zeit selbst für sich entdecken musste und die sich erst auszubilden begann, wenn man sein Schwert empfing. Doch vielleicht war es auch die Sehnsucht gewesen, die Sehnsucht nach den Stätten seiner Kindheit, die ihn schließlich wieder zurück in die Nähe seiner Heimat geführt hatte. Der Alte Wald. Er hatte keinen Namen, denn jedes Wort wäre nur eine bloße Karikatur dessen, was er darstellte. Er existierte schon seit die Menschen sich hier angesiedelt hatten und würde vermutlich auch ihre Existenz lange überleben. Vielleicht hatte das Volk der Elben eine Bezeichnung für ihn, doch ihre Herzen waren finster geworden und sie teilten nun nicht mehr ihre Geheimnisse mit denen der Menschen. Und so war er einfach nur der Alte Wald. Man sagte, dass viele Geheimnisse in seinem Inneren wohnten und keiner sie je alle kennen könne. Angeblich lebte sogar der König aller Pflanzen und Tiere hier, doch noch nie hatte jemand sein schwarzes Horn oder die dunkle, silbrig schimmernde Mähne zu Gesicht bekommen. Ein einzelner Hufabdruck war das meiste, was man bisher von ihm hatte finden können. Seine Augen seien von tiefer, unendlicher Weisheit, so wurde es behauptet und seine Hufe aus purem Silber. Doch außer ihm sollte es noch andere Lebewesen hier geben, die sonst nur aus Legenden bekannt waren: Nachtmahre und kleine Gnome, Gargoylen, Dryaden, Elfen, Baumgeister und finstere, namenlose Schatten. Einige behaupteten sogar, dass selbst die alten Bäume ungezählter Äonen eine eigene Seele hatten. Ihre Rinde war dick und schartig, so dass man sich zwischen ihren Wurzeln im Vergleich zu ihnen winzig vorkam. Etwas an dem ewigen Dämmerlicht zwischen den alten Stämmen hatte Yelin wie magisch angezogen und von seinem Verlangen getrieben, hatte er sich tief zwischen die alten Pflanzen begeben. Es gab keine Pfade hier, nur ausgetretene Wildwechsel. Eine Aura von etwas Verborgenen, Geheimnisvollen umgab die Welt hier und mehr als einmal hatte er das Gefühl gehabt, dass unsichtbare Augen jeden seiner Schritte genau überwachten. Aber zu keinem einzigen Zeitpunkt hatte er irgendetwas Außergewöhnliches gesehen - außer natürlich den Drachen, dessen Begegnung mit ihm ein so schreckliches Ende genommen hatte. Und noch etwas war seltsam: obwohl er manchmal diese Gefühle des Beobachtetwerdens hatte, war ihm doch nie wirklich unwohl geworden. Er fühlte sich fast ein wenig daheim unter den vielen Bäumen, an den kleinen sprudelnden Quellen und auf den Moospolstern, die fast so etwas wie eine Atmosphäre des Friedens erzeugten. Doch wusste er genau, dass er nicht für ewig hier bleiben konnte. Etwas trieb ihn immer weiter, ließ ihn nie zur Ruhe kommen. Die ewige Suche würde vielleicht erst dann zu Ende sein, wenn er das gefunden hatte, was ihn seine Rastlosigkeit vergessen ließ. Möglicherweise würde er es nie finden und so in alle Ewigkeit die Welt durchstreifen, ein einsamer Wanderer, fast erdrückt durch die Last des Erbes, das er nun in sich trug. Mitten in diesen Gedanken musste er wohl eingeschlafen sein, denn als sich wieder seiner selbst bewusst wurde, war die Sonne schon längst aufgegangen und warf an vereinzelten Stellen ein paar Strahlen durch das dichte Blätterdach, die unscharfe Kreise auf den bemoosten Boden malten. Von den Träumen der Nacht hatte er nicht mehr viel in Erinnerung, außer den verschwommenen Eindruck von tiefen, blauen Augen, grünen Schuppen und weiße Krallen, die sich in sein Fleisch bohrten.....fast schon gewaltsam musste er sich dazu zwingen, sich nicht wieder dem Scham und Schmerz über seine Tat hinzugeben. Es reichte, wenn er ihn bis in seine Träume verfolgte. Zögernd, weil er noch immer nicht wirklich wusste, wohin er sich wenden sollte, stand er langsam auf und begann damit, seine Sachen zusammen zu suchen. Das Feuer war in der Nacht erkaltet, so dass er kein Wasser mehr verschwenden musste, um die Glut zu löschen. Obwohl er recht lange geschlafen haben musste, gähnte er noch ein paar Mal, als er zum Ufer des kleinen Sees ging, um seine Wasserflasche aufzufüllen und seine Kleidung, die er gestern dort zurück gelassen hatte, aufzusammeln. Sie war noch immer nicht ganz trocken, denn die Nacht hatte den Stoff mit Tau durchweicht. Aber wenigstens konnte er bei einem groben Überblick keinerlei Blutflecken mehr entdecken. Erleichtert raffte er die Kleidungstücke zusammen und kehrte wieder zu seinem Nachtlager zurück. Dort nahm er sich noch etwas von dem getrockneten Fleisch und rollte dann die Decken um seine gesamten Sachen zusammen. Schließlich befestigte er sie an den beiden Riemen, an denen er sie sich schließlich über seine Schulter auf seinen Rücken warf. Er überprüfte noch einmal den Sitz seines Schwertes an seinem Gürtel, dann machte er sich endgültig auf den Weg. Während des Gehens verspeiste er die Reste seines letzten erlegten Tieres und spülte noch einmal mit ein wenig Wasser nach. Dann schritt er rascher aus, obwohl er noch immer nicht wusste, wohin er sich eigentlich wenden sollte. Doch irgendwie hatte er das Gefühl, dass er sich einem Ziel nährte, von dem er selbst noch keine Ahnung hatte, wo es überhaupt lag. Die nächsten drei Tage vergingen in demselben Rhythmus: Schlafen, Essen, Laufen, Jagen, Essen, Laufen, Schlafen und immer weiter so fort. Doch Yelin wurde die quälenden Albträume, in dem regelmäßig silbernes Blut und dunkelblaue Augen vorkamen, nicht mehr los. Im Gegenteil, jede Nacht schienen sie stärker zu werden. Und in dem gleichen Maße, wie ihre Intensität zunahm, verspürte auch Yelin das seltsame Gefühl, seinem unbekannten Ziel immer näher und näher zu kommen. Er wurde immer schneller und zu guter Letzt schlief er nur noch wenige Stunden, bevor sich am vierten Tag weiter auf den Weg machte. Gegen Mittag hatte seine Geschwindigkeit schon so weit zugenommen, dass er beinahe zu rennen schien. Ihm war, als würden die Bäume immer dichter werden, als nähme die Anzahl der unsichtbaren Blicke, die auf ihm hafteten, immer weiter zu und als würde die Schicht aus grünem Moos am Boden saftiger und dicker und die Vegetation immer üppiger werden. Von einer unerklärlichen Eile angetrieben, rannte er schließlich wirklich, stolperte fast über eine breite Wurzel, die unversehens seinen Weg kreuzte - und fand sich auf einmal auf einer einzigen, weiten Lichtung wieder. Doch diese Tatsache war es nicht, die ihm schier den ohnehin schon flachen Atem raubte. Es war ein Baum. Dieser Baum war nicht einmal besonders groß oder gar imposant anzusehen, wenn man ihn mit den anderen verglich, die in diesem riesigen Wald wuchsen. Es war viel mehr sein Anblick, der ihn so erstaunte. Er musste unendlich alt sein. Der Stamm war verknorpelt und die Äste so verschlungen und ineinander verknotet, dass man unmöglich die einzelnen voneinander zu trennen vermochte. Seine Wurzeln hatten sich fest in den Boden gekrallt und waren zu einem regelrechten Miniaturlabyrinth auf dem Boden verflochten. Der ganze Baum schien von einer leichten, kaum wahrnehmbaren Aura umgeben zu sein, die in allen nur denkbaren Farben schillerte. Staunend trat Yelin ein paar Schritte näher heran. Die Blätter waren von einem dunklen, schimmernden Grün, dass ihn auf unangenehme Weise an die Schuppen des Drachen erinnerten. Doch am erstaunlichsten war die Atmosphäre, die die große Pflanze umgab: Er verstrahlte eine ungeheure Aura von Macht, Alter und vor allem alles durchschauendem Wissen. Er konnte die gewaltige Spannung von Magie, die in der Luft lag, beinahe mit den Händen greifen. Sie war so stark, dass er mit halbem Ohr auf ein Knistern lauschte wie von unsichtbaren Entladungen in der Luft. Wie hypnotisiert ging er weiter auf diese uralte Stück Natur zu, mit jedem Blick neue kleine Wunder in den zahlreichen Ästen entdeckend. Da waren zum Beispiel an einer Stelle Dutzende von kleinen, blutroten Blüten, die von weitem fast wie ein roter Fleck auf dem Ast aussahen. An einem anderen Platz entdeckte er seltsame Früchte, die er noch nie zuvor gesehen hatte und von einer Art braunen Pelz eingehüllt zu sein schienen. Doch mehr als alles andere verlangte es ihn plötzlich danach, die verkrustete Rinde unter seinen eigenen Fingern zu spüren. Und so überwand er die letzte kurze Distanz mit ein paar Schritten und presste zögernd beide Hände auf den verknorpelten Stamm. Das Holz unter seinen Fingerspitzen fühlte sich warm an und irgendwie lebendig. Als er die Augen schloss, vermeinte er, sich in den Baum fühlen zu können. Er spürte jedes Blatt, jede Blüte, jedes noch so unvorstellbar kleine Lebewesen, welches in ihm zu Hause war. Der Baum war voll von Leben, er war die Quelle allen Lebens. Und als er versuchte, noch tiefer in ihn einzudringen, spürte er am Rande seines Geistes so etwas wie die Existenz einer uralten, weisen Intelligenz und einen tiefen, dumpfen Herzschlag, der sich mit dem seinen vermischte. Langsam begriff er die abstrakten Gedankengänge des uralten Wesens, tauchte tief in die inneren Seiten seiner Seele... "An deiner Stelle würde ich das nicht machen." Eine Stimme riss ihn aus der Verschmelzung mit dem Herzen des Baumes. Im selben Moment, als ihre Geister sich wieder trennten, taumelte Yelin und musste sich am Stamm festhalten, um nicht umzufallen. Für einen kurzen, zeitlosen Moment hatte er einen Blick auf das Wesen aller Dinge erhaschen dürfen. Es hatte in ihn hineingesehen für diesen winzigen Moment und es hatte alles erkannt, selbst seine tiefsten Geheimnisse, von denen er nicht einmal selbst etwas wusste. Für eine kurze Zeitspanne verschleierte sich sein Blick vor Schwäche, ehe er wieder klar sehen konnte. Erst dann wurde bewusst, was seine Verbindung gestört hatte und er blickte sich um. "Du hattest Glück. Wäre ich ein paar Sekunden später gekommen, so wärst du jetzt vermutlich tot." Die Stimme gehörte zu einem (scheinbar) weiblichen Wesen, das sich nur ein paar Schritte von ihm entfernt befand und ihn mit funkelnden Augen musterte. Ihr Haar war von demselben dunklen Grün wie die Blätter des Baumes, unter dem sie standen. Obwohl sie auf den ersten Blick beinahe perfekt proportioniert aussah, wies ihre Gestalt spätestens beim zweiten Blick kleinere Unbestimmtheiten auf: ihre Finger schienen zu lang und dünn zu sein, ihr Teint wies eine leichte Abweichung ins Grüne auf und die Beine waren eine Winzigkeit zu knochig. Das Gesicht, das von dem leicht gelockten, wallenden Haar begrenzt wurde, sah aus, als wäre es aus sehr feinem Holz geschnitzt, mit hohen Wangenknochen, einer langen, schlanken Nase und ausdrucksvollen, tiefbraun schimmernden Augen. Und sie war nackt. Yelin spürte, wie er sie ungeniert anstarrte und wurde tiefrot. Tatsächlich war es ihm im ersten Augenblick gar nicht aufgefallen - doch nun erkannte er, dass das, was er zuerst für eine Art Kleidung gehalten hatte, nichts anderes als dunkle, rissige Rinde, aus der vereinzelt ein paar kleine Blätter und Blüten sprossen. Und jetzt, umso länger er sie ansah, wurde es ihm immer unklarer, wie er sie überhaupt für ein menschenähnliches Wesen hatte halten können. Nun erkannte er auch, was er vor sich hatte: es war ohne Zweifel eine Dryade, eine der Baumgeister, die so mit ihrem Schützling verbunden waren, dass sie ebenfalls all das spürte, was ihm angetan wurde. Der Legende nach hatte in den alten Zeiten jeder Baum eine einzelne Dryade besessen, die mit ihm geboren wurde und mit ihm starb. Doch heutzutage schwand die Magie und mit ihr auch alle ihre unnatürlichen Wesen. Doch sie....sie schien überhaupt nicht geschwächt, sondern strahlte stattdessen eine solche Macht aus, dass er unwillkürlich den Drang verspürte, zurück zu weichen. Sie musste Geist dieses Baumes hier sein. Dann erinnerte er sich wieder daran, dass sie etwas gesagt hatte. "W-Was?" entgegnete er stockend. "Ich sagte, dass du vermutlich tot wärst, hätte ich dich nicht gerettet. Yonami hat nämlich die Eigenschaft, allen Lebewesen, die sie berühren, in sich aufzunehmen. Und das bedeutet letztendlich, dass sie dir außer deinem Geist auch deine gesamte Lebenskraft entzogen hätte." Yelin war noch zu überrascht über diese Worte als dass er sich bei seiner Retterin hätte bedanken könnte. "Yonami?" das war das einzige, was er hervorbrachte. Das Glitzern in ihren allwissenden Augen schien zuzunehmen bei seiner Frage und um ihre Lippen spielte ein leichtes, nachsichtiges Lächeln, als würde sie einem Kind erklären wollen, was Leben bedeutet. Dann machte sie ein wage, ausholende Handbewegung. "Dieser unendliche Baum hier. Vielleicht magst du sie unter einem anderen Namen kennen. Baum des Lebens, Wesen der Natur, Lebensspender, Weltenesche...die Elben nennen sie Ulantië, was so viel wie "Bewahrerin der Unendlichkeit" bedeutet. Sie hat so viele Namen, dass nicht einmal ich sie alle kenne. Doch ihr wahrer, seit undenkbaren Zeiten existierender Name ist Yonami. Sie ist der Ursprung und das Ende; alles kehrt in ihren Schoß zurück." Yonami....der Name rührte etwas in ihm. Dem uralten Geist des Drachens, von dem er einen Teil in sich aufgenommen hatte, war er wohl bekannt gewesen. Er hatte ihn verehrt, so wie alle Lebewesen, die ihn noch nicht vergessen hatten. "Aber was tue ich hier?" fragte er mehr zu sich selbst als zu der Dryade, die noch immer in unveränderter Haltung vor ihm stand. "Du bist hier weil ich dich gerufen habe. Ich habe dich beobachtet, schon seit du diesen alten Wald betreten hast. Ich habe alles gesehen, auch deinen Kampf mit dem Drachen und sein Tod. Keiner betritt diese Fläche hier gegen meinen Willen. Du suchst etwas. Ich kann dir nicht geben, was deine Rastlosigkeit stillt, doch vielleicht kann ich dir den Weg zeigen, wie du es finden kannst. Folge mir." Und auf ihren Wink hin tat sich vor Yelins erstaunten Augen ein Spalt in dem vernarbten Holz der Unendlichen auf. Er drehte sich um, um die Dryade zu fragen, was das alles zu bedeuten hatte, doch sie war verschwunden. Stattdessen hörte er ihre Stimme aus dem Inneren: "Komm." Zögernd und sorgsam darauf bedacht, die Rinde nicht noch einmal so fest zu berühren, stieg er durch die Lücke hindurch. Unversehens fand er sich in einem kleinen Raum wieder, der ganz aus Holz zu bestehen schien. Es gab ein Tisch und zwei Stühle, die beide aussahen, als wären sie aus dem Boden gewachsen. Die Wände waren von dichtem Wurzel- und Astwerk überzogen, hie und da konnte er sogar wieder jene rätselhaften Blüten und Blätter erkennen. Doch am Seltsamsten kam ihm das leichte, kaum wahrnehmbare Summen und Flimmern vor, das er in der Luft zu verspüren glaubte. Als er über seine Schulter blickte, erkannte er, dass der Riss wieder verschwunden war und nichts mehr auf seine Anwesenheit hindeutete. Es war ihm ein Rätsel, wie ein solch großer Raum in einen doch recht kleinen Baum wie diesen hinein passte und er richtete diese Frage auch an seine Führerin, die auf einem der beiden Stühle Platz genommen hatte. Wieder lächelte sie auf jene seltsame Art und Weise, die ihn so sehr verunsicherte. "Das Äußere muss nicht die Gestalt des Inneren widerspiegeln, Yelin. Hör endlich auf, in solche engen Bahnen zu denken. Schau darüber hinaus! Sieh über die unsichtbare Grenze, die Magie und Wirklichkeit trennt und du wirst erkennen, was das Leben bedeutet. Du kannst es, wenn du nur wirklich willst." meinte sie geheimnisvoll. "Aber ich...." Yelin wunderte sich nicht einmal, dass die Dryade seinen Namen kannte. Irgendwie hatte er damit gerechnet, ja er wäre vielleicht sogar enttäuscht gewesen, wäre es nicht so gewesen. Mit einer anmutigen Bewegung erhob sich Yonami und legte ihm sanft die Finger auf die Lippen. "Nein, kein "aber", Yelin. Quäle dich nicht mehr in Widersprüchen und Kummer; denn was geschehen ist, das kannst du nicht mehr rückgängig machen." Als sie seinen verblüfften Blick bemerkte, lachte sie leise. "Oh ja, ich weiß nicht nur von deinem Kampf mit dem Drachen. Ich weiß auch, was damals geschah, als der schwarze Elb sein Schwert hob.....doch ich denke nicht, dass du hierher gekommen bist, damit ich an dieser alten Wunde rühre, nicht wahr? Du suchst andere Antworten." Yelin nickte. "Ja...aber wie konnte ich aus eigenem Willen hierhin gelangen, wenn du die einzige bist, die Zugang gewähren kann? Und wo ist dieses "hier" überhaupt?" Tadelnd schüttelte die Baumnymphe ihren Kopf und blickte ihm tief in die Augen. "So viele Fragen......niemand kann an diesen Ort gelangen, wenn er es nicht wirklich und insgeheim will. Ich kann den Zugang verwehren, doch wahren Willen vermag ich nicht zu brechen. Du kamst hierher, weil es dein Wunsch war, unbewusst oder nicht. Und was dies hier ist, habe ich dir schon einmal gesagt: Es ist der Anfang und das Ende. Der Mittelpunkt dieser Welt, wenn du es so willst. Einst ging alles aus dem Schoße dieses Baumes hervor und eines Tages wird auch alles wieder hierhin zurück kehren. Ich bin die Wächterin dieses uralten Baumes und trage ihren Namen. Und so, wie sie vielleicht ewig stehen wird, so werde ich auch leben. Ich war das erste Geschöpf, das sie gebar und habe Dinge gesehen, deren bloßer Widerhall dich vor Ehrfurcht erstarren lassen würde. Unsere Geschichte ist unendlich lang. Ebenso wie die Antwort auf deine Fragen lange dauern könnte. Setz dich." Mit einer anmutigen Bewegung trat sie zurück und deutet auf den zweiten Stuhl. Sie selbst ließ sich auf demselben nieder, auf dem sie schon vorhin Platz genommen hatte. Yelin hatte für einen kurzen Moment die seltsame Eingebung, dass sie mir ihrem Sitzplatz irgendwie zu verwachsen schien..... Dankbar nahm er jedoch Platz, zögerte aber, seine Frage auszusprechen. Vorhin hatte er so viele davon in seinem Kopf gehabt, doch jetzt, als die Antworten greifbar vor ihm lagen, schienen sie sich mit einem Mal alle in Wohlgefallen aufgelöst zu haben. Endlich gelang es ihm, seinen Mund zu öffnen und ein paar Worte zu sprechen. "Was bin ich?" "Ich dachte, das wüsstest du. Du bist ein Mensch." Er lächelte leicht und schüttelte gleichzeitig ein wenig den Kopf. "Nein, das war es nicht, was ich sagen wollte. Ich meine, wer bin ich wirklich? Was ist mein Wesen? Was ist es, das mich so besonders macht, dass er gerade mich erwählt hat?" Die ausdrucksvollen Augen der Dryade schienen voll Mitleid zu sein, als sie antwortete. "Indirekt hat er es dir schon gesagt, warum er dich erwählte. Vielleicht kann man es am einfachsten so ausdrücken: Du hast ein gutes Herz. Glaubst du wirklich, all dies hätte keinen Sinn? Denkst du, man hätte dich nicht mit all diesen Gaben ausgestattet, wenn sie dir zu nichts nütze wären? Ich glaube, er erwählte dich, weil du gleichzeitig so unschuldig wie weise warst. Diese Mischung faszinierte ihn; sie zog ihn an und irgendetwas sagte ihm, dass du der richtige warst. Eines Tages wirst du es selbst feststellen, glaube mir. Irgendwann wirst du dankbar sein für das Erbe, das er dir hinterlassen hat." Mit einem traurigen Lächeln ließ er ein abermaliges Kopfschütteln folgen. "So Leid es mir tut, aber das kann ich nicht glauben. Ich bin nicht der Meinung, dass so etwas wie Schicksal oder Vorausbestimmung existiert. Was hätte denn dann das Leben für einen Sinn, wenn das Ergebnis schon feststeht?" "Vielleicht ist die Antwort auf diese Frage genau das, wonach du auf der Suche bist, mein Prinz. Ich kann und will sie dir nicht geben, denn dies ist eine Sache, die jeder für sich selbst entdecken sollte. " Bevor er die nächste Frage stellte, schwieg Yelin sehr lange und ließ sich das soeben Gesagte noch einmal Wort für Wort durch den Kopf gehen. "Was ist mein "Talent"?" fragte er schließlich. Dies war das erste Mal, dass er den Baumgeist wirklich lachen hörte. Es klang wie ein Sturm, der durch die Blätter eines Baumes fegte, vereint mit dem leisen Glucksen einer stillen Quelle und dem Geräusch von Wurzeln, die sich durch festen Felsen gruben. "Hast du es noch nicht gefunden?" als Yelin den Kopf schüttelte, fuhr sie fort: "Ich könnte dir jetzt einfach die Antwort auf diese Fragen geben. Doch ich glaube nicht, dass du danach wesentlich klüger wärst. Das "Talent" muss jeder Sanuki für sich selbst finden. Es kommt nicht von heute auf morgen und es gab schon ein paar, bei denen es nie erschienen ist. Aber ich bin sicher, dass du es bald erfahren wirst...." Sie deutete auf die Narbe an seinem Arm. "Das stammt von ihm, habe ich recht?" und als er nickte, fuhr sie fort: "Die Begegnung mit dem Drachen hat den schlummernden Samen in dir geweckt; er fängt schon langsam an zu wachsen, merkst du es nicht?" Seufzend verneinte er auch dies. Wieder wurde es still; doch dieses Mal lag ihm die Frage schon auf der Zunge, er zögerte nur aus Gründen, die er selbst nicht kannte, sie auszusprechen. Doch endlich überwandte er sich. "Wohin soll ich nun gehen? Was soll ich tun?" Mit einem zufriedenen Gesichtsaudruck lehnte sich Yonami ein wenig zurück und beobachtete ihn genau, während sie sprach. "Ah, ich wusste, dass du das fragen würdest. Die Antwort ist nicht leicht. Was, wenn ich dir zu viel verrate über das was du bist und du somit bewusst die Macht hast, dein Schicksal zu ändern? Damit würde ich den Lauf der ganzen Welt eingreifen, was mir nicht gestattet ist. Sagte ich dir jedoch nichts, so könnte es denselben Effekt haben, da dir ein wichtiger Hinweis fehlt, der deine nachmaligen Entscheidungen in die richtige Richtung beeinflusst. Du siehst, in was für eine Dilemma ich bin. Dazu kommt noch, dass selbst ich nicht die Macht habe, die gesamte Zukunft zu kennen. Denn obwohl so etwas wie ein Schicksal existiert, kann es doch geändert werden von einem starken Willen, den du ohne Zweifel besitzt. Die Zukunft ist etwas sehr Kompliziertes; auch für mich sind ab und an nur dunkle Schemen erkennbar. Doch ich kann und werde dich nicht so unwissend ziehen lassen, wie du gekommen bist. Wir Dryaden haben eine besondere Fähigkeit: dreimal in unserem Leben können wir anderen Lebewesen eine Prophezeiung über ihre Zukunft machen. Zweimal habe ich diese Fähigkeit bereits angewendet, das erste Mal schon unendlich weit in der Vergangenheit. Das dritte Mal gehört dir. Doch du musst gut Acht geben: Ich werde dir die Worte nur ein einziges Mal sagen, denn danach ist meine Magie verbraucht. Präge sie dir also gut ein, wenn du sie nicht vergessen willst." Die letzten Worte hatte sie nur noch leise ausgesprochen. Ein Ausdruck höchster Konzentration legte sich über ihr Gesicht und es verwandelte es in eine starre Maske. Die Spannung, die schon zuvor den Raum erfüllt hatte, erhöhte sich weiter, so dass Yelin bald das Gefühl hatte, er könne sie mit den Händen ergreifen. Dann begann das Flimmern, das er vorhin schon vage wahrgenommen hatte, stetig intensiver zu werden, bis eine Art grüne Aura den ganzen Raum für sich einnahm. Rund um die Dryade herum bildeten sich sogar einzelne, besonders helle Stellen aus, die aussahen wie kleine Lichtpünktchen. Sie schienen sich zu bewegen und erst nach und nach erkannte er, dass der Baumgeist vor ihm sie in ihren Händen einzusammeln schien, bis schließlich ihre gesamte Gestalt und vor allem in ihr Gesicht in smaragdenes Leuchten gehüllt war. Dann hob sie an zu sprechen. Yelin erschauderte bis ins Innerste, als er ihre Stimme wahrnahm. Sie war nicht mehr sanft und von dem leisen Rauschen von Blättern erfüllt, sondern finster und schwer, als klänge sie aus den Tiefen von Zeit und Raum an sein Ohr. Blut wird durch Blut gesühnt Neues löscht Altes aus Mörder Nur das Erwachen dessen Der ewig schlief Kann sühnen Was du verbrechen musstest So geh und suche Den Schrein der uralten Macht Der bei den Enuya ruht. Verloren geglaubtes wirst du finden Und Gut und Böse Werden sich wandeln Unter deinen Schritten. Doch um zu gewinnen Was du am meisten liebst Wirst du es zuvor Verlieren müssen Träger des unsterblichen Erbes der Drachen Dann brach der Zauber unvermittelt. Das tiefe Leuchten verschwand augenblicklich und ließ wieder jenen leichten blassen Schimmer zurück den er schon zuvor bemerkt hatte. Die Dryade schloss erschöpft die Augen und atmete schwer aus und ein. Kleine Schweißperlen standen auf ihrer Stirn und ihre Lippen zitterten. Sie schien vollkommen erschöpft zu sein von dem kurzen Blick in die Zukunft. Doch auch Yelin war erschüttert. Diese Worte hatten ihn tief in seinem Inneren berührt und ihr rätselhafter Klang wirkte auch jetzt noch nach, wo sie schon längst im Raum verhallt waren. Fast kam es ihm wie ein Verbrechen vor, die eingekehrte Stille zu durchbrechen, doch er musste es einfach sagen. "Warum.....warum hast du das getan?" fragte er mit leiser, stockender Stimme. Yonami lächelte erschöpft und öffnete ihre Augen wieder. Yelin erschrak, als er darin ein Stück Leere erkannte, das vorhin noch nicht dort gewesen war. Sie schien es bemerkt zu haben und ihr Lächeln wurde noch ein wenig breiter. "Du brauchst keine Angst zu haben, Yelin. Die Erschöpfung ist nicht von Dauer, sie wird bald wieder verschwinden. Doch diese Vorrausage hat mich fast all meine magische Energie gekostet. Warum ich das getan habe? Ich weiß es selber nicht so genau...aber ich denke, es war der selbe Grund, warum der Drache dich erwählte. Du interessierst mich. Da ist etwas an dir, das es einem unmöglich macht, dir zu widerstehen. Es ist nichts Körperliches oder Greifbares, aber es ist unzweifelhaft da. Du hast eine große Reise vor dir, Drachentöter. Darum mache dich lieber bald auf den Weg. Denke immer daran, die Prophezeiung in deinem Herzen zu tragen! Wer weiß, vielleicht enthält sie mehr Wahrheiten, als du bis jetzt glauben magst." Auf eine schwache Handbewegung von ihr hin öffnete sich wieder der Spalt in der vormals undurchdringlichen Wand, durch den er vorhin eingetreten war. Noch zögerte er zu gehen, denn er fand keine Worte, ihr seine Dankbarkeit beweisen zu können. Doch als er sich schließlich zögernd umwandte blickte er ihr noch ein letztes Mal in die tiefen Augen und erkannte, dass er nichts mehr sagen musste. Sie hatte es schon längst in seinen Blicken gelesen. Als er nach draußen trat, vermeinte er noch einmal schwach ihre Stimme zu vernehmen. "Leb wohl, Prinz. Ich denke nicht, dass wir uns wiedersehen werden. Gib Acht auf dich und versprich mir, deine Suche nie aufzugeben!" Mit schwerem Herzen entfernte er sich von Yonami. Doch als er ein letztes Mal zurückblickte, sah er nicht mehr den dunklen, sonnigen Baum, der vorhin dort gestanden hatte. Er hatte alle Blätter verloren wie nach einem harten Wintersturm und nur die nackte, kahle Rinde war übrig geblieben. Aber während er noch dort stand, sah er schon die ersten, winzigen Flecken kleiner, weißer Blüten sprießen. Da wurde ihm bewusst, was sie für ihn gegeben hatte und leise flüsterte er in den Wind: "Ich verspreche es, Yonami, Hüterin des Lebens." Eine kleine Brise trug die Worte von seinen Lippen fort, doch er war sicher, dass sie sie vernommen hatte. Mit einem leichten, traurigen Lächeln wandte er sich um und er blickte nicht einmal zurück ehe er die Lichtung wieder verlassen hatte. Kapitel 3: Physales ------------------- Über eine Woche lang streifte Yelin weiter durch den Alten Wald, noch immer rast- und ruhelos. Ihn hielt es nicht einen Tag am selben Ort, lediglich zum Schlafen verweilte er länger als eine Stunde an einem bestimmten Platz. Doch ansonsten trieb es ihn immer weiter, die rätselhaften Worte der geheimnisvollen Dryade noch immer in den Ohren. War er tatsächlich an diesem verwunschenen Ort gewesen? Je länger er unterwegs war, desto mehr erschien es ihm wie ein vergangener, immer weiter verblassender Traum, von dem ihm lediglich noch die geheimnisvolle Weissagung blieb. Ein Baum, der das Zentrum der Welt darstellte und in so vollkommener Symbiose mit seiner Dryade lebte, dass sie beinahe eins waren......Der Anfang und das Ende. Sollte er wirklich dort gewesen sein? Gib Acht auf dich und versprich mir, deine Suche nie aufzugeben! säuselte die leise Stimme des Windes nicht eben ihre letzten Worte? Oder war es nur wieder die Einbildung, die ihm einen Streich spielte......Lebe wohl, Prinz. Ja, dies hatte sie zuletzt zu ihm gesagt, mit eben jenem sanften Lächeln, das einen so sehr verzaubern konnte. Egal ob Einbildung oder nicht, er würde sie und ihre Worte für immer in seiner Erinnerung behalten, das wusste er. Dazu war diese Begegnung zu kostbar gewesen, zu einzigartig, um sie einfach wegzuwerfen. Und das Treffen mit ihr hatte auch etwas tief in ihm verändert, das wurde ihm allmählich klar. Sie hatte ihn mit jener Art wilder, trügerischer Hoffnung erfüllt, die nur der haben kann, der weiß, was vor ihm liegt und trotzdem noch einen Lichtstrahl sieht. Er wusste nicht, ob er die Prophezeiung je würde erfüllen können, ob sie überhaupt wahr war, aber ihm war nun bewusst, dass er ein Ziel anstreben konnte, anstatt sich rastlos dem Zufall zu überlassen. Sein Ziel war es nun, wieder aus diesem Wald hinaus zu kommen, so gerne er auch noch ein wenig hier umher streifen würde, er musste die Sache in die Hand nehmen. Wie hatte Korell doch immer gesagt: Was du nicht anfängst, kannst du auch nicht zu Ende bringen. Korell.....sein Name brachte wieder jene unbekannte, schwermütige Saite in ihm zum Schwingen, die er bisher immer mehr oder minder erfolgreich hatte verdrängen können. Wieder blitzten die Erinnerungen in seinem Geist auf: Das weiße Haar des Schwarzen Kriegers....das zischende Geräusch, mit der seine Klinge durch die Luft schnitt und immer wieder der eine Schrei, den sein Freund ausstieß, jenen verzweifelten, traurigen Schrei, den er nie wieder würde vergessen können. Mit einem qualvollen Geräusch versuchte er, die Dämonen seiner Gedanken wieder zu vertreiben. Nein, er hasste es, an jenen alten Bruchstücken zu rühren, die den Wendepunkt in seinem Leben dargestellt hatten. Gut und Böse werden sich wandeln unter deinen Schritten...wieder tauchten die Wortfetzen der Dryade vor seinem inneren Auge auf. So sehr er sich auch bemühte, er schaffte es einfach nicht, sie wirklich zu deuten. Er hoffte, dass sie später wieder einen Sinn ergeben würden, wenn er einmal auf diesen Moment zurück blickte. Gedankenverloren wanderte er weiter durch die länger werdenden Schatten der hohen Bäume. Seit er von Yonami geschieden war, hatte er überall dieses sanfte Schimmern wahrnehmen können, wie er es auch in dem Raum verspürt hatte. Bloß dass es dort ungleich stärker gewesen war. An einigen Stellen schienen sich die dünnen Schleier jedoch ein wenig zu verdichten und er hätte schwören können, dass er schon ein manches Mal ein neugieriges Augenpaar erspäht hatte, dass durch die dünnen Äste von Strauchwerk zu ihm hinüber blickte. Aber noch hatte sich kein weiteres magisches Wesen blicken lassen, von denen es hier ja angeblich regelrecht wimmeln sollte. Doch eines Abends, als er sich gerade zum Schlafen niederlegen wollte, kitzelte etwas ziemlich frech und unnachgiebig in seinem linken Ohr. Mit einem Stirnrunzeln wandte er sich um, erblickte aber nichts als Dunkelheit und er konnte auch keinerlei Gefahr verspüren. Lediglich das Flimmern schien sich an einer Stelle verstärkt zu haben.....Aber was war es gewesen? 'Wahrscheinlich irgendein vorwitziger, überhängender Ast' dachte er ärgerlich und legte sich endgültig wieder nieder. Dann zog er sich die Decke bis zum Hals hoch und blickte in ein kleines glattes Gesicht, irgendwo zwischen Troll, Fee und Libelle. "Hallo", sagte das Gesicht zu ihm. Mit einem Schrei fuhr Yelin auf und sah sich wild um, konnte aber wieder nichts entdecken. "Auf deiner Schulter, du Idiot." hörte er wieder jene kleine, tiefe Stimme sagen. Als er rechts an sich herabblickte, sah er das winzige Wesen sofort, wie es auf seiner Schulter saß und vergnüglich zu ihm hinauf starrte. Yelin versuchte, seinen donnernden Herzschlag ein wenig zu dämpfen, ehe er die Luft zum Sprechen fand. "Wer bist du?!" Er musste an sich halten, um nicht einfach loszuschreien. Doch so komisch es war, Angst konnte er im Angesicht zu dem Kleinen nicht wirklich empfinden. Sein Körper war nicht richtig einzuordnen, er schien spindeldürr zu sein, mit Armen und Beinen, die irgendwie alle so aussahen, als hätten sie nicht die richtige Länge. Der Kopf war ein wenig zu groß und vor allem die Augen traten weit hervor, so dass er wieder den flüchtigen Eindruck eines Insektes hatte. Dieser wurde durch die vier dünnen, durchsichtigen Flügel auf seinem Rücken nur noch weiter verstärkt. Da es dunkel war, konnte er nicht noch mehr Einzelheiten erkennen, aber er war sich gar nicht einmal so sicher, ob er das auch wirklich wollte. Indes er es musterte, hatte das geflügelte Männlein wieder zu sprechen angehoben. "Mein Name ist Physales. Ich bin ein Gúdo, ein Erdgeist, der aber ganz offensichtlich auch Fliegen kann, wie du siehst." Aufgeregt schlug er mit seinen kleinen Flügeln in der Luft. "Und wie lautet dein Name?" "Yelin" antwortete dieser fast schon automatisch. Physales? Das erinnerte ihn an einen Pflanzennamen..... "Ganz genau." Ertönte das Stimmchen wieder. "Physalis, so lautet der Name meiner Pflanze, für die ich zuständig bin." "Du...du kannst meine Gedanken lesen?" fragte Yelin besorgt. Ihm war nicht so ganz wohl bei der Tatsche, dass ein fremder Geist einfach so in seinem Kopf herumstöberte. "Natürlich, was dachtest denn du?" erklang die Antwort, schon fast ein wenig beleidigt. "Alle Erdgeister können das, das ist ganz normal." "Aha." Langsam fragte er sich, ob sein Verstand bei dem Besuch bei Yonami ernsthaft in Gefahr geraten war.... "Yonami?" sofort war das Interesse des Kleinen erwacht. Neugierig wandte er den Kopf und wiederholte noch einmal: "Du hast wirklich Yonami gesehen? Die Dryade und ihren unsterblichen Lebensbaum?" Als er in ihm keinerlei Anzeichen von Lüge oder Unwahrheit entdecken konnte, wurden seine Augen noch größer als zuvor. "Das ist ja unglaublich! Du musst wirklich sehr wichtig sein, wenn sie dich einfach so einlässt..." Yelin nickte verwirrt. Langsam begann er, die ganze Tragweite dieser skurrilen Situation zu erfassen. Auf seiner Schulter saß unzweifelhaft ein magisches Wesen, das mit den Beinen baumelte, ehrfurchtsvoll zu ihm hinauf starrte und eindeutig seine Gedanken lesen konnte! Hatte er nicht schon die ganze Zeit einem magischen Wesen begegnen wollen? Nun, offensichtlich war sein Wunsch in Erfüllung gegangen.... "Warum bist du eigentlich überhaupt zu mir gekommen?" fragte er mit einem Stirnrunzeln. "Na ja......" Plötzlich wirkte Physales ein wenig verlegen. "Weißt du, ich hatte so einen interessanten Duft in der Nase....da bin ich einfach mal losgeflogen und habe dich dann da sitzen sehen. Und je näher ich dir kam, desto größer wurde mein Bedürfnis, zu dir zu kommen.....ich weiß auch nicht, aber irgendwie fand ich dich ungemein anziehend." Das war seltsam. Es war ja beileibe nicht das erste Mal, dass er Worte dieser Art aus dem Munde eines magischen Wesens vernahm.....die Dryade und der Drache hatten beide etwas Ähnliches gesagt. "Der Drache?" Der brennende Heißhunger nach Wissen über ihn lag in den runden, hervor tretenden Augen des kleinen Wesens und seine Frage erinnerte Yelin wieder daran, dass er seinen Kopf nun ja nicht mehr so ganz alleine für sich hatte...... "Könntest du vielleicht bitte damit aufhören, einfach so meine Gedanken zu lesen ?!" fragte er schärfer als beabsichtigt. Aber über sein Erlebnis auf der kleinen Lichtung wollte er nicht reden. Nicht jetzt. Und schon gar nicht mit einem kleinen Mann mit durchsichtigen Flügeln und dem Aussehen einer verunglückten, menschlichen Libelle! "Ist ja schon gut." meinte dieser beleidigt. "Ich weiß ja, dass ich keine besondere Schönheit bin, aber was soll ich denn machen? Ich höre deine Gedanken so gut, als würdest du neben mir stehen und sie laut aussprechen!" Schuldbewusst errötete Yelin. Für einen kurzen Moment hatte er vergessen, dass der Gúdo genauso empfindsam war wie ein anderer Mensch. Seine Gefühle konnte nicht weniger verletzt werden, nur weil er so klein war oder ein wenig seltsam aussah. "Es tut mir Leid," meinte er sanft, "ich habe es nicht so gemeint, wirklich nicht." "Schon gut." Der kleine Erdgeist wirkte zwar noch immer ein wenig verletzt, doch seine Miene war lange nicht so abweisend wie noch vor ein paar Augenblicken. "Du bist nicht der einzige, von dem ich mir das schon anhören musste. Bei meinen Artgenossen bin ich auch nicht sonderlich begehrt.....aber jetzt mal zu dir: Was machst du eigentlich hier?" Die Frage kam so unerwartet und plötzlich, dass Yelin einfach nicht anders konnte, als zu antworten. "Ich bin auf der Suche. Ich weiß noch nicht, was ich zu finden gedenke, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich jetzt aus diesem Wald hier heraus muss...kannst du mir vielleicht helfen, den schnellsten Weg hier heraus zu finden?" "Klar kann ich." Er zögerte kurz. "Sag mal.....das, was du suchst, du hast wirklich keine Ahnung, was es ist, oder?" "Warum fragst du?" "Nun ja....seit ein paar Tagen laufen gewisse Gerüchte durch den Wald....dass ein seltsamer Wanderer unterwegs sein soll, der den Drachen getötet haben soll, der hier gewohnt hat....außerdem soll er bei der Yonami gewesen sein und sie hat ihm angeblich sogar eine Prophezeiung gemacht! Du bist doch nicht etwa dieser Wanderer, oder?" Mit einem Mal erschien eine Spur von Angst auf seinem Gesicht. Dieses Mal sparte es sich Yelin, seine Antwort laut auszusprechen und dachte: Du weißt die Antwort auf diese Frage doch schon längst, oder? Und der Drache..... In Physales' Stimme schwang ein sehr sanfter und mitleidiger Unterton mit, als er auf einmal ein paar ungewöhnliche Worte sprach: "Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst. Ich spüre, dass es dich sehr traurig macht; vielleicht willst du es mir ja irgendwann einmal erzählen." Er konnte nicht anders, doch in diesem Moment war Yelin dem kleinen Mann auf seiner Schulter unendlich dankbar für seine verständnisvollen Worte. Er hatte keine Ahnung, wie viel er ihm gerade dadurch gegeben hatte. Mit einem leichten Lächeln fragte er ihn, ob er sich vielleicht an einen anderen Platz setzen könne als gerade auf seine Schulter, denn er wollte endlich schlafen. Ein kleines Gähnen war die unmissverständliche Antwort und wortlos flatterte er auf einen kleinen Ast, um sich dort zum Schlafen niederzulassen. Yelin tat es ihm gleich und legte sich ebenfalls wieder hin, dieses mal ungestört. Und zum ersten Mal seit jenem schwarzen Tag vor sieben Jahren spürte er wieder einen Hauch jenes wunderbaren Gefühls, mit einem Gefährten an seiner Seite einzuschlafen. Der nächste Morgen weckte ihn mit einem sanften Kitzeln von Sonnenstrahlen auf seiner Nase. Es war noch recht früh und die Pflanzen um ihn herum trugen noch immer ihr schillerndes Nachtkleid aus Tautropfen. Ebenso wie bei ihnen hatten sich auch auf den Flügeln des Gúdo ein paar silberne Tropfen angesammelt. Das kleine Wesen selbst schlummerte indes friedlich vor sich hin, die Brust hob und senkte sich im Takt zu einem leisen, kaum hörbarem Schnarchen. Yelin wollte ihn nicht aufwecken und so schnallte er sich so leise wie möglich seinen Gürtel wieder um und begann damit, sein Frühstück im Wald zu suchen. Er hatte noch ein paar Reste Fleisch von dem vorletzten Tag, und bereicherte seinen kargen Speiseplan nun mit ein paar frischen Beeren, die er im Wald suchte. Als er wieder zurückkehrte, fand er den kleinen Geist inzwischen wach vor, wie er interessiert die Reste des Feuers von gestern Abend und seine Sachen begutachtete. "Wozu braucht ihr Menschen das?" fragte er stirnrunzelnd und deutete auf die Decken, die noch immer aufgeschlagen am Boden lagen. "Darin wickeln wir uns ein, damit uns nachts nicht so kalt wird." antwortete Yelin mit einem leisen Lächeln auf den Lippen. Nachdem er so die Neugierde des Kleinen gestillt hatte, frühstückten sie zusammen, wobei Physales das Fleisch dankend ablehnte und sich dafür reichlich bei den Beeren bediente. Als sie geendet hatten, begann er damit, seine Sachen wieder zu einem Bündel zu schnüren, so dass er sie bequem auf dem Rücken tragen konnte. Der Erdgeist flog währenddessen durch die Kronen der dicken Bäume hindurch, um sich, wie er sagte "noch einmal zu vergewissern ob sie überhaupt in die richtige Richtung gingen". Sofort, als Yelin mit Packen fertig war und die Spuren seines Besuches so gut wie möglich wieder verwischt hatte, sauste er auch schon wieder von den Wipfeln herab und verkündete stolz, dass er ganz genau wusste, wohin sie zu gehen hatten. Und als wollte er die Behauptung seiner Worte auch gleich unterstreichen, machte er sich sofort daran, voraus zu fliegen. Dies jedoch mit einem solchen Elan, dass Yelin ihn fast sofort wieder zurückrufen musste, weil er nicht mehr mit kam. So verbrachte Physales den Rest des Weges entweder langsam vor ihm herflatternd oder aber auf seiner Schulter sitzend und vergnügt mit den Beinen baumelte, wobei er sehr viel von sich und dem Alten Wald erzählte und fast ebenso viel von dem Volk der Menschen und der "Gegend außerhalb" wie er es nannte, hören wollte. Im Laufe dieser Gespräche erfuhr Yelin sehr viel über die magische Welt dieses uralten, geheimnisvollen Gebietes. Physales begann bei der Geschichte seiner Artgenossen. Jeder einzelnen Pflanze war ein eigener Geist zugeordnet; bei den Blumen seien es die Feen, bei den Bäumen die Dryaden und bei den anderen Gehölzen eben die Gúdo, wie er einer war. Dabei gab es nicht pro Pflanze einen Geist wie bei den Dryaden sondern es waren pro Art immer mehrere, die sich um verschiedene von ihnen zu sorgen hatten. Dann schweifte er weiter aus und erzählte ihm von den anderen Naturgeistern: Die Sylphiden, die die Geister der Luft waren und die Freiheit liebten, die Nymphen, in deren Bereich das Wasser fiel und für das Feuer kleine Elfen, die sich jedoch so gut wie nie blicken ließen. Dann gab es noch jede Menge anderer magischer Wesen, die in diesem Wald hausten und von denen es sich Yelin nie hätte träumen lassen, dass es sie überhaupt noch gäbe. Von anderen hörte er sogar das erste Mal. Doch das bei weitem Interessanteste war das, was Physales ihm über den König des Waldes erzählen konnte. Es gab ihn anscheinend wirklich, den großen und majestätischen, so viel konnte er ihm sagen. Doch selbst er hatte noch nie alles von ihm gesehen; seine Gegenwart überstrahlte angeblich alles andere, so dass selbst die stärksten Fabelwesen Schutz suchten sobald er in die Nähe kam. Das einzige, was er je von ihm erblickte hatte, waren seine Hufe, die tatsächlich aus Silber waren. Doch auch umgelehrt wurde es der Gúdo nie müde, ihn nach den Geheimnissen des Menschenvolkes auszufragen, was teilweise schon groteske Züge annehmen konnte. Wenn er beispielsweise wissen wollte, warum man ihnen das Alter an der Gestalt ablesen konnte, so war es an Yelin, erstaunt den Kopf zu schütteln. Über so etwas hatte er sich bis jetzt kaum Gedanken gemacht; er hatte es eben so hingenommen, wie es war. Erst dadurch wurde ihm bewusst, wie klein die Welt, in der er damals gelebt hatte, doch gewesen war. Drei Tage wanderten sie so durch den Wald und noch immer schien die Masse der Pflanzen sich nicht zu lichten. Allmählich begann sich Yelin besorgt zu fragen, ob sie überhaupt in die richtige Richtung gingen. Doch jedes Mal, wenn er etwas Entsprechendes andeutete, winkte Physales beruhigend ab und flog wie zur Bestätigung noch einmal empor, um gleich darauf zu verkünden, dass er den Rand schon sehen könne. An welcher Stelle genau sie jedoch heraus kommen würden, das konnte er ihm verständlicherweise nicht verraten. Am Morgen des vierten Tages verlief wieder alles so wie immer: Es begann damit, dass Yelin wieder einmal früher wach war als der kleine Geist und dieses Mal aber zu seinem Leidwesen feststellen musste, dass sie keinerlei Fleisch mehr hatten - die letzten Rest des erlegten Rehs hatte er gestern zum Abendessen verspeist. Seufzend griff er in den Beutel, in der er seine pflanzlichen Nahrungsmittel aufbewahrte und förderte ein paar Beeren so wie ganz schmackhafte Wurzeln zu Tage. Sie würden mit Sicherheit für diese Mahlzeit ausreichen, aber er schätzte, dass er wohl noch vor der Mittagszeit Jagen gehen musste. Schulterzuckend legte er den Beutel auf seine Decken und ging zu der Quelle, die fröhlich neben ihrem Schlafplatz sprudelte. Dort wusch er sich erst einmal ausgiebig das Gesicht und begutachtete sich dann so gut es ging in dem strömenden Wasser des Baches, der hier entsprang. Früher war er einmal das gewesen, was man als einen "hübschen Burschen" bezeichnet hatte, mit nussbraunem Haar, das ein wenig in dunkelblond überging, funkelnden waldgrünen Augen, vollen Lippen und einer relativ schmalen Nase. Sein Körper war so gut gebaut wie bei jedem, der sich jeden Tag mehrere Stunden mit dem Schwertkampf beschäftigte und viel Wert darauf legte, die Wunder der Natur zu erfahren. Er selbst hatte es nie gemocht, wenn man ihn so bezeichnete und es war ihm zuwider gewesen, wenn kichernde Mädchen mehr oder weniger plump versuchten, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Doch seit jedem schicksalsverhangenen Tag war er nicht nur innerlich rasch gealtert. Auch äußerlich war er härter geworden, asketischer. Seine Lippen waren nun schmaler, die Wangen ein klein wenig eingefallen und die Haare hatten ein bisschen von jenem Glanz verloren und waren dunkler geworden, genau so wie sein Herz. Mit Bartwuchs hatte er seltsamerweise nie zu kämpfen gehabt, was aber (wie gehört hatte) eine Eigenschaft der Sanuki war. Dennoch wirkte er nun reifer, erwachsener und lange nicht mehr wie der gutaussehende junge Prinz, dessen Klischee er vor langer Zeit einmal erfüllt hatte. Gedankenverloren erhob er sich wieder und ging langsam zu seinem Schlafplatz zurück. Und wie immer schien Physales durch seinen Weggang erwacht zu sein. Auch wenn er noch so leise war, er brachte es einfach nicht fertig, den kleinen Erdgeist nicht aufzuwecken. Dieser war gerade eben dabei, genüsslich Teile seines Frühstücks zu verspeisen, wobei er mit vollen Backen kaute. Es hätte nur noch ein genüssliches Schmatzen gefehlt und das Bild wäre perfekt gewesen........zum Glück war er so mit Essen beschäftigt, dass er Yelins Gedanken ausnahmsweise einmal nicht zu lesen schien. Aber die Gelegenheiten, bei denen er von seiner Fähigkeit Gebrauch machte (zumindest so, dass Yelin es bemerkte) wurden auch von Tag zu Tag geringer, wofür er ihm sehr dankbar war. Ihm war einfach nicht ganz wohl bei dem Gedanken, dass jemand alles wusste, was er dachte... Der Gúdo sah nicht einmal auf, als er sich neben ihm niederließ und ebenfalls nach dem griff, was ihn der Hungrige übrig gelassen hatte. In einhelligem Schweigen beendeten sie ihr kärgliches Mahl und bereiteten sich auf die Weiterreise vor. Dabei versuchte Yelin, Physales von der Notwendigkeit zu überzeugen, Jagen zu gehen. Der Kleine verstand einfach nicht, warum er so gerne Fleisch aß; er konnte dem nicht das Geringste abgewinnen, die Überreste toter Artgenossen zu verspeisen. Vergeblich erklärte Yelin ihm , dass Fleisch nun mal sehr gut schmeckte und er es brauchte, um zu überleben. Erst, als er sagte, dass Menschen im Prinzip genau das Gleiche wie Raubtiere seien, ließ ihn der Erdgeist gehen. Dies allerdings nicht, ohne ihm zuvor das Versprechen abzunehmen, seine Beute wirklich schnell zu töten und ja nicht leiden zu lassen. Mit einem kleinen Lächeln versicherte Yelin ihm, genau das zu tun. Dann merkte er sich (so gut es eben ging) die Stelle, an der er den Gúdo zurück ließ und machte sich auf den Weg, um die Forderungen seines Körpers zu befriedigen. Er war noch nicht sehr weit gekommen, als er die Fährte eines Tieres ausmachte, ohne Zweifel ein Hase, der in eine bestimmte Richtung gelaufen war. Der Spur folgend gelangte er vor die Löcher eines Baus, in deren Nähe er sich geduldig nieder ließ und wartete. Nach einer Weile kamen ein paar der Nager zum Vorschein und als sie nahe genug heran waren, hatte Yelin sich blitzschnell einen gepackt und ihm das Genick gebrochen. Für den Moment würde das ausreichen und deshalb machte er sich auch bald wieder auf den Rückweg. Ausweiden konnte er das Tier immer noch heute Abend oder mittags, wenn sie rasteten. Er drehte sich um und ging wieder in die Richtung, in der er Physales vermutete. Nach ein paar Minuten gelangte er auch wieder bei der Stelle an, an der er den Kleinen verlassen hatte - doch er war nicht mehr da. Dabei war erkannte er diesen Ort eindeutig wieder! Stirnrunzelnd sah sich Yelin noch einmal um, ob er ihm vielleicht einen Streich spielen wollte und sich deshalb versteckte. Aber er konnte keine Spur von ihm entdecken. Auch der sanfte grüne Schimmer, der seit Yonami über seinem Blick lag und sich immer dann verdichtet hatte, wenn Physales bei ihm gewesen war, war überall gleich. Sein Stirnrunzeln vertiefte sich noch weiter, als er ein paar Schritte machte und noch immer nichts bemerkte. Es sah dem kleinen Gúdo ganz und gar nicht ähnlich, sich einfach so davon zu stehlen, während er nicht da war. Doch irgendein unbestimmtes Gefühl zog ihn fort, als wartete dort die Antwort darauf, wohin er verschwunden war. Langsam und zögernd ging er los, noch immer wachsam. Die eine Hand hatte er auf den Griff von Norai gelegt, die andere hielt immer noch das erlegte Tier an den Hinterläufen. Angespannt wie eine Feder ging er weiter, immer bereit, sofort seine Waffe zu ziehen, wenn sich auch nur ein einzelnes Anzeichen einer Gefahr zeigen sollte. Schon nach ein paar Schritten sah er aus den Augenwinkeln, dass sich das Flimmern zwischen den Bäumen verdichtete und nur kurze Zeit später kam Physales selbst in sein Blickfeld. Kaum sah dieser ihn, kam er auch schon aufgeregt heran geflattert. Mit einem beinahe ungewollten Gefühl der Erleichterung registrierte er, dass er offenbar wohlauf war. Doch die Aufregung in seinem Gedicht sprach Bände. "Sieh nur," flüsterte er leise, "da drüben, um Ufer des Sees! Da sitzt jemand von deiner Art...." "Von meiner Art?" fragte Yelin erstaunt. Er hatte noch nie davon gehört, dass Menschen freiwillig in den Alten Wald gingen; und die Abenteurer zog es meist an noch verwunschenere und gefährlichere Orte als diesen. Außerdem war dieses seltsame Gefühl mit Physales' Auftauchen nicht verschwunden.....er kannte denjenigen, der dort saß, so viel war er sicher. Und es erinnerte ihn an etwas, an etwas, das er glaubte, schon längst vergessen zu haben....diese Person, sie war..... Nein, das kann nicht sein! schalt er sich in Gedanken. Er ist tot, wenn er Glück hatte oder sie haben ihm noch Schlimmeres angetan als dies. Hör endlich auf, dich sinnlosen Hirngespinsten hinzugeben! Tief durchatmend schob er ein paar Zweige zur Seite und sah nun endlich die Gestalt, die am Ufer eines kleinen Sees hockte und auf die spiegelnde Oberfläche hinab starrte. Er glaubte, ja er betete von ganzem Herzen, dass seine Erinnerung und seine Augen ihm einen Streich spielten, doch etwas tief in seinem Herzen sagte ihm, dass dem nicht so war. Er erkannte ihn, er hatte es im Grunde genommen schon von jenem Moment an gespürt, als er Physales nicht mehr an seinem Platz gefunden hatte. Und spätestens, als er den schwarzen, ebenmäßigen Bogen neben ihm liegen sah, da wusste er es. Der junge Mann musste ihn längst schon bemerkt haben, wenn er wirklich der war, von dem Yelin glaubte, dass er es war. Doch erst jetzt drehte er sich langsam um, als könne auch er es nicht wahrhaben, was er dort sah. Und obwohl er im Inneren fast darauf vorbereitet gewesen war, was er nun sah, so fühlte er sich doch, als würde ihm das Herz stocken. Das Tier und seine Waffe entfielen seinen starren Händen. Er hatte diesen Moment herbei gesehnt, Jahr um Jahr seit er ihn verloren geglaubt hatte. Derjenige, der dort am Ufer gesessen hatte und ihm eben sein wohlbekanntes Gesicht zuwandte war niemand anderes als Korell, der Freund, den er so lange und schmerzlich vermisst hatte. Kapitel 4: Wiedersehen ---------------------- Yelin konnte noch immer kaum atmen und starrte fassungslos auf dieses Gesicht, auf dieses ebenmäßiges Gesicht, dessen Aussehen er vielleicht besser kannte als kein anderer auf dieser Welt. Und im selben Moment, als er ihm in die dunklen, traurigen Augen sah, brach auch die Erinnerung wieder mit voller Wucht über ihn herein, so dass er sie nicht mehr aufzuhalten vermochte. Er wusste noch genau, dass es ein Tag im Sommer gewesen war, warm aber mit drohend aufgetürmten Wolken am Horizont. Er sah wieder die gewaltige Ebene, fast schwarz von den Elbenkriegern, denen sich ihr Heer entgegen stellte. Er hörte sie wieder, diese grausamen Geräusche, die er zu verdrängen versucht hatte: das Klirren von aufeinander prallenden Schwertern, das dumpfe Geräusch wenn sie auf Fleisch anstatt auf Eisen und Leder trafen. Und am schlimmsten von allem: das schreckliche Schreien der Verwundeten, der Sterbenden, die unter den unbarmherzigen Füßen und Hufen ihrer Kameraden zermahlen wurden. Dazu der Gestank: der grausige Geruch nach menschlichen Ausdünstungen, nach Tod und über alledem der allgegenwärtige, metallische Geschmack roten Blutes, von dem jeder einzelne vergossene Tropfen einer zuviel war. Sie hatten lange gekämpft, so lange, dass er sich kaum mehr an Einzelheiten erinnern konnte. Irgendwann ging alles in Monotonie über; seine Sinne wurden abgestumpft, die Bewegung immer automatischer. Er hatte Norai mit einer solchen Brutalität und Kompromisslosigkeit um sich geschwungen, dass er sich noch heute dafür hasste. Neben ihm war Korell mit der selben Gewalt, derselben vernichtenden Wut vorgegangen, immer an seiner Seite, der letzte Felsen in dieser Brandung aus Leibern. Doch dann war er gekommen. Er hatte eine schwarze Rüstung getragen, die alles Licht zu schlucken schien, doch sein Haar war von dem harten Weiß eines Schneesturms gewesen. Leichtfüßig und zu schnell, als dass das menschliche Auge ihm folgen konnte, hatte seine Klinge mit jedem Schlag neue Opfer gefunden. Wie ein gestaltgewordener Albtraum hatte er sich durch die Menge gekämpft, immer umgeben von einer Aura eiskalter Bösartigkeit, die alles andere zu verschlingen drohte. Man sah ihm nicht an, was er dachte, man sah ihm nicht an, was er fühlte. Nicht einmal seine kalten, stahlblauen Augen verrieten, was in ihm vorging. Doch eines war sicher gewesen: er hatte sich seinen Weg nicht ohne Absicht zu ihnen durchgekämpft. Sie waren schon von Anfang an sein Ziel gewesen. Dies hatt er in jenem Moment gemerkt, in dem er sich von Angesicht zu Angesicht dem schwarz Gekleideten gegenüber sah. An die nächsten Sekunden erinnerte er sich nur noch schemenhaft, doch die wenigen Fetzen waren von erschreckender Klarheit. Er sah wieder die geschliffene Klinge auf sich zusausen, war unfähig, ihr auszuweichen. Er hörte wieder jenen Schrei, diesen Schrei, so von Trauer und Angst durchdrungen, dass er ihm noch heute schmerzte. Und dann sah er wieder jenes Bild, das sich für immer in seine Netzhaut eingebrannt hatte und ihm auch jetzt noch den Schlaf raubte: Korell warf sich mit aller Gewalt vor ihn, drängte ihn so zur Seite und rettete ihn damit aus der Reichweite der scharfen Waffe. Yelin wusste nicht mehr, was danach passiert war. Das einzige, woran er sich noch einigermaßen sicher erinnern konnte, war seine Flucht, mitten hindurch durch die Reihen seiner Soldaten, immer weiter weg von dem Schauplatz des Schreckens. Dann die grausame Gewissheit, dass er soeben seinen einzigen und besten Freund verloren hatte und das noch bei weitem schlimmere Wissen, dass es durch seine Schuld geschehen war. In jenem Moment damals war etwas in ihm zerbrochen, etwas Großes und Schweres, dessen Scherben sein Herz nur noch mehr bluten ließen. Es war leer geworden und die Trauer hatte sich still aber unbarmherzig in seine Seele gefressen, bis er es schließlich nicht mehr ausgehalten hatte. Doch auf der Flucht vor seinen Dämonen war ihm nur wieder sein Schicksal begegnet in der Gestalt eines Drachens, des letzten Drachens dieser Erde, dessen Mord er ebenfalls auf dem Gewissen hatte. Langsam lichtete sich die Flut von Bildern und Gefühlen vor seinem Inneren Augen und ließ ihn fassungslos und wie erstarrt zurück. In den ersten Momenten, nach dem er sein Gesicht gesehen hatte, so unendlich vertraut, fühlte er nichts außer vielleicht grenzenlosem, kindlichen Erstaunen. Es war wie eine zweite Chance, vom Schicksal gegeben, die Chance, seinem Freund alles zu sagen, was immer zwischen ihnen gewesen war und doch nie ausgesprochen wurde. Wie Leid es ihm tat. Wie wund er sich fühlte. Wie einsam er ohne ihn war. Sprachlos erhob er sich und ging wie hypnotisiert auf den Knieenden zu. Seine Augen füllten sich mit Tränen, als er jene unendliche Vertrautheit erkannte, die noch immer in allen an ihm lag. Das dunkelbraune Haar, die meergrauen Augen; die schmalen Lippen und die Nase, die ein wenig an einen Adler erinnerte. Wie sehr hatte er dieses Gesicht vermisst, hatte Tag und Nacht darum gebetet, es nur ein einziges Mal wiedersehen zu dürfen. Doch nun, wo sein sehnlichster Wunsch erfüllt worden war, brachte er kein Wort heraus; er konnte seinen Kopf an seine Brust drücken, das weiche Haar streicheln und leise weinen. Mehr nicht. Und doch war dies einer der schönsten, intensivsten Momente in seinem ganzen Leben. Erst zögerlich, dann immer schneller und schneller ließ sich Korell an ihn sinken, mit geschlossenen Augen unverständliche Worte flüsternd. Keiner von ihnen sprach, keiner von ihnen hatte je damit berechnet, dass sie sich einmal wieder begegnen könnten. Doch es tat unendlich gut, die Nähe des anderen zu fühlen und die Gewissheit, nie mehr alleine zu sein, während ihnen die salzigen Tropfen über die Wangen rannen. Sehr lange standen sie beide so da, eng umschlungen und wieder vereint nach so vielen, so unendlich langen Jahren. Kaum konnten sie sich voneinander lösen, doch es war Korell, der als erstes zurücktrat. "Yelin...." flüsterte er leise, mit einer Stimme, so gebrochen und tief, dass es ihm ins Herz schnitt. Zitternd und langsam hob er eine Hand und legte sie auf seine Wange, als könne er noch immer nicht glauben, was er sah. Dann strichen seine Finger über sein Gesicht, seine Lippen erbebten und wieder flossen ihm Tränen aus den Augen. Yelin schüttelte nur leicht den Kopf und legte ihm den Finger auf die Lippen. Dieser Augenblick, so erkannte er, war viel zu schön, um ihn mit Worten zu entweihen - er gehörte nur ihnen alleine. Nach einer unendlich scheinenden Zeitspanne schaffte es Yelin endlich, seinen Blick von seinem Freund zu lösen. Er ging ein paar Schritte zurück und bückte sich nur kurz, um seine Sachen aufzuheben, die er vorhin fallen gelassen hatte. Danach drehte er auch sofort wieder um, als hätte er noch immer Angst, dass all das nur ein weiteres Trugbild seiner Fantasie war, dass Korell ebenso schnell wieder verschwunden wie er zuvor in seinem leben aufgetaucht war. Doch er stand noch immer so da, genau so, wie er ihn verlassen hatte, die Augen erfüllt von einer verzweifelten Hoffnung, wieder ein wenig menschliche Nähe genießen zu können. Gemeinsam und noch immer ohne auch nur ein Wort zu sprechen, gingen sie zu den Bäumen, die das Ufer des kleinen Sees säumten. Dort setzen sie sich nebeneinander nieder, auf die blauen Fluten des Gewässers starrend. Yelin spürte, dass Korell jetzt noch nicht davon reden würde, was ihm widerfahren war. Er wusste, dass er ihm Zeit lassen musste, die Zeit, wieder all das Vertrauen aufzubauen, das einmal zwischen ihnen gewesen waren. Dass er sich ihm noch nicht ganz öffnete, dass spürte er und es machte ihn ein wenig traurig. Aber sieben Jahre waren eine lange Zeit, auch für eine Freundschaft wie die ihre. Sanft legte er eine Hand auf Korells Arm und sah ihm in die Augen. Was er dort las, erschreckte ihn; der Schmerz, der in ihnen lag ging weit tiefer als alles andere, was er zuvor gesehen hatte. Sie schimmerten sanft und zeugten von einer Geschichte, deren tiefe Wahrheit er vielleicht nicht ertragen konnte. Hoffnungslosigkeit, Trauer und der verzweifelte Wunsch, noch an irgendetwas glauben zu können, erfüllten sie und gaben ihnen eine Tiefe, die vorher so nicht vorhanden gewesen war. Genau wie er selbst, so war auch sein Gefährte härter geworden, verschlossener, doch dies durch Ereignisse, die sich weit von den seinen unterschieden. Beide waren sie während dieser sieben Jahre zu anderen Personen geworden. Doch Yelin hoffte, dass sie das Schicksal nicht umsonst wieder zusammen geführt hatte....er würde es nicht ertragen, ihn noch einmal zu verlieren. Genau in diesem Moment fiel ihm wieder ein Satz der Yonami ein: Verloren geglaubtes wirst du finden... ja, er hatte es wieder gefunden. Seinen größten Schatz, das was er schon immer am meisten geliebt hatte. Ganz sacht machte sich am Rande seines Gesichtsfeldes eine kleine Existenz bemerkbar. Physales hatte sich bis jetzt die ganze Zeit im Hintergrund gehalten, denn er hatte instinktiv verstanden, was zwischen den beiden vor sich ging. Und der Blick in ihre Gedanken sagte ihm ebenfalls mehr als genug.....Zögernd flatterte er heran und ließ sich auf den Knien von Yelin wieder. Auch er sprach nichts, ebenso wenig wie Korell der sich umblickte und ihn sah. Er verzog die Mundwinkel ein wenig und nickte dem kleinen Kerl zu, dann ließ er sich nach hinten auf das sanfte Gras des Seeufers sinken und schloss wieder die Augen. Der kleine Gúdo sah recht besorgt aus, als er an Yelins Ohren flog und ihn leise flüsternd fragte: "Warum spricht er nicht, Yelin?" Mit einem leisen, traurigen Lächeln flüsterte dieser zurück: "Gib ihm Zeit, Physales. Du weißt wahrscheinlich sogar besser als ich, was er alles durchgemacht hat; es braucht meist sehr, sehr lange, bis solche inneren Wunden heilen können. Das, was erlebt hat, ist noch immer zu schrecklich und zu nahe für ihn, um darüber zu reden, glaube ich. Wir können nur hoffen, dass er sich mir eines Tages anvertrauen wird..." "Du hast ihn sehr gerne, nicht wahr?" meinte Physales und senkte leicht den Kopf. "Oh ja, ich liebe ihn von ganzem Herzen. Jeden Tag, seit ich ihn verloren habe, habe ich ihn mehr vermisst....." "Ich hätte auch gerne so einen Freund" murmelte der Kleine, aber das so leise, das Yelin ihn nicht verstand. Dann flog er auf den Ast des nächsten Baumes und nutzte die unerwartete Pause, um ebenfalls ein kleines Nickerchen zu halten. Yelin machte sich indessen daran, den erbeuteten Hasen von vorhin zu häuten und auszunehmen. Damit war er bis in den frühen Nachmittag hinein beschäftigt. Zum späten Mittagessen begannen die beiden endlich, ein wenig miteinander zu reden. Es waren nur vage, oberflächliche Gespräche, die sich vor allem um Physales drehten. Dieser erzählte Korell breitwillig noch einmal dasselbe, was er auch Yelin gesagt hatte. Sein Freund schien den kleinen Kerl ebenfalls nicht allzu unsympathisch zu finden. Yelin selbst beobachtete die beiden, ein leichtes Lächeln auf den Lippen und sah, wie sein Freund sich wenigstens ein bisschen zu öffnen schien. Wieder war er dem Gúdo dankbar, dieses Mal dafür, dass er sich mit seiner Fähigkeit, die Gedanken anderer zu lesen, zurückhielt und Korell dazu brachte, mit ihnen zu reden. Er nutzte diese Gelegenheit noch einmal, um seinen früheren Gefährten genauer zu betrachten. Schon damals war er ein recht dünner Mensch gewesen, woran auch seine Muskeln, die im Laufe der Zeit immer stärker geworden waren, nicht viel hatten ändern können. Doch jetzt war er geradezu abgemagert und auch sein schmales Gesicht machte eher den Eindruck eines Asketen als eines jungen, mitten im Leben stehenden Mannes. Sein Haar war noch genau so dicht wie eh und je, bloß dass es jetzt eindeutig ein wenig verschmutzter und vor allem länger aussah. Dieser Eindruck wurde noch durch die oft geflickte und abgetragene Kleidung verstärkt, die er am Leib trug. Außerdem wurde ihm mit einem mal bewusst, dass das Flimmern, dass er nun schon fast unbewusst wahrnahm, sich um seinen Gefährten ein wenig verdichtete. Es war genau so wie bei Physales, bloß nicht in diesem großen Ausmaß. Erst jetzt fiel ihm auch auf, dass er seine beiden Hände bedeckt hielt mit zwei langen Ärmeln, deren Ende er jeweils mit einem dünnen Ring um seine Finger geschlungen hatte. Fast unbewusst sah Yelin auf seine rechte Hand hinab, die er mit einem dünnen Stoffstreifen umwickelt hatte, so dass man die Narbe nicht sehen konnte. Er wollte nicht, dass man sie auf den ersten Blick erkannte und ihn sofort darauf ansprach. Korell bemerkte natürlich, dass Yelin ihn beobachtete; er sah auf und ihre Blicke trafen sich. Er lächelte sanft und bemerkte erleichtert, dass sein Freund dieses Lächeln anzunehmen schien und es sogar ein klein wenig erwiderte. Dem kleinen Gúdo war dies natürlich nicht entgangen und er versuchte mit immer größerem Eifer, seinen Freund von den düsteren Gedanken abzubringen, die ihn wie eine schwarze Wolke zu umgeben schien. Nachdem er den beiden noch ein wenig zugehört hatte, kam Yelin unbewusst eine Frage in den Sinn, die er den beiden auch sogleich stellte: "Korell, Physales.....was wisst ihr über die Enuya?" Seit Korell wieder da war, war ihm die Prophezeiung nicht aus dem Kopf gegangen. Und jetzt, wo sich ein Teil von ihr tatsächlich bewahrheitet hatte, zweifelte er auch kaum mehr an dem Rest der Aussage. "Die Enuya?" Korell runzelte die Stirn. "Nicht mehr als du, denke ich. Nur alte Legenden und Geschichten, nichts Greifbares. Manche nennen sie die "alten Weisen" und angeblich sind sie so etwas wie alte Götter. Keiner weiß, wo sie leben, doch es wird erzählt, sie seien sehr mächtig." Das war ungefähr auch das, was Yelin über sie wusste - also nicht gerade viel. "Und du, Physales?" richtete er sich an den kleinen Erdgeist, der bisher nur stumm zugehört hatte, was sonst gar nicht seine Art war. "Ich weiß nicht....." antwortete dieser zögernd. "Aber als Korell die "alten Weisen" erwähnt hat, da ist mit irgendwie etwas eingefallen. Bei uns heißt es, dass sie die einzigen außer Yonami sind, die schon seit Anbeginn dieser Welt existieren. Angeblich sind sie unsterblich und eine Art....Herren über diese Welt, die ihre Geschicke aus der Distanz beobachten und dafür sorgen, dass alles seinen gewohnten Gang geht....Einige bei uns sagen, dass die Sanuki diejenigen sind, die etwas von ihrem Geist geerbt haben sollen, so etwas wie ihre geistlichen Nachfahren. Obwohl sie alle nicht sterben können, sehen sie doch unterschiedlich aus. Es gibt alte und junge unter ihnen, Männer und Frauen. Und alle tausend Jahre wird ein neuer von ihnen geboren. Ihr Heim ist angeblich ganz aus schwarzem Marmor erbaut und überall blühen rote Blumen wie Blutstropfen. Dort ist eine immerwährende, alles umfassende Stille, die nur durch ihre leisen Stimmen und durch die Vögel, die bei ihnen zu Gast sind, durchbrochen wird. Alle geflügelten Wesen sind ihre Boten, es wird sogar gesagt, dass sie damals Drachen hatten, die für sie durch die Länder dieser Welt flogen. " Keinem von ihnen beiden entging Yelin's Zusammenzucken bei der Erwähnung des Wortes "Drachen". Mörder....hallte es in seinem Kopf. Mörder des letzten Drachen dieser Welt! Nur mit Mühe konnte er sich beherrschen, nicht einfach loszuschreien. Er wollte diese Stimme nicht mehr hören! Was konnte er nur tun, um dieses unglaubliche Verbrechen zu sühnen und aus seinem Gewissen zu tilgen.....er musste die Enuya finden. Blut wird durch Blut gesühnt....wieder kamen ihm die Worte der Prophezeiung in den Sinn. So geh und finde / Den Schrein der uralten Macht / Der bei den Enuya ruht. "Weißt auch noch irgendetwas über einen Schrein in ihrem Heiligtum?" fragte er und bemühte sich, nicht allzu aufgeregt zu klingen. Korell sah ihn nachdenklich an, als ahne er bereits mehr, als Yelin ihm erzählt hatte. "Nein." Der Kleine schüttelte den Kopf. "Das, was ich euch eben gesagt habe, ist auch gleichzeitig alles gewesen, was ich über sie weiß. Tut mir Leid, Yelin, aber ich kann dir wirklich nicht mehr sagen." "Schon gut." meinte dieser mit einem kleinen Lächeln. "Du hast mir trotzdem schon ein wenig geholfen, vielen Dank." "Warum willst du denn so dringend etwas über die Enuya wissen?" fragte Korell endlich und blickte ihn interessiert an. "Ich...." Yelin wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Eigentlich sollte er seinem Gefährten mühelos alles erzählen können, was ihm in der Zwischenzeit widerfahren war, aber irgendetwas hielt ihn davon ab, ihm dies anzuvertrauen. Korell schien zu spüren, wie nahe ihm dieses Thema immer noch ging und drang nicht weiter in ihn. Doch der ehemalige Prinz wusste genau, dass er ihn verletzt hatte. Er sah es in seinen Augen, so war es schon immer gewesen. Um sich selbst und auch seine Reisegefährten von diesem Thema ablenken, schlug er eine andere Gesprächsrichtung ein. "Weißt du genau, wie weit es noch von hier aus bis zum Rande des Alten Waldes ist?" wandte er sich an Physales. "Na ja...." dieser wiegte den kleinen Kopf hin und her, als er nachdachte. "Für mich wäre das ungefähr ein dreiviertel Tag Flugzeit. Das bedeutet, dass wir spätestens morgen Abend dort sein dürften, wenn wir früh aufbrechen." Mit einem Nicken nahm Yelin dies zur Kenntnis. Er hatte diese alten, dicken Stämme zwar lieb gewonnen, doch plötzlich sehnte er sich danach, wieder einmal freies Land zu sehen und einen direkten Blick auf die Sonne zu haben, wie sie ihre Bahn am Himmel zog. Korell schien es ganz ähnlich zu gehen, denn er bemerkte, wie er ihm einen erleichterten Blick zuwarf. "Und wohin willst du dann gehen?" fragte die kleine Stimme des Erdgeistes. "Ich weiß es nicht," antwortete Yelin ehrlich. "Aber ich denke mal, dass wir uns das erst überlegen werden, wenn wir an seinem Rand stehen. Jetzt ist es noch zu früh, das zu sagen, denn ich habe leider keine Ahnung, wo wir sein werden, wenn wir ihn verlassen...." Mit dieser vagen Aussage war auch der Abend über sie herein gebrochen. Die Gespräche zwischen ihnen hatten den ganzen Nachmittag überdauert, so dass sie beschlossen, hier am Ufer des Sees zu übernachten und, ganz wie es der Gúdo gesagt hatte, am frühen Morgen ihre Reise anzutreten. Die Nacht war unruhig, Yelin konnte kaum Schlaf finden. Korell, der neben ihm lag, schlief zwar, doch es schien kein sehr erholsamer Schlaf zu sein. Er wälzte sich hin und her und manchmal wurde er durch ein Schluchzen oder einen kleinen Schrei aus dem Dämmerzustand gerissen. Mehr denn je wünschte Yelin sich, den Schmerz mit ihm teilen zu können, der sich so tief in sein Herz fraß. Doch jetzt konnte er nichts tun, als neben ihm liegen und hoffen, dass er sich ihm eines Tages anvertrauen würde. Am Morgen hatten sie beide Ringe unter den Augen und waren in keiner besonders guten Stimmung. Yelin erwähnte kein Wort von dem, was er in der Nacht beobachtet und belauscht hatte und auch Korell sagte nichts. Selbst Physales sah merkwürdig bedrückt aus und anstatt wie sonst immer ununterbrochen zu reden, blieb er ebenfalls still. In demselben Schwiegen verzehrten sie ihr Frühstück, packten dann schnell ihre Sachen zusammen und machten sich auf den Weg. Yelin mit Norai im Gürtel und Korell mit seinem kostbaren Bogen in der Hand. Noch immer sprachen sie kein Wort, so dass Yelin in Ruhe seinen Gedanken nachhängen konnte. Zwei Dinge erschienen ihm sehr seltsam. Es fiel ihm erst im Nachhinein wirklich auf, aber hatte noch immer keinen Blick auf Korell's Handrücken werfen können. Er hatte selbst in der Nacht seine vorgezogenen Ärmel anbehalten und somit vermieden, dass er irgendetwas sah. Auch am Morgen hatte er sich so angezogen, dass Yelin nichts von seiner Haut auf dem Rücken oder an den Beinen hatte sehen können. Dies erschien ihm ungewöhnlich, denn früher hatte sein Freund damit keinerlei Probleme gehabt. Dazu kannten sie sich zu gut. Und dann sein Bogen: Er konnte sich noch sehr gut an die Tage nach der Schlacht erinnern, in denen er den Ort des Geschehens immer wieder verzweifelt durchsucht hatte. Damals war ihm diese schreckliche Ungewissheit, was passiert war, beinahe noch schlimmer vorgekommen, als wenn er seine Leiche gefunden hätte. Doch nicht einmal sein Bogen war ihm in die Hände gefallen. Und jetzt...jetzt sah er ihn wieder, wie Korell ihn trug. Das ließ nur einen Schluss zu: Die Elben musste ihn mitgenommen haben. Und irgendwie hatte er es tatsächlich geschafft, ihnen zu entkommen und dabei noch seine Waffe mitzunehmen......Dies erschien ihm komisch. Die Elben waren nicht gerade für ihr Mitgefühl bekannt, wenn es um Gefangene ging. Genauer gesagt, hatte man noch niemals jemanden lebendig wiedergesehen, der in ihre Hände gefallen war..... Yelin zwang sich fast gewaltsam, nicht mehr darüber nachzudenken. Er durfte nicht zulassen, dass die sieben Jahre, die sie nicht gesehen hatten, einen solchen Keil des Misstrauens zwischen sie trieben. Er konnte und er wollte es nicht. Das, was sie beide damals verbunden hatte, war unendlich stark gewesen, stärker als alles andere, was er je verspürt hatte. "Aber das ist jetzt nicht mehr so..."dachte er leise und traurig. Er merkte es immer deutlicher: da war etwas, was sie unbarmherzig voneinander trennte, eine unsichtbare Wand, die verhinderte, dass ihre Beziehung wieder zu dem wurde, was sie einst gewesen war. Das, was sie alles erlebt hatten, hatte Narben auf ihrer Seele hinterlassen, die zu tief waren, als dass die Zeit sie hätte heilen können. Sowohl er als auch Korell waren während dieser langen, getrennten Spanne zu anderen Menschen geworden, das musste er nun schmerzhaft erkennen. Und er wusste auch, dass ihre Freundschaft sich selbst zerstören würde, gelänge es ihnen nicht, sich endlich wieder so tief und innig zu vertrauen wie zuvor. Doch vielleicht war auch alles, was sie brauchten, ein wenig Zeit.... Solche Empfindungen wälzte er in seiner Seele auf und ab, bis es Nachmittag wurde und schließlich wieder auf den Abend zuging. Das aufgeregte Hüpfen von Physales auf seiner Schulter riss ihn schließlich aus den düsteren Gedanken. Der kleine Gúdo deutete aufgeregt mit seinen dünnen, spitzen Fingern nach vorne und sprang auf und ab, hektisch mit seinen Flügeln schlagend. "Seht nur!" rief er aufgeregt. "Was ist denn?" fragte Yelin mit einem leichten Stirnrunzeln. Er konnte beim besten Willen nichts erkennen. Doch dann fiel es ihm auf: Die Bäume lichteten sich! Erst langsam, dann unmerklich wurden sie immer weniger und weniger, bis er endlich sogar die ferne Kontur eine Hügelkette durch die Stämme hindurch erkennen konnte und die hellen Strahlen der Abendsonne, welche die Grasebene vor dem Wald erleuchteten. Trotzdem brauchten sie noch ein wenig mehr als eine halbe Stunde, um den Waldrand endgültig zu erreichen. Doch endlich lagen keine Blätter mehr unter ihren Füßen, das Moos zog sich zurück und selbst das seltsame Flimmern vor Yelins Augen erlosch fast augenblicklich, als sie auf das trockene Gras hinaus traten. Mit einem tiefen Seufzer genoss er das Panorama vor ihm, das nun nicht mehr durch die großen Bäume begrenzt wurde. Der Himmel erstrahlte in einer wahren Sinfonie aus Rot, Gelb, Violett und Blau, als die Sonne sich dazu anschickte, am Horizont ihre letzten Minuten zu verbringen und die Erde danach wieder dem kalten Leuchten des Mondes zu überlasen. Vor seinen Augen breitete sich eine sanfte, leicht gewellte Graslandschaft aus, die nur durch den Osaki, einem der größten Flüsse dieser Welt, durchbrochen wurde. In der Ferne erhoben sich Hügel, deren Rundungen nun im letzten Glanz der Sonne erstrahlten. Als er sein Kopf ein wenig nach links wandte, erkannte er dort die Konturen einer großen, steil aufragenden Bergkette. Wie ein Blitz durchfuhr ihn der Schauer des Erkennens. Er war nicht mehr sehr weit von seiner Heimat, Hagi entfernt! Das vor ihm, das waren die letzten Ausläufer der Trockenen Ebenen, während das Gebirge linker Hand die Gipfel der Namuren waren, die selbst im Sommer nie schneefrei blieben. Unbewusst hatte ihn sein Weg wieder ganz in die Nähe seines ehemaligen Zuhauses geführt. An dem Zusammenzucken von Korell neben ihm bemerkte er, dass auch dieser nun wusste, wo sie sich befanden. Erinnerungen stiegen in ihnen beiden hoch, Erinnerungen an die gemeinsame Kindheit, die sie hier durchlebt hatten. Und doch..... Hagi war inzwischen für sie beide nicht mehr als ein Name, ein Ort, an dem sie vor langer Zeit einmal gemeinsam gelebt hatten. Keiner von ihnen verspürte Heimweh oder das Verlangen nach Hause zu kehren. Das, was sie erlebt hatten, hätte sie für immer von den anderen unterschieden, die Rastlosigkeit, die sie beide verspürten, würde sie nie für sehr lange an einem Ort verweilen lassen. Yelin wusste, dass er seine Suche und seinen Auftrag, der damit verknüpft war, beenden musste, denn eher würde er nicht zur Ruhe kommen. Das Erbe des Drachen und die Prophezeiung würden sich immer weiter in seine Seele fressen, gelänge es ihm nicht, die Enuya zu finden. Fast unbewusst trat er näher an Korell heran und legte ihm die Hand auf die Schulter. "Komm," sagte er leise "lass uns gehen." Mit einem stummen Nicken stimmte ihm dieser zu und sie beide wollten sich auf den Weg zum nahen Flussufer machen, als plötzlich eine Stimme hinter ihnen ertönte. Physales hatte sich noch immer nicht aus dem Alten Wald heraus gewagt und sah sie mir einer seltsamen Mischung aus Trauer und Unsicherheit an. "Yelin....ich....." "Was ist los?" rief dieser ungeduldig, als ihnen der Kleine nicht folgte. Doch als dieser ihn nur weiter mir diesem seltsamen Blick ansah, da fiel es ihm auf einmal wie Schuppen aus den Augen. Er war ganz automatisch davon ausgegangen, dass der Gúdo mit zu ihrer Reisegesellschaft gehört, aber das stimme natürlich nicht. Bis jetzt hatten sie keine weitere Abmachung getroffen, als dass er sie bis zum Rande des Waldes begleiten würde. Und außerdem......er hatte hier eine Aufgabe zu erfüllen, er musste sich um seine Physalis kümmern und konnte nicht einfach so von seinen Artgenossen scheiden. Der Alte Wald war sein Zuhause, aus dem sie ihn jetzt beinahe unbewusst heraus gerissen hatten. Langsam ging er zu dem kleinen Erdgeist zurück und sah ihn verständnisvoll an. "Ist schon in Ordnung, Physales," meinte er sanft und schenkte ihm ein Lächeln. "Du musst nicht mitkommen. Dein Platz ist hier, in diesem Wald, nicht wahr?" Er sah noch immer sehr verlegen aus, als suche er nach Worten, um ihm etwas Bestimmtes zu erklären. "Aber ich....ich möchte nicht wieder zurück, Yelin. Da ist etwas.....ich kann es dir nicht erklären, aber ich habe das Gefühl, dass ich mit euch mitgehen müsste. " "Und deine Aufgabe?" "Ach.....es hat so viele Erdgeister, einer mehr oder weniger macht da auch nicht mehr so viel aus..." meinte er mit einem leicht verunglückten Lächeln. "Dann gibt es keinen Grund für dich, noch länger hier zu verweilen. " sagte Yelin zärtlich und streckte seine Hand aus. "Korell und ich würden uns sehr freuen, wenn du dich dazu entschließt, mit uns zu gehen." Der kleine Gúdo flatterte zögernd mit den Flügeln. Dann schien er sich einen Ruck zu geben und mit einem tiefen Atemzug ließ er sich auf Yelins Finger senken. Dieser lächelte und setzte den Kleinen auf seine Schulter. Dann folgten sie Korell, der sich schon auf den Weg gemacht hatte, hinunter zum Flussufer. Nach einigen Schritten hatten sie ihn eingeholt und auch er begrüßte den Erdgeist mit einem kleinen, warmen Lächeln, das dieser prompt erwiderte. Nach nur wenigen Minuten waren sie an dem strömenden Wassern des Osaki angekommen und beschlossen, ihn erst am nächsten Morgen an einer geeigneten Stelle zu überqueren und für diese Nacht hier Rast zu machen. Da Korell ebenfalls Proviant bei sich gehabt hatte, war das Abendessen für sie kein Problem. Dieses Mal erfüllte den Platz ein warmes, erschöpftes Schweigen stummer Verbundenheit. Auch die Nacht war wesentlich ruhiger als die vorhergehende. Yelin fand endlich den Schlaf, den er dringend brauchte und auch Korell schien weniger von seinen inneren Dämonen geplagt zu sein als letztes Mal. Es war fast, als hätten sie mit dem Alten Wald auch ein Stück Intensität ihrer Gedanken und Gefühle hinter sich zurück gelassen. Kapitel 5: Nach Osten --------------------- Der Morgen kam wieder mit einem wolkenlosen Himmel und einer sanften, warmen Brise, welche die vorrückenden Sonnenstrahlen begleitete. Sie wurden alle drei fast gleichzeitig wach, als hätte sie ein unsichtbares Signal zum Aufstehen gezwungen. Beim Frühstücken beratschlagten sie, wohin sie ihre Schritte nun lenken sollten. Soweit Yelin sich richtig erinnerte, war dies der südlichste Teil des Alten Waldes gewesen, der noch an die Namuren grenzte und dessen nördlichster Ausläufer sogar das Schneemeer erreichte. Und nach Osten hin....dort bildete er die natürlich Feste, die das Reich der Menschen von dem der Elben trennte. Schnell vertrieb er den Gedanken an dieses Volk, das ihnen so viel Leid gebracht hatte. Stattdessen schlug er vor, dem Lauf des Osaki immer weiter flussaufwärts zu folgen anstatt ihn, wie ursprünglich geplant, zu überqueren. Wenn sich sein Gedächtnis nicht irrte, dass würden sie bald an eine Flussgabelung kommen. Hier trafen sich die beiden Quellflüsse des Osaki, die jeweils aus den Hügelebenen und den Namuren kamen. Folgten sie ihm bis zu dieser Gabelung, so würden sie dort auf eine seichte Stelle treffen, an der das Queren für sie erheblich einfach sein würde, falls sie sich dann noch umentscheiden sollten, doch am westlichen Lauf zu bleiben. Genau so wie er hatte nämlich keiner von ihnen eine Ahnung, wo die Enuya zu finden waren. Dies war auch der Grund, warum niemand zögerte, seinem Plan zuzustimmen. In Korell's Blick las er jedoch ein stummes Flehen, der Elbenfeste nicht zu nahe zu kommen. Und auch Yelin selbst hoffte, ihm dies nicht antun zum müssen. Nachdem sie noch einmal ihre Wasservorräte aufgefüllt hatten, machten sie sich ohne weitere Verzögerung auf den Weg, immer entgegengesetzt dem Lauf des Wassers folgend. Der Osaki war hier noch kein sehr tiefer Fluss, sondern er wuchs eher in die Breite, obwohl er an dieser Stelle noch bemerkenswert jung war. Sie nutzten die Zeit, in der sie liefen dazu, Mutmaßungen über die Enuya anzustellen. Korell war der Ansicht, dass sie dabei waren, einer Legende nachzujagen, doch als er den Ernst in den Augen seines Freundes wahrnahm, schwieg er und drückte sich vorsichtiger aus. Yelin überlegte noch immer, ob er ihm jetzt von der seltsamen, beunruhigenden Prophezeiung erzählen sollte, entschied sich dann aber nach einigem Zögern doch dagegen. Irgendwie spürte er, dass die Zeit noch nicht reif genug dafür war...... Nachdem sie eine Zeitlang so gegangen waren, erreichten sie um die Mittagszeit herum die Gabelung des Flusses. Yelins Erinnerung hatte ihn nicht getrogen: Der Osaki war hier besonders seicht, so dass sie hindurch waten könnten. Fragend sah er seine beiden Weggefährten an. Er war nicht sicher, ob sie den Fluss wirklich überqueren sollten. Doch als er überlegte, wohin die anderen Arme schließlich führten, entschloss er sich auf einmal dazu, den Übergang zu wagen. Sie konnten nicht wissen, ob sie noch einmal die Möglichkeit dazu hatten und wenn sie immer auf dieser Seite bleiben würden, konnte es passieren, dass sie verdächtig nahe an die Elbenfeste heran kamen.....und dies konnte er Korell kaum antun. Als hätte dieser seine Gedanken gelesen, erschien plötzlich ein Funken von Dankbarkeit in seinen Augen und er begann damit, seine Stiefel und schließlich die Überhose auszuziehen. Yelin tat es ihm gleich, nur Physales schwirrte verständlicherweise schon einmal alleine über den Fluss. Die beiden seufzten gleichzeitig, denn in diesem Moment beneideten sie den Kleinen ganz einfach für seine Flügel. Ihre Kleidung zusammen mit seinem Gürtel und den restlichen Sachen auf dem Kopf tragend machten sie einen ersten Schritt in das klare Wasser. Es durchfuhr sie beide gleichzeitig wie ein Schock, denn es war so eiskalt, als würde es geradewegs aus dem Schneemeer stammen. Zügig, fast rennend liefen sie durch das Wasser, um sich keine Erfrierungen zu holen. Doch immer waren sie sorgsam darauf bedacht, auf ihre Sachen acht zu geben, die ihnen sonst davon geschwommen wären. Sie hatten ihre Hosen nicht ausgezogen, damit sie jetzt nass wurden. Frierend und mit den Zähnen klappernd stiegen sie auf der anderen Seite wieder ans Ufer, so dass sie sich jetzt mitten zwischen den beiden Flussarmen befanden. Physales konnte sich ein schadenfrohes Grinsen natürlich nicht verkneifen, als sie sich schnellstmöglich mit ihren Decken trocken rubbelten und wieder ihre Kleidung anzogen. Der Wind frischte wieder ein wenig auf und war somit ein erster Vorbote des nahenden Winters. Mit einem Mal, als sie gerade dabei waren, sich wieder anzukleiden, stob ein besonders kräftiger Windstoß heran und sorgte dafür, dass sich Korell Hemd ein wenig hob und somit einen Teil seines Rückens entblößte. Es traf sie wie ein Schlag. Seine Rücken war von langen, tiefen Narben geziert, von denen eine sogar bis zum Bein hinunter reichte. Yelin konnte und wollte sich nicht einmal vorstellen, welche schrecklichen Instrumente notwendig waren, einem Menschen so etwas anzutun. Korell schien sich mit einem Mal bewusst zu werden, was sein Freund da gesehen hatte. Fast unnatürlich langsam und sorgfältig kleidete er sich fertig an und drehte sich schließlich schwer zu ihnen um. In seinen Augen schimmerten Tränen. "Ihr habt es gesehen, nicht wahr....." flüsterte er leise und sah sie aus seinen traurigen, grauen Augen an. "Korell...ich..."Yelin wusste einfach nicht, was er jetzt sagen sollte. Er fühlte sich schrecklich hilflos und überflüssig. "Was haben sie dir nur angetan?" stieß er schließlich leise und schockiert hervor. Er hatte geahnt, dass es schlimm gewesen war, aber so schlimm.... Langsam trat er auf ihn zu, wagte es aber noch immer nicht, ihn zu berühren. Auch Physales flatterte näher und blieb mit einem leisen Flügelschlag in der Luft schweben. Hätte er nur nicht in ausgerechnet diesem Moment zu ihm gesehen...... Korell's Stimme unterbrach seine verzweifelten Selbstvorwürfe. "Ich sehe sie immer noch kommen.....jede Nacht......."flüsterte er mit erstickter Stimme und sein Körper zitterte, als die Erinnerungen wieder Besitz von ihm ergriffen. "Es ist alles so dunkel, kalt und feucht...ihre Keller....die Fesseln schneiden in mein Fleisch, brennen sich wie mit glühenden Eisen dort ein! Ich halte es nicht mehr aus....ich kann nicht mehr......und dann ist da sein Gesicht...dieses weiße Gesicht.....mit diesen grausamen, kalten Augen...sie sehen mich an, sie durchschauen mich bis auf den Grund meiner Seele! Die weißen Haare umgeben ihn....er ist wie ein Engel...wie der Engel des Todes, gekommen, mich zu quälen, mich zu richten! Dieser brennende, alles verschlingende Hass.....er kann keine Seele haben, er hat sie tief in sich verborgen, mit seinen Gefühlen! Und da sind sie wieder...die Messer.....die scharfen Klingen, rot von meinem Blut...dringen immer tiefer und tiefer ein......er sagt nichts, er will nichts wissen, er labt sich an meiner Qual.....Yelin, wo bist du nur? Warum hast du mich im Stich gelassen....YELIN!" Mit einem lauten Schrei brach er in die Knie und begann hemmungslos zu weinen. "Wo bist du ....Yelin, mein Freund.....warum hilfst du mir nicht?!" wimmerte er. "Ich vermisse dich.....ich brauche dich......bitte, ich will dich doch nur noch ein einziges Mal wiedersehen!" Tief getroffen stand Yelin neben ihm. Er konnte nichts tun, um seine Qual zu lindern. Die Narben, welche die Elben auf ihm hinterlassen hatten, hatten sich noch tiefer in seine Seele als in seinen Körper gegraben. Langsam ging er neben seinem schluchzenden Freund in die Knie und berührte seine Schulter. Diese sah erschreckt auf, mit weit aufgerissenen Augen in denen sich noch einmal der gesamte Schrecken spiegelte, den er eben ein weiteres mal durchlebt hatte. Sanft zog Yelin ihn an sich und streichelte über sein weiches, dunkles Haar, während Korell immer weiter weinte. Viel zu lange schon hatte sich dies alles in ihm angestaut und nun brach es ihm heraus in einer wahren Flut. "Yelin...bitte...verzeih mir.....aber so lange ich bei ihnen war, konnte ich an nichts anderes denken als an dich.....ich wünschte, ich könnte wieder dein Gesicht sehen! Ich habe dich gehasst dafür, dass ich all dies erleiden musste und du nicht. Ich habe dich geliebt, habe dich vermisst! In all den finsteren, schmerzdurchtränkten Stunden dort warst du mein einziges Licht.....mein einziges.....warum bist du nicht gekommen? Warum hast du mich nicht aus dieser Hölle befreit? Mein ganzer Körper schmerzt....sieh, was die Ketten mir angetan haben!" Mit diesen Worten riss er sich den Stoff herunter, der bisher seinen Arm bedeckt hatte. Sein Handgelenk war vernarbt in einer einzigen schrecklichen Wunde, wo das Eisen seine Haut aufgescheuert hatte. "Ich habe versucht, dich zu hassen. Ich habe versucht, dir all meinen Zorn, meinen Schmerz aufzubürden, für das, was ich erleiden musste. Doch ich konnte es nicht......ich habe dich immer geliebt. Und so sehr ich es auch wollte, nie könnte ich dich wirklich dafür hassen. Du konntest nichts dafür...du wärest nur ebenfalls getötet oder gefangen genommen worden. Das hätte ich nicht zulassen können." Seine Stimme war tränenerstickt, als er seine Augen schloß, aus denen noch immer das salzige Nass floss. "Ich weiß." flüsterte dieser mit leiser, erstickter Stimme. "Glaub mir, ich hätte alles gegeben, um dich zu retten. Ich hätte deinen Platz eingenommen, wenn ich dich gefunden hätte. Ich habe dies alles nicht gewollt. Gott, ich habe dich vermisst, jede Sekunde meines Lebens habe ich dich immer mehr vermisst und darum gebeten, dass du lebendig zu mir zurückkehrst! Bitte......" er wurde immer leiser. "Bitte vergib mir, Korell!" "Ich wünschte, ich könnte es. Ich will nichts sehnlicher, als dass alles so ist, wie es einmal war......doch genau so, wie ich die Narben, die sich überall auf meinem Körper befinden, nicht vergessen kann, genau so wenig kann ich die sieben Jahre, die zwischen uns liegen, ungeschehen machen. Ich vergebe dir; und doch, es wird nie wieder ganz dasselbe sein wie früher. Aber ich will versuchen, eine neue Beziehung aufzubauen, eine Freundschaft, die genau so besonders und innig ist, wie sie einmal war. Bitte, versteh das. Lass uns gemeinsam einen Weg finden, uns einander wieder näher zu bringen!" Yelins Herz krampfte sich bei diesen Worten zusammen. Er hatte es gewusst, seit er Korell dort am Seeufer im Wald hatte sitzen sehen. Und dennoch hatte er immer weiter vergeblich gehofft, dass es nicht so war. Wortlos nickte er und versuchte dabei, die Tränen zurück zu halten, die nun auch über ihn herfallen wollten. Noch eine geraume Weile blieben sie so sitzen und hielten einander fest umklammert. Doch die Distanz, die zwischen ihnen war, konnten sie letztlich nicht überwinden. Schließlich erhoben sie sich und mit einem letzten, gegenseitigen Blick in ihre Augen wandten sie sich voneinander ab und gingen weiter, jeder seinen eigenen, traurigen Gedanken nachhängend. Physales, der alles aus der Ferne mitbekommen hatte und außerdem aus den Gedanken eines jeden von ihnen genug erfahren hatte, setzte sich wieder auf Yelins Schulter und schmiegte sich an seinen Hals, um seine stille Verbundenheit auszudrücken. Diese Geste tat ihm seltsam gut und dankbar strich er sanft mit seinen Fingern über dessen kleinen, zerbrechlichen Rücken. Sie wanderten noch viele Tagen am Osaki entlang, immer weiter auf die Hügel zuhaltend, die sich vor ihnen erhoben und mit der Zeit immer mehr an Gestalt annahmen. Manche sagten, dass diese runden Kuppen die Gräber längst vergessener Völker waren, die hier ihre Fürsten bestatteten, deren Geister des Nachts auf ihnen umgingen. Andere behaupteten ebenfalls, dass dies Grabstätten seien, allerdings nicht von einem uralten Stamm errichtet, sondern vielmehr von Wesen der Magie, wie Drachen, Dryaden, Riesen oder anderen. Doch wahrscheinlich war es nur eine seltsame Landschaft, von den Launen der Natur geschaffen und verziert. Nach dem Vorfall an der Gabelung waren ihre Wanderungen noch stiller geworden, aber nichtsdestotrotz hatte Yelin das Gefühl, dass sich jetzt mehr zusammen hielten als zuvor. Obwohl diese Wahrheit zerstörerisch hätte wirken sollen, so schweißte sie sie doch irgendwie auf eine bestimmte Art und Weise zusammen. Es war doch besser, alles zu kennen, als in ewiger Ungewissheit zu leben. Doch noch immer spürte er, dass ihm Korell etwas verschwiegen hatte. Das, was er ihm erzählt hatte, war zwar die Wahrheit gewesen, doch sie war längst noch nicht vollständig. Da fehlte noch etwas.....er hatte keine Ahnung, warum er sich dessen so sicher war, aber er wusste ganz einfach, dass dies noch lange nicht alles gewesen war, was er in den sieben Jahren, in denen sie getrennt gewesen waren, geschehen war. Aber er drang nicht weiter in ihn. Die Tatsachen über seinen Aufenthalt in der Elbenfeste und die Folter durch den schwarzen Krieger hatten schwer genug auf seiner Seele gelastet. Es hatte ihn so viel Mut und Überwindung gekostet, dies alles noch einmal durchleben zu müssen, dass er ihn unmöglich noch mehr antun konnte. Die Zeit, dies zu erfahren, würde kommen, das wusste er. Und der Moment, ihm seine Erlebnisse anzuvertrauen, ebenfalls. Die Tage, in denen sie unterwegs waren, eilten dahin und vergingen eigentlich immer auf dieselbe Art und Weise: Sie schliefen, sie gingen und sie aßen. Manchmal machten sie auch Jagd, wenn sie etwas zu essen brauchten, wobei Korell bewies, dass er noch immer nichts verlernt hatte, was sein außergewöhnliches Talent im Bogenschießen anging. Nach ein paar Tagen begannen sie auch damit, sich abends oder mittags mit Kampfübungen zu beschäftigen. Sehr schnell stellte Yelin fest, dass sein Freund wirklich bemerkenswerte Fortschritte gemacht hatte, was den Kampf mit Waffen wie Schwertern oder Dolchen anging. Damals war er zwar der beste Bogenschütze gewesen, seine Fähigkeiten, was andere Arten von Waffen anging, waren jedoch eher begrenzt gewesen im Vergleich dazu. Nun schien er eine Art besondere Technik entwickelt zu haben, die besonders auf unmenschlicher Schnelligkeit und ausgefeilten Bewegungen beruhte und seiner eigenen sehr ähnelte. So wurden ihre Übungsduelle immer spannender, energiegeladener, auch wenn sich nicht leugnen ließ, dass Yelin noch immer der bei weitem bessere von ihnen beiden war. Im Bogenschießen war er, wie immer, seinem Freund unterlegen, der jetzt noch besser geworden schien. Sie beide hatten sich in diesen Jahren weiterentwickelt, waren auf eine neue Stufe gelangt, was ihre Fähigkeiten anging. In dieser langen Zeit, in der sie getrennt gewesen waren, hatte jeder von ihnen seinen Kampfstil weiter perfektioniert und beide in ungefähr dieselbe Richtung. Physales sah meist nur mit offenem Mund zu, wie die beiden in einem immer schneller werdenden Tanz umeinander wogten, zustießen, sich entfernten und erneut ihre Klingen aufeinander prallen ließen. Ein ungeübter Beobachter hätte diese Übungskämpfe nicht von wahren auf Leben und Tod unterscheiden können, aber nicht ein einziges Mal blieb auch nur ein Kratzer auf ihrer Haut zurück. Die ungeheure Macht aus seinem Inneren, die Yelin damals bei seinem Kampf mit dem Drachen verspürt und mit deren Hilfe er ihn letztendlich auch hatte besiegen können, tauchte nicht mehr auf. Aber er wusste nur zu gut, dass sie noch immer in ihm schlummerte und ihn eines Tages wieder in Besitz nehmen würde. Er hoffte nur, dass Korell nicht darunter würde leiden müssen...... Eine andere Sache, die ihm während dieser Tage auffiel, war das seltsame Schimmern, was er aus dem Alten Wald mitgebracht hatte. Physales schien immer stärker in ihrem Schein zu leuchten und von ihr umgeben zu sein und manchmal, wenn sie mit dem Bogen übten, vermeinte er auch, einen schwachen Glanz davon bei Korell zu sehen, wie er vor allem seine Waffe umgab. Auch Norai sah ähnlich aus, wenn er es zog und liebevoll in die Hand nahm, um es zu polieren oder mit ihm zu üben. Aber noch immer hatte er keine Ahnung, was es eigentlich bedeutete. So vergingen die Tage, während sie weiter ihren Weg durch die Hügellandschaft in Richtung der Namuren suchten. Das Wetter war vorübergehend schlechter geworden und ganze zwei Tage waren sie nur im Regen marschiert. Yelin hasste es, wenn die dicken Tropfen vom Himmel fielen, denn dann war alles nass. Physales musste sich immer bei ihm oder Korell niederlassen, da er natürlich mit seinen wasserdurchtränkten Flügeln nicht richtig fliegen konnte. Auch nachts war es einfach unbequem, wenn man nur Nasses am Leib hatte oder das Essen von Mal zu Mal feuchter schien. Aber danach klarte der Himmel auf einmal wieder auf und die Sonne schien mit einer solchen Macht, als wolle sie alles wieder aufholen, was sie in den letzten beiden Tagen versäumt hatte. Es wurde warm und gleichzeitig damit schien auch die Natur in ungewohnter Vielfalt wieder zu erblühen: das vorher noch trockene, leicht zerbrechliche Gras wurde durch die plötzlichen Regenschauer gestärkt auf einmal saftig und von einem tiefen, dunklen Grün. Kleinere Wiesenblumen erblühten und verwandelten manche Flächen in ein wahres Farbenmeer. Physales fand das natürlich wunderbar und hielt oft Ausschau nach seiner Pflanze, die hier im Süden, auf den eigentlich trockenen Ebenen aber nicht zu Hause war. Dennoch konnte dies seine Laune kaum trüben und ein manches Mal flog er jubelnd und jauchzend herum, immer neue Saltos schlagend. Auch ihre Stimmung schien sich durch die Sonne und das Erblühen der Landschaft um sie herum merklich zu bessern. Immer öfter konnte man nun ein leichtes Lachen sehen, das ihre Mienen erhellte und ihnen somit wieder ein kleines, trügerisches Stückchen Normalität zurück gab. Doch mitten in diese schöne Zeit platzte wieder etwas herein, womit sie nicht gerechnet hatten. Es geschah an einem einfachen Nachmittag, die Geschehnisse an der Gabelung lagen mittlerweile mehr als eine Woche zurück. Sie hatten eben ihr Mittagessen verzehrt, das wieder einmal aus einem erjagten Kaninchen und ein paar Wurzeln für Physales bestand. Dabei machte Yelin die Bemerkung, dass er noch immer keine Ahnung hätte, wo sie eigentlich hinmüssten. Bei ihrer Suche nach den Enuya waren sie bisher kein bisschen weiter gekommen, und auch dem kleinen Erdgeist fiel nichts weiter ein, was ihnen vielleicht weiter helfen könnte, ebenso wenig wie Korell etwas wusste. Er hatte nur eine Idee und meinte, dass es eigentlich logisch wäre, wenn sie einem Gebiet lebten, das in einem möglichst unbewohnten oder unbekannten Teil des Landes lag, denn ansonsten hätte sicher jemand gewusst, wo sie zu finden waren. Die beiden anderen stimmten ihm in dieser Ansicht vollkommen zu. Also beschlossen sie, zuerst einmal weiter in ihre bisherige Richtung zu gehen, da die Länder dort kaum erforscht waren und somit wohl am besten ein Versteck für die "alten Waisen" boten. Wenn er sogar genau nachdachte, kannte er niemanden, der wusste, was hinter den Hügelebenen kam..... Ein dunkles Grollen und ein kleiner Schrei schreckte sie mit einem Mal aus ihren Überlegungen auf. Kurz danach hörte man ein Krachen, gefolgt von einem weiteren, spitzen Aufschrei. Ohne lange zu überlegen schnellte Yelin auf, die Spitze Klinge von Norai sprang fast augenblicklich in seine Hand, als er sich auf den Weg in die Richtung machte, aus der die beunruhigenden Geräusche gekommen waren. Auch Korell zögerte nicht lange, packte seinen Bogen und seinen Köcher und folgte ihm auf dem Fuße. Hinter der gras- und strauchbewachsenen Kuppe des nächsten Hügels bot sich ihnen ein wahrlich erstaunliches Bild: Eine Gestalt im dunkelgrauen Kapuzenmantel befand sich ganz offensichtlich im Kampf mit einem...Wesen. Er musste erst kurz nachdenken, doch dann fiel ihm ein, wo er in längst vergessenen Büchern und Schriften schon einmal etwas darüber gelesen hatte: In einem Werk namens "Nachtgestalten". Dort war von einem Lebewesen die Rede gewesen, das genauso aussah, wie dieses hier vor ihm. Im weitesten Sinne ähnelte es vielleicht noch einem schwarzen Einhorn oder Pegasus, allerdings waren seine Flügel nicht aus weichen Federn, sondern wiesen dieselbe Durchsichtigkeit und Festigkeit wie die Schwingen des Drachen auf, den er getötet hatte, an der Spitze mit scharfen, gebogenen Krallen besetzt. Sein Körperbau ähnelte tatsächlich dem eines Pferdes, aber es war viel kräftiger, massiger und vor allem größer gebaut. Stacheln gab es nicht nur an seinen Flügeln, sondern auch an den Rückseiten seiner Hufe und auf dem Kopf. Schweif und Mähne waren von silberner Farbe, jedoch reichte letztere wahrscheinlich fast bis zum Boden, sollte das riesige Wesen einmal still stehen. Am bedrohlichsten jedoch wirkten ohne Zweifel die Fangzähne, die aus seinem Mund ragten, das spitze und überlange Horn auf seiner Stirn und vor allem anderen die rollenden Augen, von der Farbe geschmolzenen Goldes und erfüllt von einer Wildheit, die sein Einhornerbe beinahe unwirklich schienen ließ. Jetzt erinnerte er sich auch wieder an den Namen dieses seltsamen, jedoch wunderschönen Geschöpfs: Es war ein Palyn. Palyne waren der Sage nach tatsächlich Kreuzungen, die aus der Verbindung eines Einhorns mit einem Drachen hervor gegangen waren. Eigentlich waren sie recht friedlich, aber sie aßen alles, was ihnen groß genug schien, um als Nahrung zu genügen. Leider gehörten auch Menschen in diese Klasse.....doch sie waren nicht von Natur aus bösartig, wie die Menschen es gerne von Wesen behaupteten, die ihnen etwas zu Leide tun wollten, sondern betrachteten sie schlicht und einfach als Nahrung. Sie waren also genau so gut und schlecht wie jeder andere auch und versuchten nur, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Das sanfte Schimmern, das Yelin jetzt nur noch vereinfach wahrgenommen hatte, schien sich in der Gegenwart der beiden Kämpfenden schlagartig zu verstärken, so dass es ihn schon fast blendete. Den Gegner des Palyn konnte er noch immer nicht genau erkennen, aber er gewann den Eindruck, dass es sich um einen guten Kämpfer handeln musste. Er war recht klein und schwang ein für seine Größe wirklich großes Langschwert mit einer Kraft und Geschwindigkeit, die man ihm kaum zugetraut hätte. Und tatsächlich schien der Palyn sich im Kampf mit einem ebenbürtigen Gegner zu befinden. Korell und Yelin waren sich nicht einmal mehr ganz sicher, ob ihr Eingreifen überhaupt notwendig war. Letzterer runzelte die Stirn, als ihm klar wurde, was er dort sah: Der geheimnisvolle Kämpfer wirkte fast wie ein Sanuki....zumindest in der Art, wie er mit seiner Waffe umging, die, und das konnte er selbst aus dieser Entfernung erkennen, keine gewöhnliche war. Doch eines daran erschien ihm seltsam: Auf seinen Reisen war einmal, ein einziges Mal einem anderen Sanuki begegnet und schon lange bevor er ihm gegenüber stand, hatte er gewusst, wer ihn erwartete. Nein, dieses Gefühl lag hier eindeutig nicht vor....sonst hätte er ihn auch schon über eine weit größere Entfernung spüren müssen. Doch wer war er dann? Nun, wenn er den Stand des Kampfes betrachtete, dann würde er die Antwort ziemlich bald wissen.....der Palyn, er merkte es ganz deutlich, wurde trotz seiner Macht immer weiter in die Enge getrieben. Und je mehr er zurück zu weichen schien, desto mehr nährte sich der Krieger ihm, seine Schläge immer schärfer und schneller setzend. Mit einem Mal begriff Yelin, was er vorhatte, und begann, den Hügel hinunter zu laufen. Nein! Er durfte es nicht tun! Wenn er noch einmal dem Sterben eines magischen Wesens durch Menschenhand beiwohnen müsste, so würde er seines Lebens wohl nie wieder froh werden. Er musste es verhindern, ganz gleich, was ihm dafür abverlangt werden würde. Laut rufend und gestikulierend stürzte er weiter den Hügel hinab und schrie aus Leibeskräften den beiden Kämpfenden zu: "Nein, hör auf! Lass ab! Lass ab! Du darfst ihn nicht töten, hör auf!" Sein Geschrei schien tatsächlich etwas bewirkt zu haben, denn als er bei den beiden ankam, hatten sie in ihrem ungleichen Ringen tatsächlich inne gehalten. Korell rief irgendetwas, doch Yelin war inzwischen fiel zu sehr mit dem Wesen beschäftigt, das sich vor ihm befand. Schwer atmend nährte er sich dem Palyn und blickte in seine tiefen, dunkelgoldenen Augen. Geh weg! dachte er mit aller geistigen Kraft, die aufzubringen er imstande war. Ich will nicht, dass du stirbst. Bitte, geh weg!Noch immer bewegte sich das große magische Wesen nicht, doch in seinen Augen glomm etwas, was Yelin verzweifelt als Verstehen interpretieren wollte. Zögernd hob er sein Schwert. Lauf! Ich will dir nichts tun, also LAUF! Die letzten Worte hatte er förmlich in Gedanken geschrieen. Und langsam, als könnte es das, was es tat, noch weniger verstehen als er selbst, begann der Palyn tatsächlich, sich umzudrehen und langsam davon zu traben. Nach einigen Metern Anlauf erhob es sich mit seinen riesigen, aufgespannten Flügeln in die Luft und war schon nach wenigen Augenblicken ganz verschwunden. Mit einem tiefen, erschöpften Seufzer ließ Yelin Norai sinken und schloss kurz seine Augen. Er war wohl noch mehr erstaunt als die anderen, dass er es geschafft hatte, den Palyn durch bloße Gedanken zu vertreiben. Oder war es dem Anblick seines Schwertes zu verdanken gewesen, dass er sich am Ende gegen ihn durchgesetzt hatte......er wusste es nicht. Aber in seinem Inneren war eine Stimme, die mit Nachdruck behauptete, dass das Erbe des Drachen, das in ihm schlummerte, seinen Teil dazu beigetragen hatte. Ein leises Räuspern hinter ihm ließ ihn wieder die Augen öffnen und sich umdrehen. Als er erkannte, wer den Palyn beinahe getötet hatte, verschlug es ihm den Atem. Es war eine Frau. Genauer gesagt : eine schon recht alte Frau, die gut und gerne eine etwas ältere Verwandte seiner Großmutter hätte sein können! Ihr Gesicht war durchzogen von tiefen Falten, der Mund schmal und fast weiß, die Augenbrauen auch nur noch spärlich vorhanden. Die Augen selbst waren von einem stechenden und alles durchdringenden Blau, dass ihm plötzlich das Gefühl gab, von tausend unsichtbaren Händen befühlt und berührt zu werden. Ein Glanz von Willenskraft und Magie schimmerte in ihnen, der eigentlich gar nicht so wirklich zu ihrem gebrechlichen Äußeren passte. Und da war noch die phänomenale Fähigkeit was ihren Umgang mit ihrer Waffe betraf....diese steckte jetzt wieder in ihrem Gürtel, was ein wenig ein komisches Bild bot, da sie fast länger war als sie selbst. Es war ihm ein Rätsel, wie es diese alte Frau überhaupt geschafft hatte, sie anzuheben, geschweige denn, zu schwingen! "Bist du jetzt endlich fertig damit, mich anzustarren?" fragte sie mit knarziger Stimme und durchdrang ihn förmlich noch mehr mit ihren Blicken. "Äh...." eine ziemlich fantasievolle Antwort, so viel war ihm auch klar, aber er brachte im Moment einfach nichts Besseres zustande, außer zusätzlich auch noch rot zu werden. "Aha." Die Alte zuckte nur mit den Schultern und setzte dazu an, zu gehen. Doch auf einmal schien sie es sich anders zu überlegen und drehte sich erneut zu ihm um. "Aber bevor ich gehe, hätte ich da noch eine Frage....." sie zögerte kurz, vor allem, als sie Korell sah, der sich mittlerweile zu Yelin gesellte hatte und mindestens ebenso überrascht schien wie er, wer sich unter der dunklen Kapuze verbarg. Dann holte sie tief Luft und fuhr fort: "Warum hast du mich daran gehindert, den Palyn zu töten? Ich meine, er wollte mein Leben. Was hat er dir gegeben, dass du ihn gerettet hast?" Ihre seltsamen Augen schienen ihn immer weiter zu fixieren, so dass er schließlich wegsah und sogar einen kleinen Schritt zurück trat. "Ich weiß es nicht genau. " meinte er ehrlich. "Aber ich war mir ganz sicher, dass ich es nicht ertragen hätte, es sterben zu sehen.....ich meine, das einzige, was es wollte, war, seinen Hunger zu stillen. Töten uns denn die Hirsche, deren Fleisch wir verspeisen? Was für ein Recht haben wir dann, einfach die Wesen zu töten, die doch auch nur ihre Grundbedürfnisse befriedigen wollen? Ich glaube, es wäre schlicht und einfach falsch gewesen, es zu tun." Korell sah ihn erstaunt von der Seite an, doch die Alte schien nur befriedigend zu nicken, als hätte sie mit einer solchen Antwort gerechnet. "Gut, gut, mein Junge. Ich war dir auch nicht böse, dass du dies getan hast, nicht wirklich jedenfalls. Hast du gerade etwas von Grundbedürfnissen gesagt? Ja? Gut, ich fühle nämlich gerade das dringende Bedürfnis, etwas zu essen.......habt ihr zufällig etwas dabei?" Und ohne eine weitere Antwort abzuwarten, begann sie damit, den Berg hinauf zu stiefeln. Korell und Yelin wechselten ein paar erstaunte Blicke, ehe sie endlich darauf kamen, ihr nachzulaufen. "Warten sie!" rief Korell und schob sich schnell vor sie. "Wir haben noch eine Frage, Mütterchen. Was zum Teufel war das gerade? Ihr habt euer Schwert mit einer ungeheuren Geschwindigkeit geschwungen und ihr seht...nun ja....wie soll ich das sagen......ihr seht irgendwie nicht so aus, als ob......." "Als ob ich noch jung genug wäre, um vernünftig kämpfen zu können? Wolltest du das damit sagen?!" Auf einmal sah er furchtbar verlegen aus und suchte beinahe vergeblich nach Worten, ehe er vorsichtig meinte: "Na ja...also so direkt wollte ich das jetzt nicht ausdrücken....aber im übertragenen Sinne.......trifft das ungefähr das, was ich ihnen sagen wollte, ja." endete er mit einem ziemlich verunglückten Lächeln. Yelin musste sich ein Grinsen verkneifen, als er seinen Freund derart schüchtern und auf den Mund gefallen erlebte. "Nur weil ich alt bin, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht dazu fähig wäre, mein Schwert selber zu führen, merk dir das!" Fast sah es aus, als wolle sie auch noch damit anfangen, vor ihm in der Luft herumzufuchteln. "Außerdem bin ich kein 'Mütterchen', verstanden? Mein Name ist Thame. Und entweder du gewöhnst dich daran, oder du kannst exklusiv erleben, wie gut ich wirklich bin im Umgang mit meinem Schwert. Und du" wandte sie sich an Yelin, der noch immer verzweifelt versuchte, nicht einfach loszulachen "du hörst gefälligst damit auf, so dämlich zu grinsen! Und jetzt möchte ich wirklich sehen, ob ihr noch etwas von eurer Mahlzeit für mich übrig gelassen habt." Mit diesen Worten ging sie einfach weiter, ohne noch ein Wort mehr an sie zu verschwenden. Korell und Yelin blieben verblüfft und sprachlos zurück. "Ähm....." sanft stieß Korell Yelin in die Seite und schaute ihn dann fragend an. "Bist du dir ganz sicher, dass die Alte noch alle Tassen im Schrank hat? Ich meine....kennst du im Ernst jemanden in diesem Alter, der noch so flink auf den Beinen ist? Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie uns mehr schaden als nützen könnte....." "Ach komm." Yelin lachte leise. "sie ist doch ganz amüsant. Außerdem kann sie und vielleicht was über die Enuya erzählen. Du weißt doch...je oller, desto doller." Meinte er mit einem Augenzwinkern. "Also, falls das jetzt eine Anspielung auf meine Großmutter sein soll, dann....." "Nein, nein." Yelin winkte beruhigend ab, und schalt sich innerlich dafür, fast mit einem lauten Lachen heraus zu platzen. Seiner Meinung nach hatten sie schon viel zu lange keine solch kleine Kabbeleien mehr gehabt.....auch eines der Dinge, die sich so bitter verändert hatten seit damals. Noch immer leicht lächelnd folgten sie Thame, die es sich inzwischen an ihrem Lageplatz bequem gemacht hatte und sich mit Begeisterung über die Reste ihres Kaninchens von ihrem Mittagessen hermachte. Physales saß auf einer ihrer Decken und schien recht überrascht vom Auftauchen einer alten Frau zu sein, die einfach ihr Essen verspeiste. Allerdings schien ihn ihr Aussehen noch viel mehr zu erschrecken....es war, als würde er etwas an oder in ihr sehen, was ihnen bisher geflissentlich entgangen war. Thame hingegen sah aus, als hätte sie irgendwie fest damit gerechnet, den kleinen Gúdo hier zu sehen und betrachtete ihn offenbar mit Wohlwollen. Zusammen nahmen sie gegenüber von ihr Platz und warteten geduldig, bis sie ihr Mahl beendet hatte. Dann begann Yelin zu sprechen. "Thame......entschuldige bitte, das wir vorher ein wenig unhöflich zu dir waren, aber wenn du ehrlich bist, kommt es nicht sehr oft vor, dass Frauen in deinem Alter noch so gut kämpfen können. Aber eigentlich wollte ich dich etwas fragen.....und zwar folgendes. Was weißt du über die Enuya?" Bildete er es sich nur ein oder erkannte er da tatsächlich den Funken eines versteckten Lachens in ihren Augen? Doch nur einen Augenblick später war er wieder verschwunden und Yelin schüttelte den Kopf. Mit Sicherheit war er nur einer Täuschung erlegen. "Die Enuya? Oh ja......Sie leben angeblich hinter den Grauen Bergen, tief im Norden. Warum fragst du?" Yelin musste sich beherrschen, um sie nicht einfach mit offenem Mund anzustarren. Er hatte zwar erwartet, dass sie ein bisschen was wusste, aber dass die Angaben gleich so deutlich waren... "Woher weißt du das alles?" brachte er schließlich hervor. "Woher ich das weiß? Na, wie ihr vorhin selbst gesagt habt.....'in diesem Alter' bin ich schon ein wenig herumgekommen und ich habe weit mehr gesehen, als du es dir je zu träumen gewagt hättest, Junge. Unter anderem habe ich aus verschiedenen Quellen gehört, dass sie dort in einer Art Tempel aus schwarzem Marmor leben sollen. Dass sie als die Herrscher, beziehungsweise Schöpfer dieser Welt gehandelt werden, das wisst ihr ja bereits, nehme ich an. Sonst würdet ihr jedenfalls nicht so neugierig fragen.....Aber ich selbst habe es noch nie gewagt, mich ihrem Heiligtum wirklich zu nähern. Denn nach allem, was ich weiß, wissen sie von jedem, der ihnen näher als drei Tagesreisen ist und angeblich mögen sie es nicht, wenn Unbefugte ihr Gebiet betreten......Außerdem kommt man ziemlich nahe am Gebiet der Elben vorbei, wenn man zu ihnen will. Und dass die Elben nicht sonderlich gut auf Menschen zu sprechen sind, ist euch mit hoher Wahrscheinlichkeit auch bekannt, nicht wahr?" Yelin sah von der Seite, wie sich Korells Augen wieder vor Schmerz verdüsterten. Vielleicht wusste er besser als alle anderen, welchen immensen Hass die Elben gegen sie hegten.....sanft legte er ihm eine Hand auf den Arm und sah wieder Thame an, die sie interessiert zu beobachten schien. "Kannst du uns vielleicht helfen, dorthin zu gelangen? Ich weiß, dass es gefährlich, wenn nicht sogar unmöglich ist, aber ich muss einfach dorthin. Die Gründe kann ich dir jetzt nicht genau erläutern, aber mir bleibt keine andere Wahl, selbst wenn ich scheitern sollte. " Die Alte nickte leicht mit dem Kopf, als hätte sie mit einer solchen Frage gerechnet. Schließlich meinte sie: "Warum nicht? Ich habe schon viel zu lange kein aufregendes Abenteuer mehr erlebt....Es scheint mir, als könnte die Reise recht interessant werden, meint ihr nicht auch?" Korell sprach noch immer nicht, aber Physales und Yelin nickten leicht. "Gut, dann würde ich vorschlagen, dass wir uns erst einmal unsere Marschrute überlegen.....denn ein solches Unternehmen will gut geplant sein, nicht wahr?" In den Tiefen der Taschen ihres dunkelgrauen Mantels kramend förderte sie schließlich ein altes, vergilbtes Stück Papier zu Tage. Dieses breitete sie dann vor den erstaunten Augen der drei aus und begann leise murmelnd, mit dem Finger über die verblichenen Linien zu fahren, die Flüsse, Berge und andere Landschaften dieser Welt darstellten. "Es ist doch immer wieder praktisch, eine Karte griffbereit zu haben..."murmelte sie leise, als ihre Fingerspitze endlich den Punkt fand, an dem sie sich jetzt mutmaßlich befanden. "Hier, seht einmal." meinte sie und schob die Karte ein wenig zu ihnen herüber, so dass sie jetzt selbst die handgeschriebenen Bezeichnungen gut lesen konnten. Sogar Physales sah interessiert aus, als sie zu reden begann. "Also.....die Feste der Enuya muss irgendwo im Norden liegen, rechts von den Grauen Bergen, also so ungefähr hier. " sie tippte auf eine bestimmte Stelle. "Und wir selbst sind hier unten. So weit ich das sehe, gibt es drei verschiedene Möglichkeiten, dorthin zu gelangen......die erste wäre, einen großen Bogen westlich um den Alten Wald zu schlagen und im Zuge dessen einmal bei den ganzen Festungen wie Hagi vorbei zu schauen. Das bietet den Vorteil, dass wie immer durch gesichertes und bekanntes Gebiet gehen. Allerdings dauert dieser Weg ohne Zweifel am längsten.....wir müssen ja auch noch den See Osaki überqueren, das nimmt mit Sicherheit noch Mal eine ziemliche Zeitspanne in Anspruch. Was meint ihr dazu?" Yelin schüttelte den Kopf und lächelte traurig. Nein, er hatte keinerlei Lust, in der alten Heimat von Hagi zu rasten...dieser Teil seines Lebens war abgeschlossen und vorbei. Er verspürte nicht den Drang, ihn wiederzubeleben, ebenso wenig wie Korell, wie ihm ein Blick zur Seite bewies. "Gut...die zweite ist mit Sicherheit die riskanteste, wenn auch wahrscheinlich kürzeste von allen. Wir müssten dazu durch den Alten Wald hindurch und dabei durch Elbengebiet.....nein, das ist sogar mir zu gefährlich. Kommen wir also zu Möglichkeit Nummer 3. Wir gehen jetzt nach Osten und durchqueren die Mamuraebene. Dann müssten wir über einen Pass über das Gebirge und schließlich irgendwie um das Sumpfgebiet des Lainen. Kurz oberhalb, wenn er die Grauen Berge noch nicht lange verlassen hat, gibt es eine Brücke, auf der man ihn bequem überqueren kann. Diesen Weg finde ich offen gestanden am besten, denn die Namuren trennen uns von den Elben und weiter oben wird die Chance immer geringer, dass sie uns erwischen. Aber nichtsdestotrotz ist dieser Weg sehr riskant. Über diese Gegend ist so gut wie nichts bekannt und noch nicht einmal ich war je in der Mamuraebene, habe also auch keine Ahnung, was uns dort erwartet. Seid ihr wirklich von ganzem Herzen bereit, dies alles auf euch zu nehmen? Und bedenkt....selbst wenn wir es schaffen sollten und bis in das Gebiet der Enuya vordringen, so ist es noch lange nicht garantiert, dass sie uns auch freundlich empfangen werden. Ich hoffe, dass ihr euch darüber im Klaren seid." Fragend blickte sie die drei an. "Nun, wenn es keinen anderen Weg gibt....."Yelin nickte sacht und sah Korell an. Dieser hatte seine Augen noch immer starr auf den Punkt gerichtet, an dem mit akkurater Handschrift "Elbenfeste" geschrieben stand. Er wusste, dass sein Freund genau in diesem Moment noch einmal innerlich alles erlebte, was er hatte durchmachen müssen. Seine Gefühle spiegelten sich in seinen Augen wieder, als er sie schloss und mit erstickter Stimme antwortete: "Ich tue es. Ich komme mit." Yelin konnte ihm kaum sagen, wie dankbar er ihm für diese Worte war. Er brachte vielleicht das größte Opfer, zu dem er in diesem Moment ihm gegenüber fähig war: Er stellte sich seinen eigenen Dämonen, die ihn vielleicht hinter den Namuren erwarten mochten. Physales setzte sich währenddessen auf Korells Schulter und meinte: "Meine Antwort kennst du doch schon, oder? Da wo ihr hingeht, gehe auch ich hin. Seit ich den Alten Wald verlassen habe, bin ich an euch gebunden....ich kann gar nicht anders, als euch überallhin zu folgen." "So steht es dann fest." meinte Thame feierlich. "Wir werden versuchen, die Enuya zu entdecken und dort zu finden, wonach ihr auf der Suche seit. " Dies war der endgültige Beginn ihrer großen Reise, an deren Ende vielleicht die Erlösung wartete, die sie alle so sehnlichst erhofften. Kapitel 6: 1/2: Mamura ----------------------- Die Name "Mamura" bezeichnete eine weite, große Grasfläche, ganz ähnlichen den Trockenen Ebenen auf der anderen Seite des Osaki. Im Prinzip war sie jedoch ein einziger, großer Talkessel, der im Norden und Westen von den Namuren begrenzt wurde und im Süden wieder in jene Hügellandschaft überging, aus der auch der Osaki entsprang. Allerdings konnte von Osten weit mehr Regen diesen Kessel erreichen, so dass es hier einige Waldinseln gab und die Vegetation nicht ganz so karg und rau war wie in den Trockenen Ebenen. Mit der Vielfalt der Pflanzenwelt ging auch eine größere Anzahl von Tierarten einher, so dass sie meist einen gut gedeckten Tisch hatten. Nun, wie sie schon für drei Leute Fleisch brauchten (Physales aß ja keines), war es ganz gut, dass Korell mit seinem Bogen praktisch alles traf, was er länger als eine halbe Sekunde anvisieren konnte. So war er es auch, der meist dafür sorgte, dass sie genug zu essen hatten, auch wenn die Fähigkeiten von Yelin und Thame bei weitem nicht zu verachten waren. Das einzige, was Bemerkenswertes auf ihrer Reise geschah, waren die weiteren Begegnungen mit immer mehr magischen Wesen, von denen jedoch kein Palyn mehr dabei war. Dafür häuften sich die Treffen mit anderen zusehends. Yelin stellte erschüttert fest, dass es einmal überall so ausgesehen haben mochte auf dieser Welt, bis...ja, bis die menschlichen Bewohner kamen und damit begannen, die Erde ihrem Willen unterjochen zu wollen. Traurig dachte er an all die Arten, die er nie mehr kennen lernen würde......Thame schien zu ahnen, was in ihm vorging, denn eines Tages nahm sie ihn beiseite und klopfte ihm kurz auf die Schulter. Dann lächelte sie leicht. "Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen, Yelin. Menschen sind nun einmal so, es ist ihre Art zu leben, genau so wie die Würgefeige einen Baum tötet, um leben zu können, verstehst du?" Yelin schüttelte leicht den Kopf. "Aber die Würgefeige ist von Natur aus so. Wir können denken, können uns ändern! Wir haben die Fähigkeit, unsere Taten zu ändern und sie so zu gestalten, dass sie besser werden." Thame sah ihn traurig an. "Das magst du vielleicht glauben, aber tief in sich ist jeder Mensch gleich, glaub mir. Aber die Zeit der Magie, der Phantasie vergeht immer schneller, wie Sand, der dir durch die Finger rinnt. Bald schon werden die letzten magischen Wesen entweder ausgestorben sein oder tief versteckt an den letzten Zufluchtorten leben. Du kannst diese Entwicklung nicht aufhalten, Yelin, ebenso wenig wie du es vermagst, das Schicksal zu ändern. Das einzige, was du tun kannst, ist mitzuhelfen, eine Nische zu schaffen, wo die schönsten Wesen der Magie überleben können. Vielleicht kannst du es ja auch erreichen, dass die Menschen versuchen, ihre Bedürfnisse denen der anderen anzupassen.....doch das ist allein deine Entscheidung. Jetzt wirst du dich erst einmal der Suche nach den Enuya widmen, nicht wahr? Doch weißt du auch, was du tun willst, wenn du sie gefunden hast?" Yelin zögerte. "Nein, eigentlich noch nicht so genau. Bis jetzt konzentriere ich mich eher darauf, sie zu finden.....eigentlich dachte ich, dass sie mir sagen würden, was ich zu tun hätte." An dieser Stelle lächelte Thame nur geheimnisvoll und ließ sich wieder ein wenig zurückfallen, um mit Physales zu reden, der bei Korell auf der Schulter saß. Die beiden schienen sich recht gut zu verstehen, nachdem der Gúdo sie anfangs eher misstrauisch beäugt hatte. Ein anderes Mal erzählte Thame ihnen ein wenig von der 'Alten Sprache', wie sie es nannte. Angeblich hatten sie einst alle Völker gesprochen und sogar die Elben, bevor der große Bruch gekommen war. Nun war sie größtenteils vergessen, denn keine der beiden Rassen hatte sich an die gemeinsame Zeit zurück erinnern wollen. Doch es waren noch immer Bruchstücke davon geblieben in ihrer heutigen Sprache. Zufälligerweise trugen die beiden Freunde noch einen Namen in der Alten Sprache, wie sie ihnen erzählte. Yelin, das bedeutete Licht, Korell war die Dunkelheit und Enuya bedeutete angeblich Weisheit. Nach dieser überraschenden Erkenntnis dachte Yelin wieder ein wenig über sich und Korell nach.....damals, da mochte es durchaus gestimmt haben. Er war immer derjenige gewesen, der mit seinem Lachen alle Leute hatte anstecken können, voller Lebenslust und Freude. Korell jedoch war immer schon der schweigsamere von beiden, stiller und zurück gezogener. Nur all zu oft hatte man sie als Gegenstücke bezeichnet, die zusammen gesetzt perfekt ineinander griffen wie die Zähne eines Raubtiergebisses. Doch wenn dies alles stimmte, so war nun die Sonne verschwunden und spendete kein Licht mehr für ihn. Noch oft wurde in der Nacht von Albträumen gequält, in denen silbernes Blut, elfenbeinerne Krallen und grün glitzernde Schuppen eine entscheidende Rolle spielten und aus denen er meistens schweiß- und tränenüberströmt erwachte. Die Schuldgefühle fraßen sich immer weiter in sein Herz und seine Seele, so wie Säure sich durch festen Stein beißen konnte. Er musste die Enuya finden! Vielleicht waren sie ja auch diejenigen, die nicht nur ihn, sondern auch Korell wieder dabei helfen konnten, ihren inneren Frieden wenigstens ein bisschen wieder zu finden. Korell...sie versuchten es zwar nach Kräften, ihre Beziehung wieder mit neuem Leben zu füllen, doch die unsichtbare Mauer, die sich zwischen ihnen zu befinden schien, vermochten sie noch immer nicht einzureißen. Sie vertrauten sich, das hatten sie immer getan. Sie scherzten und sie kämpften miteinander, doch alles immer ohne die Nähe, die sie damals immer so fest verbunden hatte. Yelin fühlte sich, als versuche er verzweifelt, Wasser mit bloßen Händen zu halten und doch rann ihm alles durch die Finger. Er spürte, dass er am Ende nicht mehr viel behalten würde... Ihre Übungskämpfe wurden nun immer unterhaltsamer und anspruchsvoller, da es sich Thame natürlich nicht nehmen ließ, auch ein wenig mitzumachen. Erst setzten sie nicht ihre volle Kraft ein, weil sie dachten, die alte Frau schonen zu müssen, doch nach einem gebrochenen Finger bei Korell und jeder Menge tiefer und vor allem äußerst schmerzhafter Schnitte änderten sie ihre Meinung doch recht schnell. Von nun an fochten sie alle mit vollem Einsatz, lediglich darauf bedacht, die anderen nicht zu verletzen. Denn bei der Geschwindigkeit, mit der sie sich bewegten, konnte selbst die kleine Unachtsamkeit böse Folgen nach sich ziehen. Doch was ihn am meisten erstaunte, war, dass die alte Frau selbst ihm noch Tricks beibringen konnte, um seine Technik zu verfeinern. Dies bestärkte ihn weiter in der Ansicht, dass sie es hier wohl kaum mit einer normalen Sterblichen zu tun haben konnten... Doch immer, wenn er auf Themen dieser Art zu sprechen kam, verstand sie es erstaunlich gut, ihm entweder nicht zuzuhören oder schnell etwas anderes zur Sprache zu bringen. Die Wesen, denen sie während ihrer Durchquerung der Mamuraebene begegneten, waren hauptsächlich eher klein und harmlos. Das gefährlichste, was sie sahen, war ein weißer Pegasus. Diese waren bekanntlich ein wenig wilder als ihre schwarzen Artgenossen, die am liebsten einsam blieben. Doch er kam ihnen nicht sehr nahe und bald konnten sie ihn nur noch als kleinen Punkt am Horizont erkennen. Dagegen trafen sie umso mehr auf Elementargeister, was eigentlich Physales sehr freuen müsste. Aber immer, wenn eines dieser Wesen in ihrer Nähe auftauchte, versteckte er sich in der Kleidung von einem von ihnen, als würde er nicht bemerkt werden wollen. Seine seltsame kleine Gestalt zeigte sich auch immer dann erst wieder, wenn ihm die anderen versichert hatten, dass auch ja keiner seiner Artgenossen noch in der Nähe war. Yelin war nicht der einzige, der dies seltsam fand. Wenn sie den Kleinen jedoch darauf ansprachen, schien er plötzlich seine Zunge verschluckt zu haben. Lediglich in seinen Augen stand ein plötzlicher Ausdruck von Einsamkeit und Trauer, so dass sie schon sehr bald damit aufhörten, ihm mit Fragen zu Leibe rücken. Der ehemalige Prinz argwöhnte, dass sein kleiner Freund ihn nicht nur aus reinem Zufall ausgesucht hatte....Doch sie alle hier hatten Geheimnisse, als wären sie ein ständiger Begleiter ihrer kleinen Reisegruppe. Dabei waren diese Treffen für sie selbst immer sehr amüsant bis hin zu geheimnisvoll gewesen. Die Sylphiden spielten am liebsten in ihren Haaren herum, bis Thame genug davon hatte, dass sie ihr andauernd ihre Kapuze vom Kopf bliesen und dabei albern kicherten. Sie verjagte sie schließlich mit ihrem Schwert und ein paar Worten, die fast so scharf wie ihre Klinge waren. Von den kleinen Gúdos, denen sie begegneten, waren meist sowieso nur ein paar durchsichtige Flügel oder neugierige, große Augen zu sehen, die hinter kleinen Blättern hervor lugten. In einer Nacht waren wohl ein paar der kleinen Erdgeister ein wenig frecher geworden, denn als Yelin am nächsten Morgen aufwachte, stellte er zu seinem Erstaunen fest, dass irgendjemand in der Nacht ihren ganzen Vorrat an den Wurzeln gestohlen hatte, die Physales so gut schmeckten. Offenbar nicht nur ihm. Ansonsten blieben sie aber von weiteren "unliebsamen" Ereignissen wie Diebstählen oder ähnlichem verschont. Sie waren gute drei Wochen unterwegs, bis sie endlich am Fuße der großen Ausläufer der Namuren standen. In den letzten Wochen war der Sonnenschein zwar noch immer stark gewesen und es hatte kaum geregnet, aber die letzten paar Tage machte ihnen ein immer stärker und kälter werdender Wind zu schaffen, der von den Bergen zu kommen schien. Die Sonne würde bald nicht mehr die Kraft haben, die Erde so weit zu erwärmen, dass aus Eis Regen wurde. Mit einem unguten Gefühl stellte Yelin fest, dass sie sich nun besser an die Kälte gewöhnen sollten... Das Massiv der Namuren war wirklich riesig. Sie gehörten zu den höchsten Bergen dieser Welt und auf ihren Gipfeln lag selbst im Sommer immer Schnee, obwohl sie doch so weit im Süden waren. Sie bildeten nicht ohne Grund die Kette, an der die Elben ihre große Feste errichtet hatten, denn sie zu überschreiten war schwer. Thame jedoch meinte, dass sie einmal einen Reisenden getroffen habe, dem dies schon einmal gelungen war, und zwar genau an dieser Stelle. Er hatte gemeint, dass man, wenn man aufstieg, auf einen Taleinschnitt traf, der tief genug war, dass dort nur im Winter Schnee lag. Und selbst dies nicht so viel, als dass es unmöglich gewesen wäre, es zu durchqueren. Jedoch hatte der Abenteurer dringend davon abgeraten, dies zu versuchen. Mit der Kälte kam nämlich angeblich nicht nur der Schnee von den Berggipfeln herunter... Dennoch waren sie sich sicher, dass sie versuchen wollten, die großen Gipfel vor ihnen zu bezwingen. Und der Schnee...es blieb ihnen eben nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass er sich dieses Jahr noch lange genug in Zaum halten würde, damit sie es schafften, die Namuren trockenen Fußes zu überqueren. Am letzten Abend, bevor sie in die Berge aufstiegen, beschlossen sie, zu ihren Füßen noch einmal Rast zu machen und dabei alles bis auf den letzten Platz mit Vorräten aufzufüllen. Sie konnten nicht wissen, ob es weiter oben noch genug Nahrung gab, dass sie alle vier es bis auf die andere Seite schaffen würden. An diesem Abend herrschte eine ganz besondere Stimmung an dem kleinen Feuer, das sie entzündet hatten, um die klammen Finger der Kälte zu vertreiben, die sich um sie legen wollten. Sie wussten alle, dass es kein Zurück mehr gegeben würde, wären sie erst einmal mitten in dem großen Massiv, das jetzt noch vor ihnen aufragte. Denn waren sie erst einmal auf der anderen Seite, so war es bedeutend einfacher, mit zu den Enuya zu kommen, als diese Strapazen noch einmal auf sich zu nehmen. Yelin spürte, dass Korell besonders verschlossen war. Er konnte sich auch gut vorstellen warum...jeder Schritt, den sie jetzt machten, brachte sie näher an die Elbenfeste heran, dem Ursprung seines ganzen Schmerzes und der Grund, warum sie nun nicht mehr so zusammen fanden wie es einst der Fall gewesen war. Er mochte nicht einmal erahnen, was für ein Konflikt sich nun in seinem Inneren abspielte. Doch als der Mond schon lange am Himmel stand und er ihm in die blaugrauen Augen sah, da wusste er, wie er sich entschieden hatte. In stummer Dankbarkeit legte er ihm seine Hand auf sein Knie und lächelte leicht. Dass er sich für ihn entschieden hatte, nahm er ein wenig als ein Zeichen, dass sie sich auf dem richtigen Weg befanden. Aber er las auch in seinem Blick, dass er lange nicht der einzige Grund gewesen war, der ihn zu dieser Entscheidung bewogen hatte. Da war noch etwas anderes, etwas, das tief in ihm schlummerte und weitaus finsterer Natur war......Yelin verscheuchte diese Gedanken mit einem unwirschen Kopfschütteln. Unsinn! Sein Freund beherbergte keine "finstere Seite". Er sollte besser aufpassen, dass er nicht in jeder irgendwie seltsam gearteten Beobachtung den Beweis für eine zwingende Veränderung seines Wesens zu erkennen. Um sich weiter von diesem Thema abzulenken, wandte er sich Thame zu. Thame.....sie kam ihm immer seltsamer vor, je weiter sie zusammen reisten. Eine Aura wie von etwas sehr Geheimnisvollen schien die alte Frau zu umgeben, als wäre sie weit mehr, als sie ihnen bis dahin verraten hatte. Und manchmal kam es ihm auch so vor, als würde sie sie mit einem gewissen amüsierten Grinsen von oben beobachten....Ihre unheimlichen Fähigkeiten im Umgang mit Waffen konnten einfach nicht normal sein! Aber auch darüber hatte er sich jetzt weiß Gott genug Gedanken gemacht. Und Physales....nun, der Kleine war so lebendig wie eh und je. Er war zusammen mit Thame mit Sicherheit der Aktivste und Lebenslustige in ihrer Gruppe, ein Gegenpol zu ihnen, den sie nur allzu nötig hatten. Und ein manches Mal hatte er es auch schon geschafft, dass sie kurzfristig die Last vergaßen, die sie auf dem Herzen trugen. Aber auch Thame hatte hin und wieder Dinge von sich gegeben, die sie zu einem herzlichen Lachen brachten. Wieder wandte er seinen Blick nach vorne auf die Ebene, die nun hinter ihnen lag und sich jetzt noch einmal in ihrer ganzen Weite und Schönheit vor ihm ausbreitete. Auch fühlte er nun einen Hauch von Endgültigkeit, der über dem ganzen lag. Wenn er noch einmal wiederkommen sollte, so würde er ein neuer Mensch sein. Kehrte er nicht mehr zurück, so hatte der lange Marsch zu den Enuya wahrscheinlich seine Opfer gefordert... Er war fast überzeugt davon, dass sie es über die Berge schaffen würden. Das, was danach kam, machte ihm viel mehr Sorgen, denn dann würden sie mit intelligenteren Wesen zu kämpfen haben als mit dem Winter. Die Elben...er hoffte nur, dass sie einen ebensolchen Respekt vor den Enuya hatten, wie es alle anderen auch zu haben schienen. Und er betete dafür, dass diese keine ungebetenen Eindringlinge auf ihrem Gebiert duldeten. Wofür er nämlich auch nicht garantieren konnte, war Korells Verhalten, falls sie auf Elben stoßen sollten. Er befürchtete, dass ein solches Treffen für beide nicht besonders günstig verlaufen würde, wenn dann überhaupt noch jemand am Leben wäre. Nein, um Korells Willen wollte er nicht den Weg der Langohrigen kreuzen. Und auch er selbst wusste nicht, was er tun würde, wenn er noch einmal dem schwarzen Krieger mit den weißen Haaren begegnen sollte.....vielleicht würde ja auch er die große Macht in seinem Inneren nicht mehr zurück halten können. Seufzend sah er zu seinem Gefährten hinüber, von denen der kleinste schon wieder längst zu schlafen schien. Auch die anderen beiden sahen schon recht müde aus und ihm selbst fielen auch bald die Augen zu. Vielleicht sollten sie jetzt besser schlafen gehen, damit sie morgen kräftig genug waren für den Aufstieg, der ihnen bevorstand. Kapitel 7: Namuren ------------------ Der nächste Morgen verlief in klirrend kalter Stille, denn der Wind hatte aufgefrischt und trug nun schon den Geruch nach Schnee von den Gipfeln der Berge hinunter. Ohne viele Worte frühstückten sie und sogar Physales sagte kaum etwas, als sie sich gleich danach zum Aufbruch bereit machten. Schon gestern Abend hatten sie ihre Mäntel aus den Bündeln ausgepackt, die jeder von ihnen bei sich trug und nun waren sie dankbar dafür, nicht noch lange danach suchen zu müssen. Es war zwar noch nicht so kalt, dass sie gefroren hätten, aber wirklich warm war auch niemandem mehr, so dass sie ihre wärmenden Kleidungsstücke lieber jetzt als später überzogen. Dann machten sie sich endgültig auf den Weg, immer die Flanke des Berges hinauf, an dessen Fuß sie übernachtet hatten. Dieser stieg steil gen Himmel auf und sein Gipfel war mit Wolken bedeckt, so dass sie ihn von ihrem Standort aus nicht erkennen konnten. Aber schon nach ein paar Metern hatten sie auch nicht mehr die Kraft, auf solche Dinge zu achten, denn die Flanke schob sich immer steiler der niedrigen Wolkendecke entgegen. Bald wurde ihnen warm, obwohl der Wind nun immer kräftiger blies und sie aufpassen mussten, dass ihnen ihre Sachen nicht einfach so fortgeweht wurden. Auch Physales hatte es dadurch immer schwerer, ihnen voraus zu fliegen oder zu folgen, denn er wurde immer wieder fortgeblasen und sie mussten warten, bis er zu ihnen aufgeholte hatte. Schließlich wurde es Yelin und Korell zu viel. Abwechselnd gönnten sie dem kleinen Gúdo einen Platz unter ihrem Mantel oder ihrer Kapuze, so dass er sich von der anstrengenden Fliegerei erholen konnte. Und die paar Gramm mehr, die sie dadurch zu schleppen hatten, machten nun auch keinen Unterschied mehr. Schon bald war die Erinnerung an die Sonne in der Mamuraebene verblasst unter den grimmig sausenden Böen. Zur Mittagszeit blieben sie nicht einmal stehen, sondern aßen im Gehen und so schnell wie möglich, damit sie ihre klammen und eisigen Hände wieder unter ihren Umhängen verstecken und wärmen konnten. Noch war es einfach nur kalt, aber Yelin hatte das unbestimmte und schlimme Gefühl, dass der Schnee auch nicht mehr lange auf sich warten lassen würde...er betete nur, dass sie dann den größten Teil ihrer Überquerung hinter sich haben mochten. Das hieß, so lange Thame sie auch auf den richtigen Weg führte. Es war ihm schon die ganze Zeit über ein Rätsel gewesen, wie sie den richtigen Berg hatte ausmachen können, an dessen Seite der angebliche Übergang verlief. Selbst er hatte noch nie etwas davon gehört. Doch sie war, schon seit die Bergkette in ihre Sicht gekommen war, immer strikt auf diesen einen Gipfel zugegangen und hatte sich durch nichts von ihrer Behauptung, hier läge der Durchgang, abbringen lassen. Vorsichtshalber hatten Korell und Yelin danach geschwiegen, was ihre Zielsicherheit anging, denn es hätte ihnen sowieso nichts genützt. Entweder sie hatten Glück und Thame hatte richtig gelegen oder sie würden auf ewig in dieser Einöde in den Bergen herum irren müssen, bis sie auf das richtige Tal trafen. Doch sie war so felsenfest davon überzeugt gewesen, sich auf dem richtigen Weg zu befinden, dass sie ihr unmöglich hatten wiedersprechen können... Außerdem, so hatte sie gemeint, müssten sie wenigstens nach zwei Tagen wissen, ob sie richtig waren, denn so lange dauerte ihren Angaben nach der Aufstieg, bis man in das Tal sehen konnte. Yelin hatte schon in den ersten Stunden des frühen Nachmittags mehr als genug davon. Der eisige Wind schien ihm förmlich die Haut vom Gesicht schneiden zu wollen und auch um seine Gefährten stand es kaum besser. Es wunderte ihn, dass Thame überhaupt noch so gut mir ihnen mithielt....aber sie schien tatsächlich die einzige von ihnen zu sein, die noch einigermaßen gut in Form war. Am zweiten Tag wurde es noch schlimmer. Gegen Mittag brachten die Windstöße den ersten Schnee mit sich, der sich in fantastischer Geschwindigkeit auf die karge Landschaft legte, die nun mehr fast nur noch aus Felsen und vereinzelt ein paar verkrüppelten Sträuchern zu bestehen schien. Er überzog die rauen Felsen unter ihnen mit einer glitschigen Schicht, die einem das Gefühl gab, auf Öl oder Seife zu laufen. So liefen sie zu allem Übel noch alle paar Meter die Gefahr, auszurutschen und in die Tiefe zu stürzen. Und noch immer stiegen sie an, keinerlei Ende in Sicht. Schon nach den ersten Stunden liefen sie vollkommen automatisch, immer stur einen Fuß vor den anderen setzend und alle am Rande der Erschöpfung. Hätten sie nicht gewusst, dass diese Quälerei irgendwann ihr Ende haben würde, so hätten sie vermutlich schlicht und einfach aufgegeben. Zu dem dichten Schneetreiben kam jetzt auch noch der Nebel hinzu, der eine Sicht weiter als ein paar Schritte vollkommen unmöglich machte. Doch es war ohnehin sinnlos, sich umsehen zu wollen. Die Schneeflocken fielen nun so dicht aufeinander, dass sie schon nach etwa einer Stunde eine fast geschlossene Schneedecke bildeten, auf der das Laufen gefährlich wurde. Korell und Yelin wären ein paar Mal beinahe abgestürzt und bei Thame verhinderte nur der glückliche Zustand, dass Korell direkt hinter ihr ging und so beherzt zugreifen konnte, dass sie in dem Abgrund hinter ihnen verschwand. Doch Physales war derjenige von ihnen, dem die Kälte ohne Zweifel am meisten zu schaffen machte. Schon am letzten Abend war er zitternd zu Yelin unter seine Decke gekrochen, um nicht vollständig zu erstarren. Seine Flügel fühlten sich schlaff und kalt an, das kleine Gesicht war seltsam grau und eingefallen und er schien irgendwie ständig zu husten und zu niesen, mit tränenden Augen. Und nun getraute er sich nicht einmal mehr, seine Nase aus dem wärmenden Stoff von Yelins Mantel hindurch zu stecken. Er war ohne Zweifel kein Wesen das für eine solche Umgebung geschaffen war, geschweige denn hier leben konnte. Doch nicht nur er wünschte sich zur Zeit einen wahrhaft dicken Pelz oder zumindest etwas, womit man die grimmige Kälte noch ein wenig besser in Schach halten konnte als mit ihren zwar dicken, aber doch nicht wirklich gut isolierenden Mänteln. Der Kleine war bei weitem nicht der einzige, der das Gefühl hatte, alle Extremitäten seien ihm schon abgefroren. Mit blauen Lippen und vereisten Augenbrauen kämpften sich auch die anderen durch den immer tiefer werdenden Schnee. Am Abend waren sie alle so müde, dass sie nicht sehr lange Zeit mit der Suche nach einer Nische verbrachten, sondern sich gleich an dem erstbesten, halb geschützten Platz nieder fallen ließen. Dort fielen sie, trotz der Kälte, die sie bis auf die Knochen durchdrang, beinahe augenblicklich in tiefen Schlaf. Doch selbst in seinen Träumen war es Yelin, als würde die Kälte ihn bis hierher verfolgen. Er sah sich in einer einzigen, weißen Ebene. Mit einem Mal überkam ihn das plötzliche Gefühl, sie unbedingt durchqueren zu müssen, doch schon als er den ersten Schritt machte, sank er bis zur Hüfte ein. Der Schnee drang ihm in die Augen, durchfloss seinen Mund, seine Nase, gab ihm keine Möglichkeit zu entkommen und raubte ihm jegliche Wärme aus dem starren Körper bis er schließlich nur noch eine Statue aus Eis war. An diesem Punkt erwachte er mit einem plötzlichen Keuchen. Doch es schien, als hätte ein Teil des Traumes seinen Weg in die Wirklichkeit gefunden, denn er stellte tatsächlich fest, dass er nicht sehen, nichts hören und nichts riechen konnte. Der Schnee war Realität geworden! Und nun machte er sich mit Feuereifer daran, sein Blut wirklich in Eis zu verwandeln. Mit einem Schrei bewegte er sich endlich und durchbrach damit die Schneedecke, die sich während der Nacht auf ihn gelegt hatte, als wolle sie ihn in ihre kalte Umarmung nehmen und unbarmherzig das Leben aus seinem Leib pressen. Dennoch, nach dem ersten Schrecken stellte er fest, dass es durchaus auch einen Vorteil geboten hatte: Der kalte Schnee hatte ihn wie eine Isolierschicht vor der noch viel stärkeren Kälte gerettet, die ihn womöglich in einen Schlaf gezwungen hätte, aus dem er wahrscheinlich nicht mehr erwacht wäre...... Geweckt von seinen plötzlichen Bewegungen steckte nun auch Physales seinen kleinen Kopf unter Yelins Hemd hervor, nur um ihn dann zähneklappernd sofort wieder zurück zu ziehen. Beruhigend streichelte der ehemalige Prinz über die kleine Beule, die sich nun auf seiner Brust abzeichnete. Dann sah er sich erst einmal um. Schon im ersten Moment, als der Schnee von ihm herunter gefallen war, hatte er bemerkt, dass etwas komplett anders war als am gestrigen Tag. Und nun erkannte er auch sofort, was los war.....die Sonne schien. Der komplette Sturm schien abgezogen zu sein und hatte lediglich eine meterdicke Schneeschicht zurück gelassen, deren unberührte Oberfläche nun glänzte, als bestünde sie aus tausend kleiner Diamantsplitter. Fast fühlte er sich wie ein Eindringling. Schnee. Schnee und blauer Himmel, so weit sein Auge reichte. Und jetzt war er auch zum ersten Mal wirklich im Stande dazu, das Panorama zu genießen, dass sich seinen erstaunten Augen bot. Er sah die gesamten Namuren, die sich als verwaschene Linie immer weiter zu seiner rechten Seite hin erstreckten und die Mamuraebene begrenzten, die sich nun noch einmal in voller Pracht vor ihm erstreckte. Dort unten war nur wenig von dem weißen Nass gefallen, wie er erkennen konnte. Weiter hinten erkannte er sogar noch schemenhaft die Hügelebenen, in denen sie Thame kennen gelernt und den Palyn angetroffen hatten. Nur den Osaki konnte er nicht sehen. Doch er musste irgendwo zwischen den letzten Ausläufern der Namuren und den Hügeln liegen, die dort anfingen. Ein dumpfes Geräusch neben ihm riss ihn von dem bezaubernden Anblick los. Er sah, wie sich mehrere Hände neben ihm aus dem Schnee kämpften, deren Besitzer genau so wie er realisiert haben mussten, dass sie über Nacht eingeschneit worden waren. Doch schon nach wenigen Sekunden kamen ihre dazugehörigen Gesichter zum Vorschein und zeigten dasselbe Erstaunen beim Anblick der Sonne wie es sich auch auf Yelins abgemalt haben musste, als er das Wetter realisierte. In Korells Augenbrauen hingen noch vereinzelte Schneeflocken, die er mit einem ärgerlichen Laut beiseite wischte, als er der herrlichen Landschaft vor ihnen gewahr wurde und sie mit weit aufgerissenen Augen betrachtete. Yelin gab ihm genügend Zeit, um den Anblick in seiner ganzen Schönheit und Weite angemessen in sich aufzunehmen, dann bedeutete er ihm mit einem leichten Schulterklopfen, sich nach den Vorräten umzusehen, die er irgendwo gelagert haben musste. Nun ja, vermutlich hatten sie inzwischen Tiefkühlkost, wenn sie hier irgendwo vergraben zu finden war.... Auch Korell machte ein ziemlich ratloses Gesicht, als ihm das Problem bewusst wurde. Fast gleichzeitig sprangen die beiden auf und durchwühlten jeden Haufen, der so aussah, als könnten darunter ihre Sachen sein, zusammen mit ihrem gesamten Proviant. Zum Glück fanden sie auch nach relativ kurzer Zeit ihre Vorräte und genehmigten sich ein kleines Frühstück, für das sogar Physales sein kleines Köpfchen aus Yelins Kleidung steckte und ein wenig die klare Luft schnupperte, die sich nun ausbreitete. Und immerhin war es sogar noch genießbar, auch wenn sie sich an dem Fleisch fast die Zähne ausbissen. Die Luft war schien ihnen so sauber und frisch zu sein wie schon lange nicht mehr. Der Schneesturm am vergangenen Abend musste auf sie wie eine Vollreinigung gewirkt haben, denn so klar hatten sie diese nur selten erlebt. Gestärkt von dem kleinen Essen rappelten sie sich endgültig auf und klopften sich erst einmal sorgsam den Schnee aus der Kleidung, bevor sie dazu übergingen, sich wieder mit ihrem Gepäck zu beladen. Physales verschwand erneut irgendwo in den vielen Stoffschichten, in die Yelin gehüllt war. Mit kleinen Wölkchen vor ihrem Gesicht, die von ihrem Atem gebildet wurden, machten sie sich weiter an den Anstieg, der, wenn man Thame Glauben schenken wollte, nicht mehr allzu lange dauern konnte. Und tatsächlich: nach nur eine Stunde sahen sie, dass der Hang lange nicht mehr so glatt weiter vor ihnen aufstieg. Stattdessen war etwas höher und weiter links gelegen, eine Art Einschnitt zu sehen, der die beiden Gipfel über ihnen trennte. Yelin fragte sich vergeblich, warum er ihnen nicht schon früher aufgefallen war....doch dann fiel ihm ein, dass es ja Dutzende von diesen geben musste. Nun konnten sie also nur hoffen, dass dies auch der Richtige war. Doch aus irgendeinem Grund war es ihm, als könne er Thame vertrauen...nun ja, spätestens wenn sie ein paar Tage durch das Gebirge gewandert waren, würden sie ja sehen, ob sein Vertrauen berechtigt gewesen war. Auch die Gesichter der anderen erhellten sich, als sie den Einschnitt bemerkten und schon fast automatisch beschleunigten sie ihre Schritte. Nach einer weiteren guten Stunde kamen sie fast außer Atem an und konnten nun endlich über die Kante sehen. Wieder eröffnete sich ihnen ein Ausblick, der ihnen fast den Atem stocken ließ. Zum zweiten Mal sahen sie über eine weite Landschaft hinweg, die dieses Mal aber nicht von der Weite der Mamura bestimmt wurde sondern von dem glänzenden Weiß frischgefallenen Schnees, das vereinzelt von zerklüfteten Felsen durchbrochen wurde, die in hartem Grau erstrahlten. Doch das, was mit Sicherheit am atemberaubendsten und erstaunlichsten war, war bestimmte das Tal, das sich vor ihnen ausbreitete: Von der Kante, wo sie standen, fiel es recht steil ab, um sich dann immer weiter abzuflachen und breiter zu werden. Der Fluss, der es geschnitten hatte, entstand augenscheinlich an der Rückseite des Berges, dessen Flanke sie gerade erklommen hatten. Zuerst nur aus mehreren kleinen Strömchen bestehend, schlängelte er sich immer weiter zwischen den einzelnen Gipfeln hindurch und wurde schlussendlich breiter und breiter, bis er schließlich ein sanftes, u-förimges Tal bildete. Fast alles war von einer frischen Schneeschicht durchzogen, die allem einen strahlenden Glanz gab, der sie geblendet die Augen zusammen kneifen ließ. Aber darüber hinaus bereitete Yelin eines noch große Sorgen: Der Abgang in das Tal hinunter war wirklich recht steil. Zum Glück lief er nach unten hin etwas flacher aus. Aber nichtsdestotrotz würde der Abstieg zu einer gefährlichen Schlitterpartie werden - schon alleine deswegen, weil der Schnee alles gefährlich glatt und abschüssig machte, einer riesengroßen Rutschbahn vergleichbar. Als er zur Seite blickte, erkannte er, dass es den anderen ähnlich ging. Vor allem Thame schien nicht allzu begeistert davon zu sein, diesen Hang unbedingt hinunter zu müssen. Doch ihre Schilderung, dass hinter den letzten Spitzen, die zu sehen war, das Gebirge bereits wieder zu Ende sein musste, spornte sie alle an. Keiner von ihnen hatte große Lust, noch lange hier in der eisigen Wüste zu verweilen, war sie auch noch so malerisch und wunderschön. Fast im selben Moment setzten sie ihre Füße auf die rutschige Kante, die sie noch von dem steilen Abhang trennte. Yelin seufzte leise. Jetzt würden sich seine ohnehin spärlich ausgebildeten Schneeläufer-Fähigkeiten beweisen müssen. Die ersten paar Meter ging es auch noch halbwegs gut, aber dann stolperte er über einen besonders großen Felsbrocken, den er unter all dem Schnee nicht hatte ausmachen können und strauchelte. Die weiße Masse unter seinen Füßen gab nach und er verlor endgültig das Gleichgewicht und schlitterte haltlos hin und her kugelnd dem Fluss entgegen. Das Weiß verklebt ihm Mund und Augen, seine Haut wurde von harten Eiskristallen aufgeschürft, die wie Schmirgelpapier wirkten. Die Welt schien sich in alle möglichen und unmöglichen Richtungen zu drehen. Nur mit Mühe konnte er noch sein Schwert festhalten, damit es ihm nicht auch noch entglitt. Immer schneller und schneller sauste er nach unten, begleitet von einer größer und größer werdenden Wolke aus Eissplittern und Schneemassen, die hinter ihm zu Tale rollte. Verzweifelt versuchte er, sich irgendwo festzukrallen, doch er war schon zu schnell. Das einzige, was er erreichte, waren abgeschmirgelte Fingerkuppen. Jetzt konnte er nur noch hoffen, dass sich nicht zufällig ein Felsen in seiner Sturzbahn befand... Endlich schien sich sein rasender Sturz ein wenig zu verlangsamen, als das Tal flacher wurde. Doch noch immer war seine Geschwindigkeit so groß, dass er erst viele Meter weiter zum Stillstand kam. Schweratmend und mit geschlossenen Augen blieb er liegen und horchte erst einmal in sich hinein, ob noch wenigstens halbwegs alles in Ordnung war. Außer diversen Prellungen, Hautabschürfungen und dem Gefühl, durch eine Mühle gedreht worden zu sein, war tatsächlich alles mehr oder weniger intakt. Er dankte welchen Göttern auch immer dafür, dass er ohne ernsthafte Schäden davon gekommen war. Das letzte, was sie jetzt gebraucht hätten, wäre ein gebrochener Knochen oder etwas ähnlich Schlimmes gewesen. A propos ernsthafte Schäden...siedendheiß fiel ihm ein, dass ja noch jemand anders diesen Sturz mitgemacht hatte. Hastig griff er zwischen seinen Mantel und suchte nach irgendeinem Zeichen des kleinen Gúdo. "Physales?" fragte er leise und hoffte, dieser noch da war und ebenfalls so glimpflich davon gekommen war wie er selbst. Oh bitte, bitte..... Endlich spürte er etwas warmes, weiches unter seinen Fingern und zog hastig den kleinen Erdgeist hervor. Zumindest äußerlich konnte er keine Verletzungen erkennen. Außer seinen Flügeln, die sehr zerknittert und abgeknickt waren, sah er noch relativ gesund aus. Doch seine Augen blieben geschlossen....sein Herz verkrampfte sich, als Yelin hastig zur Seite in den Schnee griff und ein bisschen davon aufraffte. Dann legte er den Kleinen zärtlich auf seine ausgestreckte Handfläche und träufelte ihm ein wenig von dem eisigen Nass auf seine Stirn, in der Hoffung, ihn dadurch aufwecken zu können. Und tatsächlich: nach wenigen Sekunden bewegte sich Physales ein wenig und öffnete langsam die Augen, als wäre er eben aus einem tiefen Schlaf aufgewacht. "Yelin?" murmelte er leise. "Ich dachte, ich hätte eben irgendetwas Seltsames geträumt.....alles bewegte sich und rüttelte und schüttelte.....irgendwie bin ich mit dem Kopf gegen etwas Hartes gekommen und dann wurde alles auf einmal schwarz. Was ist den passiert?" Langsam und ungelenkt richtete er sich auf und schlang sofort die Arme und seinen winzigen Körper, als er der Kälte gewahr wurde, die hier herrschte. Noch immer voller Erleichterung, dass es ihm gut ging, erklärte Yelin ihm, was geschehen war. Prompt sah Physales sich um, den Abhang hinauf, auf dem er noch immer zwei schwarze Punkte erkennen konnte, die schnell näher kamen und dabei Unverständliches riefen. Auch Yelin hatte sie inzwischen bemerkt und winkte mit einem Arm, um ihnen verständlich zu machen, dass er unverletzt war. Physales fror immer mehr, so dass er sich schließlich wieder in den Kleidern vergrub, nicht ohne allerdings vorher noch einmal betont zu haben, dass es ihm auch wirklich gut ging. Sein Freund hingegen versuchte langsam, sich aufzurichten. Dies gelang ihm auch zwar mehr schlecht als recht, doch immerhin stand er. Und sein von dem Sturz malträtierter Körper schien nun wirklich an sämtlichen Stellen zu schmerzen....doch davon abgesehen konnte er sogar laufen. Die Schmerzen würden vorbei gehen, das wusste er. Dafür war er schon zu oft gestürzt oder vom Pferd gefallen, als dass er sich davon wirklich behindern ließ. Nachdem er die ersten paar Schritte erfolgreich absolviert hatte, überprüfte er schnell, ob auch alle seine Sachen noch vorhanden und mehr oder weniger unbeschädigt waren. Als er diese Musterung zu seiner Zufriedenheit erfüllt hatte, waren Thame und Korell auch schon bei ihm angekommen. Die echte und tiefe Besorgnis, die er in ihren Augen erkennen konnte, rührte ihn und er beeilte sich, ihnen zu versichern, dass es Physales und ihm gut ging und sie alles so gut wie unbeschadet überstanden hatten. Immer noch mit fürsorglichen Blicken von der Seite her beschützt, gingen sie endlich weiter. Yelin war gar nicht weit vom Flussufer zum Stehen gekommen und nun nutzten sie diese Gelegenheit gleich dazu, ihre etwas karg gewordenen Wasservorräte mit dem klaren, sauberen Bergwasser wieder aufzufüllen. Dann machten sie sich endgültig auf den Weg, immer weiter dem Flusslauf abwärts folgend. Sie liefen den gesamten restlichen Tag ohne jedoch etwas anderes zu erblicken als immer nur das eintönige Gemisch aus weißem Schnee, grauem Fels und blauem Himmel. Daneben regte sich nichts, so dass ihnen die Augen nach einer Weile von dem ewigen Weiß zu schmerzen anfingen und sie nach irgendeinem Blickfang suchten, der ihnen vielleicht ein wenig Ablenkung gewähren mochte. Doch es war nichts zu finden, was diese Strenge hätte durchbrechen können. Wieder nahmen sie ihr Mittagessen im Laufen ein, um so wenig Zeit wie möglich weiter an diesem Ort verbringen zu müssen. Nach Thames Erzählung und der Berücksichtigung, dass sie jetzt wesentlich schneller waren als an den Tagen zuvor, als sie aufgestiegen waren, dürften sie in etwa drei bis vier Tagen die andere Seite dieses Ausläufers der Namuren erreicht haben. Dieser Erkenntnis spornte sie nur noch zu mehr Eile an, denn alle hatten das Gefühl, hier richtig zu sein. Der Fluss musste ja irgendwo hinfließen, er konnte nicht einfach so aufhören....das gab ihnen die Hoffnung, die Berge bald hinter sich lassen zu können. Denn obwohl es niemand von ihnen ernsthaft zugab, klang ihnen immer noch die Warnung des Abenteurers, von dem Thame erzählt hatte, in den Ohren. Bei Schnee kommen noch andere Dinge von den Bergen hinunter... Dies erfüllte alle mit einem gewissen Gefühl des Unwohlseins, so dass sie lieber heute als morgen diese unheimliche Gegend verlassen wollten. Über diesen Überlegungen verging der Tag und ein rotgoldener Schimmer am Himmel kündigte den Abend an. Sie hatten schon eine recht gute Strecke geschafft und waren vor kurzem auf einen weiteren Zufluss dieses Fluss gestoßen, der direkt aus den Bergen links von ihnen zu kommen schien. Glücklicherweise war er nicht besonders breit und auch recht flach, so dass sie ihn, von Stein zu Stein hüpfend, leicht überqueren konnten. Als sich der goldene Horizont langsam tiefrot zu verfärben begann, horchte Korell mit einem Mal auf. "Was ist los?" fragte Yelin ihn mit einem leichten Stirnrunzeln. "Schhhhh..." winkte sein Freund ab. "Ich höre etwas....es klingt wie ein leises Rascheln, so etwas wie ein unterschwelliges Raunen im Wind. Ich glaube, jemand kommt. Hörst du denn nichts?" Yelin schüttelte den Kopf und strengte sich noch einmal stärker an, um zu hören, wonach Korell so intensiv lauschte. Dann bemerkte auch er es: es war wie ein leises Knistern, vermischt mit einem Geräusch, was man am ehesten mit einer Zusammensetzung aus Schritten und dem Tapsen von weichen Pfoten beschreiben konnte. Gleichzeitig machte sich auch etwas vor seinen Augen bemerkbar: ein leises Leuchten in der Luft, wie er es schon um Physales oder Norai hatte beobachten können, seit er bei dem Drachen und der alten Yonami gewesen war. Die Dunkelheit warf immer tiefere Schatten, so dass er am Anfang nicht sehen konnte, was sich ihnen da so verstohlen nährte. Aber irgendwie erfüllte es ihnen mit einem starken Gefühl des Unwohlseins.....es war, als läuteten tausend Alarmglocken in seinem Kopf, die jedoch alle stumm waren. In einer unbewussten Geste legte er die Hand auf sein Schwert und zog es halb. Norai schien fast ein wenig zu vibrieren, als er den kalten Stahl geräuschlos durch seine Finger gleiten ließ. Auch Korell tastete nach den Windungen seines Bogens und einem Pfeil. Und Thame streckte ebenfalls ihre alten Hände nach dem Griff ihrer Waffe aus, zog sie jedoch noch nicht. So standen sie da, jede kleinste Faser ihres Körpers in einer fast unerträglichen Spannung, bereit, sofort loszuschlagen, sollte es wieder eines jener magischen Wesen sein, das ihnen gefährlich werden konnte. Endlich war er/sie/es nahe genug, um erkannt zu werden. Im gleichen Moment, in dem sich die Gestalt ihnen nährte, kniff Yelin geblendet die Augen zusammen. Sie erstrahlte in einem unerträglich hellen Licht, einem Licht, dass die tausendfache Verstärkung zu sein schien von dem, was er vorhin schon aus den Augenwinkeln hatte beobachten können. Als er endlich wieder ein wenig klarer sah, war er sich im ersten Moment nicht sicher, ob er jetzt schlicht und einfach den Verstand verloren hatte. Vor ihnen stand eine Frau. Sie war in ein einfaches, weißes Gewand gekleidet, dass sie von ihren Schultern bis auf den Boden erstreckte und somit ihre Füße verdeckte. Darüber lag ein dichter, ebenfalls weißer Mantel, der aussah, als wäre er aus den Pelzen von Schneehasen gefertigt worden. In dieser Kleidung hätte sie eigentlich schon längst tot sein müssen. Als wolle sie diese These noch unterstützen, war auch ihre Haut weiß und blass, so wie frischgefallener Schnee. Und auch ihre Lippen ließen sich von der Farbe her kaum von ihrem restlichen Gesicht unterscheiden. Das einzige, was regelrecht aus ihrer Erscheinung herausstarrte, waren die geschwungenen Augenbrauen und ihre langen, schwarzen Haare und die ungewöhnlich dunklen, auch fast schwarzen Augen, die aussahen wie zwei in der Dunkelheit glühende Kohlestückchen. Alles in allem war sie wie eine jener perfekten, exotischen Schönheiten, wie sie sich die meisten jungen Männer in ihren Träumen vorstellten. Vielleicht sogar ein wenig zu überirdisch und perfekt.... Denn je länger Yelin sie anstarrte, desto seltsamer kam sie ihm vor. Er hatte das Gefühl, dass irgendetwas an ihr falsch war, als trüge ihn der wunderschöne Schein vor seinen Augen. Als wäre dieser Gedanke so etwas wie ein Signal gewesen, begann sie, sich zu verändern. Nicht etwa großartig, aber schon sehr bald erkannte er, dass das Flimmern, das er beobachtete, von der Gestalt ausging, ja, dass sie sogar selbst aus diesem Glanz gemacht zu sein schien. Hinter dieser Fassade aus Licht lauerte jedoch etwas anderes, etwas, das fiel boshafter war, als es die Erscheinung erahnen ließ. Er hatte den Eindruck von einer langen, spitzen Schnauze, aus der zwei große Fangzähne ragten, schweren, krallenbewehrten Pfoten, und einem geschmeidigen Körper. Dieser schien ihm weiß, mit schwarzen Flecken zu sein, die sich bei genauerem Hinsehen aber andauernd zerflossen und in neuen Formen wieder zusammen fügten. Nur die Augen waren dieselben, bloß dass er nun eine bösartigen Ausdruck, ein Schimmern einer uralten, hungrigen Intelligenz in ihnen beobachten konnte. Mehr und mehr wunderte er sich, wie er zuvor auf diese Täuschung hatte hereinfallen können. Das, was da vor ihnen stand, war alles andere als eine Frau. Es benutzte ihr Bild nur, um sie zu täuschen und war in Wahrheit etwas anderes, hundertmal schlimmeres und gefährlicheres. Mit einem Schrei zog er Norai vollends und wollte sich auf das Wesen vor ihm stürzen. Doch schon nach dem ersten Schritt fiel ihm jemand in den Arm und hielt so seinen Schlag auf, den er gerade hatte ausführen wollen. Es war Korell. Er sah ihn mit einem ungläubigen Blick und fragte ihn: "Yelin, was machts du da? Du kannst doch nicht einfach so eine Frau angreifen, die hier mitten vor uns auftaucht! Du hast ja nicht einmal eine Ahnung wer sie ist oder was sie von uns will!" Yelin starrte ihn ungläubig an. Sah er es denn nicht?! Konnte sein Freund denn etwas nicht erkennen, was für ein schreckliches, hungriges Wesen hier vor ihnen stand? Dabei war es doch mehr als offensichtlich....jetzt, wo er sie wieder ansah, erschien sie ihm nicht einmal mehr im entferntesten auch nur irgendwie menschlich. Mit einem wütenden Keuchen machte er sich von Korell los, der offensichtlich nicht mit einer solch heftigen Bewegung gerechnet hatte und rücklings in den Schnee fiel. Dann schwang er seine Klinge, um das schreckliche Trugbild endgültig zu zerschlagen. Doch obwohl er genau wusste, dass er richtig gezielt hatte, durchschnitt Norai nur leere Luft. Die Gestalt hatte sich in einem plötzlichen Nebel aufgelöst und war nun hinter ihm wieder aufgetaucht und setzte nun ihrerseits zu einem Angriff an. Um Haaresbreite entkam Yelin den zupackenden Krallen/Fingern der Kreatur und stürzte zur Seite, wo er sich plötzlich umdrehte, um so einen Treffer anzubringen. Doch wieder war die seltsame Erscheinung weitaus schneller als er, hatte sich im Nebel verflüchtigt und war nun auf einmal nahe bei Korell aufgetaucht, der sich soeben wieder aufgerappelt hatte und mit ungläubigem Blick den seltsamen Kampf beobachtete, der sich vor seinen Augen abspielte. Für ihn ging Yelin einfach auf jemanden los, den er schon allzu lange nicht mehr gesehen hatte...der aber noch immer in seinem Herzen wohnte und es bluten ließ. Was tat er da?! Schützend stellte er sich vor sie, als sein Freund mit einem Mal wieder heran geeilt kam und erneut zu einem Schlag gegen sie ausholen wollte. Hilfesuchend sah er zu Thame, konnte sie aber nirgendwo sehen. Fast in Gedankenschnelle ließ er also seinen Bogen fallen und zog sein Schwert, das er ebenfalls immer bei sich trug. Auch Yelins Augen weiteten sich ungläubig, als er begriff, was Korell da tat. Er beschützte sie! Er wandte sich gegen ihn, nur um ein Wesen zu schützen, das nicht einmal ein Mensch war. Für ihn war es schlichtweg unbegreiflich, wie man sich so stark irren konnte. Doch bevor er den Irrtum beseitigen konnte, sauste Korells Klinge schon auf ihn herab. Mit einem knappen Satz brachte er sich in Sicherheit und konterte seinerseits mit einer blitzschnellen Abfolge von Bewegungen, für das bloße Auge kaum sichtbar. Allerdings achtete er noch immer darauf, Korell nicht zu verletzen. Das wäre das Letzte, was er tun konnte. Doch sein Freund schien nicht dieselben Skrupel zu haben: er kämpfte verbissen und mit all seiner Kraft und Kunst, die er aufbringen konnte. Mit gnadenloser Wildheit in den Augen zeigte er, was er während ihrer Trennung gelernt hatte - Yelin bereitete es zunehmend Mühe, so zu kämpfen, dass er seinen Freund nicht gefährdete. Fast hatte er den Eindruck, dass dieser nicht mehr Herr seiner selbst war.... Doch schließlich kam es, wie es kommen musste: Die Rücksichtslosigkeit von Korell gab letztendlich den Ausschlag. Sein Schwert deutete einen gerade Stoß nach vorne an, bezog die Ausweichbewegung seines Gegenübers mit ein, setzte ihm mit einem kleinen Schlenker nach und schaffte es so, die Spitze in seinen linken Oberarm zu bohren. Sie durchdrang mit Leichtigkeit die verschiedenen Stoffschichten und stach tief in seine Haut. Yelin stolperte ein paar Schritte zurück und starrte dann aus schreckerfüllten Augen auf seine Wunde und die blutige Klinge in Korells Hand. Dieser stand schweratmend da, noch immer mit diesem unbestimmten, wilden Feuer in den Augen, das ihm so angst machte. Selbst Thame war wieder da und sah wie erstarrt auf die beiden Konkurrenten, von denen der eine verzweifelt und der andere von einer rasenden Hoffnungslosigkeit ergriffen dastand. Doch es gab jemanden, der sich bewegte: Das Wesen, das Korell zu schützen versucht hatte, war nicht mehr da. Stattdessen materialisierte es sich vor dem Verletzten. Mit schreckgeweitetem Blick sahen alle, dass es damit begann, das Blut aus seiner Wunde aufzusaugen. Yelin wollte sich verzweifelt wehren, doch in dem Moment, wie ihre Lippen seinen Arm berührten, wurde er unglaublich schwach und taumelte. Jede Kraft schien aus seinem Körper zu schwinden und Kälte bereitete sich immer schneller in ihm aus. Er sank in die Knie und versuchte mit immer schwächer werdenden Bewegungen, die Bestie von sich wegzustoßen. Doch ihre Kraft schien in demselben Maße zuzunehmen, wie die seine schwand. Kaum hatten die ersten Tropfen seines Blutes den Weg in ihren Mund gefunden, verschwand auch die Illusion der Frauengestalt und sie zeigte sich in ihrer ganzen schrecklichen Schönheit. Korell war wie erstarrt, als er auf einmal bemerkte, wen er da eigentlich gerade beschützt hatte. Konnte das wirklich sein? Hatte er nicht gerade...er schüttelte den Kopf, versucht, das Schreckensbild zu vertreiben, das sich ihm bot, doch es nützte nichts. Sie war verschwunden; er sah nur noch diese grausame Bestie, die gerade eben das Leben aus seinem Freund aussaugte. Doch den Bruchteil einer Sekunde blickte sie auf einmal zu ihm auf. Der Anblick der böse glitzernden schwarzen Augen riss ihn endgültig aus der Erstarrung und mit einem Schrei hob er wieder die blutbedeckte Klinge und drang dieses Mal auf seinen wahren Gegner ein: das bestialische Wesen, dass sich soeben die gesamte Kraft seines Freundes einverleiben wollte. Wieder kämpfte er mit jener kompromisslosen Härte, die er vorhin schon angewandt hatte. Dieses Mal jedoch kam er nicht soweit, sein Schwert erneut mit Blut zu besudeln: schon nach den ersten paar Schlägen löste die Gestalt sich wieder in wirbelnden Nebel auf, der sofort zerfloss. Mit fliegendem Atem blickt Korell sich um, doch außer Thame, die erst jetzt herbeeilte, konnte er kein anderes Lebewesen erkennen. Und sein Gefühl sagte ihm, dass sie auch nicht wiederkommen würde... Doch nun war ihm Yelin weitaus wichtiger als die Frage, wohin sie verschwunden sein mochte. Besorgt wandte er sich seinem Freund zu. Dieser sah bleich aus und atmete flach, aber regelmäßig. Die Wunde in seinem Arm hatte schon aufgehört zu bluten, aber Korell verschwendete jetzt keinerlei Gedanken an diesen seltsamen Umstand, sondern berührte ihn sanft an seinem unverletzten Arm. "Yelin?" fragte er leise. Nach einem kurzen, unendlich lang scheinenden Moment sah dieser zu ihm auf und blickte in ein besorgtes, trauriges Gesicht. Er fühlte sich noch immer sehr schwach, doch er merkte, wie langsam wieder Kraft durch seine Adern strömte und die Wunde an seinem Arm zu heilen begann. Und als er in das Gesicht seines Freundes blickte, erkannte er, dass Korell wieder er selbst war. Der gleiche, melancholische, besorgte Korell, wie er ihn schon seit Anbeginn dieser Reise zum Gefährten hatte. Mittlerweile war auch Thame gekommen und beugte sich mit einem rührenden Ausdruck in den Augen über ihn. Darum beeilte er sich schließlich zu versichern, dass es ihm schon wieder halbwegs gut ging. Nach den Blicken in ihren Augen zu urteilen, glaubten die beiden ihm das jedoch nicht wirklich. Schließlich griffen sie ihm aber beide gleichzeitig unter die Arme und halfen ihm auf. Yelin hatte erst gedacht, er wäre schon längst wieder kräftig genug zum Laufen, aber ein kurzer Moment des Schwankens belehrte ihn rasch eines besseren. Er war noch immer so schwach, dass er wohl schon nach ein paar Metern zusammen gebrochen wäre, hätten ihn seine Freunde nicht gestützt. So entschieden sie, dass es wohl weitaus klüger war, gleich hier ihr Nachtlager aufzuschlagen und nicht noch ein wenig weiter zu gehen. Die kurze Strecke, die sie heute noch geschafft hätten, erforderte dafür ein viel zu großes Opfer. Sie ließen sich kurzerhand auf ihren ausgebreiteten Decken nieder und begannen damit, ihre Abendessen zu verspeisen. Noch immer mied Korell seinen Blick ein wenig, denn er machte sich schreckliche Vorwürfe wegen dem, was geschehen war. Aber für einen Moment hatte er wirklich geglaubt... Nach diesem anstrengenden und nervenraubenden Tag waren sie schließlich am Abend alle zu müde, um noch lange zu reden. Physales war der einzige, der noch ein kleines Gespräch anfangen wollte, denn da er nichts von dem bemerkt hatte, was geschehen war, erzählten sie ihm noch einmal schnell alles. Danach schien auch er zu nachdenklich, um noch großartig reden zu wollen. Stattdessen legten sie sich nach dem kurzen Abendessen relativ schnell schlafen, um für den morgigen Tag ausgeruht zu sein. Als Yelin am nächsten Morgen erwachte, fühlte er schon im ersten Moment, als er die Augen aufschlug, dass seine Kraft fast vollends wieder zurück gekehrt war. Rasch verscheuchte er die Gedanken, die sich ihm aufdrängen wollten als ihm bewusst wurde, wem er das zu verdanken hatte... Gestern war er noch zu müde und verwirrt dazu gewesen, doch nun fragte er sich, warum nur er das Trugbild dieses seltsamen Wesens hatte enttarnen können....und überhaupt, was war das eigentlich gewesen, was sie so sehr an der Nase herum geführt hatte? Nach dem Frühstück machten sie sich daran, weiter zu reisen. Die Frage beschäftigte Yelin und so stellte er sie schließlich laut. Ausnahmsweise war es dieses Mal Physales, der wieder seinen Kopf aus Yelins Mantel steckte und ihnen eine Antwort gab. "Nach dem, was ihr mir erzählt habt, war es einer der sogenannten "Weißen Dämonen". Als die Welt noch jünger war, gab es angeblich sehr viele von ihnen, doch mit der Zeit sind sie immer weniger geworden. Keiner weiß genau, warum das so ist; manche behaupten, sie hätten sich selbst getötet und ihre Artgenossen. Aber es ist Tatsache, dass es heute höchstens nur noch ein oder zwei von ihnen gibt. Der Weiße Dämon hat die Fähigkeit, ein Trugbild hervorzurufen, das seine wahre Gestalt verbirgt und seine Opfer verwirrt. Angeblich erscheint er immer als eine weibliche menschliche Gestalt. Kann er in den Köpfen seiner Opfer die Vorstellung von einer idealen weiblichen Figur finden, so nimmt er ihre Gestalt an. Wenn nicht, dann wird er zu einer sehr blassen, weißen Frau mit langen schwarzen Haaren, die sehr verführerisch aussieht. Klar ist, dass er eine recht hohe Intelligenz besitzt. Das würde auch erklären, warum er euch drei nicht sofort angegriffen hat sondern erst warten wollte, bis ihr beide ihm die Arbeit abgenommen hättet. Aber als er Yelins Blut gesehen hat, da konnte er wohl nicht mehr widerstehen. Weiße Dämonen nehmen ihren Opfern das Leben, indem sie ihn erst seiner ganzen Kraft berauben und dann schlussendlich auch seiner Lebensenergie. Sie bevorzugen menschliche, elbische oder andere Opfer, die höher entwickelt sind und eine Intelligenz aufweisen. Trotzdem können sie sehr lange überleben, wenn sie kein Essen bekommen. Ansonsten sind sie praktisch unsterblich..." Langsam aber sicher hatte Yelin das Gefühl, magische Wesen regelrecht anzuziehen. Der Drache, Yonami, der Palyn, der Weiße Dämon....und natürlich nicht zu vergessen Physales, der ja behauptet hatte, dass er "interessant" wäre. Woran konnte es nur liegen, dass auf einmal so viel Magie um ihn herum herrschte...die wahrscheinlichste aller Möglichkeiten war bestimmt, dass all dies etwas mit dem Erbe der Drachen zu tun hatte, das er in sich trug. Die Offenbarung der Gestalt ließ sich ihn insgeheim fragen, wie sie für Thame ausgesehen hatte. Auch eine blasse, schwarzhaarige Frau, wie bei ihm? Und bei Korell? Er sah zu seinem Freund hinüber und merkte, wie sich seine Augen ein weiteres Mal schmerzvoll verdüsterten. Das, was er gesehen hatte, musste irgendetwas in ihm aufgewühlt haben, das ihm nun mehr als große Trauer bereitete. "Aber eines wundert mich..." meinte er nun langsam. "Woher wusste Yelin denn, dass dieses Wesen nur ein Trugbild erschaffen hatte? Also für mich sah das vollkommen echt aus..." Mit einem leichten Stirnrunzeln sah Yelin auf. Vollkommen normal? Hatte er denn nicht dieses seltsame Leuchten...ein Verdacht keimte in ihm auf. "Korell, Thame, Physales...ich muss euch etwas fragen: Seht ihr nicht auch so ein seltsames Flimmern oder Leuchten in der Luft? Hier, um Norai oder um Physales ist es besonders stark...." Langsam zog er sein Schwert und zeigte es ihnen, doch alle schüttelten einhellig den Kopf. Nur in Thames Augen vermeinte er so etwas wie ein zugleich amüsiertes wie freudiges Funkeln zu erblicken. "Wieso fragst du das?" kam es fast gleichzeitig zurück. "Nun ja...es ist so: bei verschiedenen Dingen kann ich immer diesen seltsamen Glanz erkennen...gerade bei Norai, Physales oder auch dem Palyn. Im Alten Wald war es sogar so, dass die ganze Luft davon durchzogen schien. Und hier...je länger ich den Weißen Dämon angesehen habe, desto mehr sah ich, dass das Trugbild aus eben diesem Licht zusammen gesetzt war. Es überstrahlte einfach alles, so dass ich das Ungeheuer dahinter nur schemenhaft erkennen konnte..." seine Stimme versagte ihm, als er endlich den Zusammenhang erkannte, für den er so lange Zeit blind gewesen war. Schließlich sprach Thame aus, was nun für ihn offensichtlich war. "Magie...du kannst Magie [i[sehen. Das ist unglaublich. Ich weiß ja, dass die Sanuki ungewöhnliche Fähigkeiten haben, aber jemand, der Magie sehen kann...davon habe ich noch nie etwas gehört. Fantastisch..." Korell hatte es anscheinend die Sprache verschlagen, denn er starrte ihn nur an. Physales blickte mit großen Augen zu seinem Gesicht empor, aber Yelin war es, als hätte sich in seinem Inneren ein Tor geöffnet. Er war ungeheuer erleichtert. Nun endlich wusste er, was sein besonderes Talent als Sanuki war! Eigentlich hätte er es gleich wissen müssen... Die Begegnung mit dem Drachen hat den schlummernden Samen in dir geweckt; er fängt schon langsam an zu wachsen, merkst du es nicht? Wieder kamen ihm die Worte der Dryade in den Sinn. Sie hatte also gewusst, was er konnte...aber irgendwie war er ich auch dankbar dafür, dass sie ihm nichts gesagt hatte. Dies war eine Sache gewesen, die er nur durch sich selbst hatte entdecken können. Die nächsten zwei Tage verbrachten sie damit, die Namuren ganz zu durchqueren. Doch noch bevor sie wieder die grüne Fläche einer weiten Ebene vor sich sahen, stellten sie fest, dass sie kaum noch genug zu essen hatten, um sich in dieser Zeit versorgen zu können. Ihre Vorräte waren, obwohl sie am Anfang so viel mitgenommen hatten, schon fast aufgezehrt und in dieser weißen Wüste aus Fels, Eis und Schnee konnten sie nichts finden, was auch nur im Entferntesten essbar gewesen wäre. Außerdem zehrte das viele Laufen durch den Schnee mehr an den Kräften als es die grünen Wiesen der Mamuraebene getan hatten. Schon zuvor hatten sie ihre Rationen immer mehr verkleinert, in der Hoffung, dass sie bis ans Ende reichen würden. Doch schon am Mittag des zweiten Tages waren sie trotz ihrer Sparsamkeit endgültig aufgebraucht. Das einzige, was sie nun noch hatten, um ihre körperlichen Bedürfnisse zu stillen war das klare, saubere Trinkwasser aus den mittlerweile zu einem breiten Fluss angewachsenen Bach, mit dem sie täglich ihren Durst stillen konnten. Aber auf Dauer schwächte sie das Fehlen von fester Nahrung sehr. Physales war derjenige, der wieder einmal am meisten darunter litt. Sein kleiner Magen knurrte so oft und so laut, dass Yelin manchmal besorgt nachsah, ob mit seinem kleinen Freund noch alles in Ordnung war. Sein winziges Gesicht wurde immer blasser und sogar noch ein wenig eingefallener als es sonst ohnehin schon war. Aber auch den drei anderen fiel das Gehen zunehmend schwerer und in dieser Nacht schliefen sie alle kaum, da sie immer wieder von dem bohrenden Hungergefühl in ihrem Magen wach gehalten wurden. Erst der Mittag des dritten Tages nach ihrem Abstieg in dieses Tal brachte wenigstens eine kleine Erlösung: Der Schnee, der schon die ganze Zeit immer dünner und dünner geworden war, je tiefer sie gegangen waren, verschwand an einigen Stellen ganz. Damit wurde der Boden dort ein wenig von den Strahlen der Sonne erwärmt, so dass sie tief genug graben konnten, um Wurzeln zu finden. Diese machten zwar nicht sonderlich satt, aber sie füllten immerhin ein wenig ihren leeren Bauch. Und als wäre dies nicht genug, konnten sie auch am Abend dieses Tages endlich wieder eine freie Fläche erkennen, nachdem sie einer kleinen Biegung des Tales gefolgt waren. Vor ihnen erstreckte sich eine große, weite Fläche, die links noch immer von den Namuren begrenzt wurde und nahe dem Horizont in einen großen Wald überging. Das Gewässer, dem sie bis jetzt immer so treu gefolgt waren, durchfloss sie in leicht westlicher Richtung. Seufzend und erleichtert sahen sie einander an. Endlich hatten sie dieses große, weiße Gebirge und seine Dämonen hinter sich gelassen. Kapitel 8: Elben ---------------- Trotz allem dauerte es noch fast bis zum nächsten Abend, bis sie die Namuren endgültig hinter sich lassen konnten. Dafür erfuhren auch ihre Augen jetzt endlich wieder Erlösung, denn die Ebene vor ihnen zeigte wieder jenes bunte Grüngemisch, das auch die Mamura ausgezeichnet hatte. Aber diese hier schien ein wenig fruchtbarer zu sein, denn es gab viel mehr vereinzelte Büsche und auch das Gras sah merklich saftiger und grüner aus. Der Schnee lag hier schon lange nicht mehr, sondern hatte sich augenscheinlich nur in den höheren Lagen eingenistet, aus denen sie gekommen waren. Seit ein paar Stunden flatterte auch Physales wieder neben ihnen her, der jetzt förmlich aufzublühen schien. Genau so, wie die Kälte und das ewige Weiß ihm zuvor zugesetzt hatten, so schien er nun unter dem warmen Licht der Sonnen wieder von allen Lebensgeistern beseelt zu sein. Sie hatten schon ein vogelähnliches Tier gefunden, dass Korell mit seinen Pfeilen erlegen konnte. Dazu waren sie an einem kleinen Strauch vorbei gekommen, an dem ein paar Beeren hingen, die der kleine Gúdo sogar aus seiner Heimat kannte. Somit hatten sie sich jetzt zum ersten wieder wirklich satt essen können, was die Gruppenmoral natürlich erheblich steigen ließ. Physales hatte zwar noch ein paar kleinere Probleme damit, beim Fliegen die genau Richtung beizubehalten, da seine Flügel durch den langen Aufenthalt in Yelins Mantel noch sehr verknickt und zerknittert waren, war aber ansonsten ein wahres Bündel an purer Energie. Außerdem sorgte die Tatsache, dass die Sonne nun kräftiger schien und dadurch auch besser wärmte für eine automatische Erhöhung ihrer Laune. Sie zogen ihre dicke Kleidung aus, da sie anfingen, unter den dichten Stoffschichten zu schwitzen. Dann packten sie sie in ihr Bündel, das sie alle auf dem Rücken trugen und erfreuten sich schlicht und einfach an der Wärme, die sie nun anstrahlte. Einzig Thame behielt ihren Umhang mit der Kapuze noch immer an, wie sie es auch schon vor dem Aufstieg getan hatte. Dies tat sie mit der Erklärung, dass sie ihn "schon so lange trage, dass ich mich an ihn gewöhnt habe. Er ist mir wie eine zweite Haut geworden, darum stört er mich auch nicht weiter." Einzig eine Tatsache trübte ihr Glück ein wenig. Jetzt, wo sie die andere Seite der Namuren betreten hatten, wurde ihnen erst bewusst, wie nahe sie der großen Elbenfeste waren, quasi nur durch die Bergkette getrennt. Je näher sie dem kleinen Wald kamen, den sie schon seit dem Ende der Überquerung hatten sehen können, desto verschlossener und finsterer wurde Korells Miene. Yelin wünschte von ganzem Herzen, seinem Freund helfen zu können, aber gegen den Schmerz, der in seinen Augen aufwallte, war auch er machtlos und dies tat ihm ebenfalls weh. Die Gefahr, dass sie jetzt einer Patrouille begegneten, stieg von Tag zu Tag, je weiter sie nach Norden gingen. Mittlerweile waren sie dazu übergegangen, kein Feuer mehr zu machen und außerdem in der Nacht abwechselnd Wache zu halten, um unliebsame Überraschungen zu vermeiden. Elben.....Yelin ballte die Faust. Der Konflikt zwischen ihnen und den Menschen dauerte nun schon länger an, als die Alten sich erinnern konnten. Es hieß, dass die beiden Völker vor langer Zeit einmal eng verbunden gewesen waren, doch wenn es je so gewesen war, dann war heute nichts mehr davon übrig. Elben glichen ein wenig Naturgeistern. Sie waren geheimnisvoll und mystisch und damals galten sie auch durchaus noch aus weise und gutherzig. Meist hoch gewachsen, mit mandelförmigen Augen, schmalen Gesichtern und vor allem langen, spitzen Ohren. Yelin konnte nicht bestreiten, dass sie sehr schön waren, aber ihre Grausamkeit konnte mit Leichtigkeit damit Schritt halten. Immer wieder überfielen sie die Siedlungen der Menschenreiche und schlachteten wahllos diejenigen ab, die das Pech hatten, in eben jenem Moment dort zu sein. Sie waren unbarmherzige Kämpfer, die ihre Technik fast perfektioniert hatten, so dass die Schlachten mit ihnen meist in einem großen Blutvergießen endeten. Ihre größte Trumpfkarte war ihre Eigenschaft, sich ohne Rücksicht auf Lieb und Leben in den Kampf zu werfen. Dadurch gewannen sie eine ungeheuere Durchschlagskraft, die sie eben so gefährlich machte. Was jedoch der Grund für die ganzen Kämpfe war, das wusste niemand. Man erzählte sich, dass sie sich damals immer mehr von den Menschen abgewandt hätten und sie schließlich so sehr hassten, dass sie sie immer wieder angriffen. Sie machten nur sehr selten Gefangene und wenn, so kehrten diese nie zurück. Dies war auch der Grund gewesen, warum Yelin die Hoffnung aufgegeben hatte, seinen Freund noch einmal wieder zu sehen... Die Wanderung über die Ebene, die bei weitem nicht so lange dauerte wie über die Mamura, verlief ohne große Störungen, wofür sie alle dankbar waren. Sie trainierten nun wieder täglich miteinander und alle drei fanden immer größere Freude daran, einmal zu dritt gegeneinander zu kämpfen. Es schulte vor allem ihre Reflexe und ihre Geschwindigkeit. Bald konnte Yelin Korell auch darüber Auskunft geben, dass sein Bogen ebenfalls magisch sein musste. Überhaupt war die Erkenntnis, dass er nun Magie sehen konnte, sehr hilfreich. Dadurch entdeckte er auf einmal, wie viele magische Wesen es gab, die er damals nie gesehen hatte. Sie versteckten sich meist hinter den Blättern der vielen Pflanzen, verkrochen sich in kleine Erdlöcher oder verschwanden (zum Beispiel im Fall der Sylphiden) schlicht und einfach mit dem Wind in eine andere Richtung. Jetzt, wo wer sein Talent gefunden hatte, schien es sich auch immer besser auszubilden und zu differenzieren. Wo er damals nur diffuse Flecken erkannte hatte, nahm die Magie vor seinen Augen immer bessere Formen an. Bald konnte er schon viele Meter voraus sagen, wo sich das magische Fabelwesen versteckte. Und er bemerkte ebenfalls, dass jedes von ihnen eine andere Farbe besaß, ganz dem Element, dem sie angehörten. Gúdos und andere Erdgeister strahlten in einem dunklen grünbraun. Die Sylphiden hatten ein sehr helles, leichtes Blau, während der Glanz der Wassergeister von einem dunklen Blau war und derjenige der kleinen Feuerelfen von einem funkelnden Rot. Dazwischen gab es jede Menge Abstufungen. Norai und Korells Bogen leuchteten in einem tiefen, samtenen Schwarz. Nur Thame konnte er nicht so ganz zuordnen....jedes Mal, wenn er zu ihr sah, schien das schwache Flimmern um sie herum eine andere Farbe als zuvor zu haben. Dass sie gesehen wurden, bemerkten die Wesen natürlich auch und es kam tatsächlich so, wie Thame es bereits prophezeit hatte: Immer öfter wurden sie von Elfen begleitet, oder kleinen Gúdos, die sich einen Spaß daraus machten, sie zu necken. Aber ein manches Mal konnten sie auch sehr hilfreich sein, zum Beispiel, wenn es darum ging, pflanzliches Essen zu besorgen. Und wieder geschah aber das Seltsame, was sie auch schon auf der Mamura hatten beobachten können: Kaum war ein Gúdo in der Nähe, so versteckte sich Physales wieder bei Yelin und traute sich nicht hervor, ehe seine Artgenossen fort waren. So ungefähr verliefen die eineinhalb Wochen, die sie auf der Eben unterwegs waren. Der Fluss verließ bald ihre Laufrichtung und wandte sich weiter nach Osten. Nach Thames Karte zu schließen, mündete er schließlich in einen der größten Seen dieser Welt, den sie jedoch im Westen umrunden würden. Sie hatten vor, das kleine Waldgebiet vor ihnen zu durchqueren, um dann zu dem weitaus gefährlichsten Teil ihrer Reise zu kommen: Sie konnten es auf keinen Fall riskieren, den großen Sumpf des Lainen zu überqueren. Sie hatten keine Ahnung, ob ein Weg dort hindurch führte und da sie sich in dem Gebiet auch überhaupt nicht auskannten, beschlossen sie, einen anderen Weg zu nehmen: Sie wollten an der kleinen Berggruppe vorbei, hinter denen ein kleinerer See lag, der von einem Fluss aus den Grauen Bergen gespeist wurde. Zwischen Berg und See, so hofften sie, würden sie vorbeikommen, um dann auf den Lainen zu stoßen, der angeblich die Grenze zu den Enuya markierte, wenn sie wirklich existierten. Und was danach geschah, darauf hatten sie jetzt noch keinerlei Einfluss.....das Gefährlichste an diesem Plan war aber, dass sie quasi wie auf dem Serviertablett direkt an der Elbenfeste vorbei mussten. Doch selbst Korell, dem dies natürlich überhaupt nicht gefiel, sah letztendlich ein, dass sie keine andere Alternative hatten, wollten sie sich nicht auf ein Terrain begeben, auf dem sogar ein falscher Schritt zum Tode führen konnte. Endlich erreichten sie die Bäume des kleinen Waldes, den sie durchqueren wollten. Obwohl dieser Ort in keinster Weise dem Alten Wald ähnelte, sondern schlicht und einfach ein ganz normaler Wald war, fühlte sich Yelin unwillkürlich an seine Zeit in dem Herzen dieser Welt zurück erinnert. Doch nicht nur die Bäume hier waren anders, sondern auch die magischen Wesen. Sie waren zwar da, aber lange nicht so zahlreich, wie es dem Alten Wald, dem Zentrum der Magie, nachgesagt wurde. Dennoch trafen sie hier weit mehr von ihnen, als es in den Wäldern üblich war, die an die Gebiete der Menschen grenzten... Yelin wusste, dass sich in dieser Beobachtung eine wichtige Erkenntnis verbarg. Aber irgendwie konnte er ihre Bedeutung noch nicht so ganz einordnen...seufzend trat er hinter den anderen in den Schatten der Bäume ein. Physales war schon unterwegs und flatterte glücklich umher, da ihn dieser Ort so sehr an seine eigentliche Heimat erinnerte. Obwohl er eigentlich der Erdgeist der Physalis war, liebte er Bäume ebenfalls über alles. Auch Yelin konnte sich eines leisen Glücksgefühls nicht erwehren, als er beobachtete, wie das Licht durch die Stämme hindurch fiel und so alles in eine verzaubert wirkende Dämmerung tauchte. Der Boden war mit Moos bedeckt, auf denen Blätter und kleinere Aststückchen lagen. An einigen Stellen fanden sie kleine Tümpel, von Gebüsch umsäumt, die geradezu zum Verweilen einluden. Und um die Atmosphäre noch perfekter zu machen, zwitscherten in den hohen Zweigen über ihnen ein paar Vögel ihr einsames Lied. Thame schien sich hier sehr wohl zu fühlen und sogar von Korell fiel etwas von der Anspannung ab, die bisher immer stärker auf ihm gelastet hatte. Doch nachdem sie eine gute Woche zwischen den Bäumen hindurch gewandert waren, kam es zu der Katastrophe, mit der sie die ganze Zeit schon unbewusst gerechnet hatten. Mit der guten Laune, die sich langsam zwischen ihnen ausbreitete, kam auch die Entspannung und das trügerische Gefühl, sich in Sicherheit zu befinden. Später überlegte Yelin vergeblich, ob es anders gekommen wäre, wenn sie sich schlechter gefühlt hätten oder besser aufgepasst hätten....er kam dabei aber zu keinem Ergebnis. Ein paar Augenblicke, bevor es passierte, wollten sie gerade die letzten Meter bis zum Waldrand zurück legen. Doch Yelin hatte auf einmal das hervor stechende Gefühl, dass sie nicht mehr alleine waren. Irgendetwas beobachtete sie, da war er sich sicher. Sanft fasste er Korell am Arm und deutete mit dem Kopf auf die Büsche, an denen sie vorbei gekommen waren. Sein Freund runzelte die Stirn, doch dann nickte er unmerklich. Er hatte verstanden, was los war. Mit einem Mal hatte sich die ganze ruhige und friedvolle Atmosphäre, die vorhin noch geherrscht hatte, aufgelöst. Eine Spannung lag in der Luft, so dass sie beinahe mit den Händen zu greifen war. Yelin wusste, dass sie keine Chance mehr hatten, unbeschadet aus dem Wald zu entkommen. Sie waren quasi mit offenen Augen in diese Falle hinein gerannt! Nicht einmal sein magisches Gespür hatte ihn noch retten können. Und so taten sie das Einzige, was ihnen jetzt noch vernünftig schien: Physales versteckte sich in den Kronen der Bäume und die drei Verbliebenen stellten sich Rücken an Rücken zueinander auf, in Erwartung dessen, was kommen würde. Korell legte einen Pfeil an und hob seinen Bogen, Thame zog ihr riesiges Schwert und in Yelins Händen lag Norai, das schon fast ungeduldig zu summen schien in Erwartung dessen, was geschehen würde. Der ganze Wald schien in diesem Moment die Luft anzuhalten. Dann lösten sich mit einem Mal ein Pfeil aus einer Lücke zwischen zwei Büschen und zog zischend seine Flugbahn genau auf Yelin zu. Er reagierte blitzschnell, warf sich nach vorne und zerschlug das dünne Holz noch in der Luft, bevor es Schaden anrichten konnte. Als wäre diese Aktion ein Signal gewesen, schien sich auf einmal der ganze Wald um sie herum zu bewegen. Aus den Schatten der Bäume lösten sich Elben, alle in silberner Rüstungen und mir ihren typischen gekrümmten Schwertern bewaffnet. angsam, aber deshalb nicht minder bedrohlich, bewegten sie sich auf die drei zu, die noch ein wenig näher zusammen rückten. Nun erwachte der Krieger und Stratege in Yelin und schnell schätzte er die Anzahl der Männer ein, die sie nun einkreisten. Sein Ergebnis war in keinster Weise ermutigend: Sie waren ihnen mindestens eins zu zehn überlegen. Wie er, so machten sich auch die anderen keinerlei Illusionen über den Ausgang dieses ungleichen Kampfes. Aber am Ende konnten sie wenigstens behaupten, dass sie es versucht hätten. Er hörte, wie Korell neben sich scharf die Luft ausstieß, als er bemerkte, wer ihre Gegner waren. All der Hass, den er über die Jahre bei sich angesammelt hatte und all die Schmerzen, die ihm von ihnen zugefügt worden waren, brachen nun aus ihm heraus. Nein, bitte....tu es nicht! flehte Yelin, als es bemerkte, doch auch er konnte die unbarmherzige Wut, die von ihm Besitz ergriffen hatte, nicht mehr stoppen. Und so musste er umso hilfloser zusehen, wie sein Freund sich selbst ins Verderben führte. So schnell, dass man dem kaum folgen konnte, schoss Korell seinen Pfeil ab. Dieser traf selbstverständlich auch sein Ziel und die Anzahl ihrer Gegner verringerte sich um einen. Blitzschnell lag ein neuer Pfeil auf der Sehne. Doch dieses Mal schrie ihn Yelin förmlich an: "Nein! Korell! Es hat keinen Sinn, glaub mir! Behalte deine Wut für dich, oder du wirst uns alle mit in den Untergang reißen!" Korells Hand zitterte, aber er schoss nicht weiter. Stattdessen senkte er seinen Bogen und zog an seiner statt sein Schwert hervor. "Ich möchte eher sterben, als noch einmal in ihre Hände zu geraten." flüsterte er leise und voller Qual. Yelin nickte ihm langsam zu und wandte sich dann wieder noch vorne. Noch immer hatten die Krieger nicht angegriffen, als hätte sie seine vorherige Aktion verunsichert. Doch irgendwie spürte er, dass dies nicht der Fall war....es war, als warteten sie auf ein bestimmtes Signal. Plötzlich teilten sich die Äste vor ihnen und ein hochgewachsener Elbenkrieger trat vor den versammelten Ring. Er war wirklich sehr groß, sein Körper mit einer ebenfalls silbernen Verzierung mit schwarzen Symbolen bedeckt. Sein Haar war wie das aller Elben recht lang und schimmerte in einem samtenen Dunkelgraue. Die sandfarbenen Augen blickten sie an und seine Stimme war ebenso starr und ausdruckslos wie sie: "Ergebt ihr euch?" Yelin runzelte flüchtig die Stirn. Bei Elben kam diese Phrase einem "Hallo, hier sind wir, lauft weg!" vor ihren geheimen Angriffen gleich. Aber statt eine Antwort zu geben, verstärkte er nun den Griff um seine Klinge. Nie, niemals würden sie sich diesem Volk ergeben. Der Elb zuckte nur mit den Schultern, als habe er mit solchen Reaktion sowieso gerechnet. Mit einem scharrenden Geräusch zog er sein Schwert und stürzte sich auf Yelin. Dieser war so überrascht, dass er fast zu langsam reagierte, als er Norai zwischen sich und den Elben brachte. Aus den Augenwinkeln sah er, dass auch die anderen nun angriffen und sich wie ein Mann auf sie warfen. Doch für den Moment war er genug damit beschäftigt, sich den offensichtlichen Anführer dieser kleinen Truppe vom Leibe zu halten. Schon bei den ersten paar Schlägen erkannte er, dass er nicht zufällig gegen diesen Mann kämpfte. Dieser hatte aus seinem Aussehen und seiner Reaktion die richtige Folgerung gezogen, dass Yelin der stärkste Kämpfer der drei sein musste. Aber schon die ersten Sekunden bewiesen, dass er selbst keinesfalls schlecht war, was den Umgang mit seiner Klinge anbelangte. Er besaß die unheimliche Eleganz und Schnelligkeit einer Raubkatze, die plötzlich über ihr Opfer herfällt. Yelin musste sein ganzes Können aufbieten, um ihm zu widerstehen, aber es gelang ihm. Er war mindestens ebenso geschwind wie sein Gegner, hatte allerdings den entscheidenden Vorteil, ein hervorragend ausgebildeter Sanuki zu sein. Die Frage war nur, ob er schnell genug war, den Anführer zu besiegen, so dass er seinen Freunden würde beistehen können... Norai schnitt einen scharfen Bogen durch die Luft und sauste seitwärts auf den Kämpfer zu. Dieser duckte sich schnell zur Seite und setzte in der gleichen Bewegung nach vorne nach. Doch damit hatte Yelin gerechnet und blockte seine Klinge, indem er sie mit einem hellen Geräusch an seiner eigenen hinauf fahren ließ. Danach sorgte er mit einer kleinen Drehung dafür, dass er außer Reichweite eines nachsetzenden Schlages geriet. Gleichzeitig stach er schräg von unten hinauf zu, um seinem Gegner damit außer Gefecht zu setzen. Dieser war jedoch schon nicht mehr da und so durchstach Norai nur leere Luft. Dafür wurde er selbst jetzt von der anderen Seite attackierte, leitete den Schlag aber den Stoß wieder harmlos zur Seite ab. Da sah er, wie sich eine Lücke in der hervorragenden Verteidigung seines Gegenübers bot und setzte rücksichtslos und schnell nach. Dieser hatte allerdings die Gefahr gerade noch rechtzeitig erkannt, so dass die Klinge ihm nur einen tiefen Schnitt in die Wange verpasste, anstatt ihm den Hals aufzuschlitzen. Yelin fluchte und sprang einen Schritt zurück, als der Elb seinerseits wieder zum Angriff überging, durch seine Wunde nur weiter angestachelt. Noch ein Stückchen kompromissloser als noch vor wenigen Augenblicken ging er vor, um den Menschen vor ihm den Garaus zu machen, so dass Yelin eine Menge zu tun hatte, um nicht doch ein paar mehr oder minder gefährliche Treffer einzustecken. Korell und Thame erging es nicht besser. Beide waren wirklich sehr gute Kämpfer, aber mochten sie auch noch so gut sein, gegen eine solche Übermacht hatten sie letztendlich keine Chance. Ohne dass sie drei es bemerkten, wurde Yelin von ihnen abgetrennt, so dass sich die beiden auf einmal nur noch zu zweit und Rücken an Rücken wiederfanden, jeder gegen eine Schar von mindestens fünf Kriegern ankämpfend. Verzweifelt hieb Korell mit seine schlanken Schwert durch die Luft, immer darauf bedacht, selbst keine allzu große Angriffsfläche zu bieten. Auch Thame schwang ihre Waffe mit einer solchen Gewalt, wie die Elben sie einer alten Frau nie und nimmer zugetraut hätten. Die ersten beiden, die sie für schwach weil alt hielten, belehrte sie schnell eines Besseren. Danach nahmen sich ihre Gegner jedoch immer besser in Acht vor ihr und gingen weit vorsichtiger vor. Im Gegensatz zu ihnen hatten sie nämlich einen großen Vorteil: sie kämpften gemeinsam und konnten so ihre Kräfte besser einteilen und schonen. Sie hingegen hatte keinerlei Möglichkeit, sich einmal kurz von den Mühen zu erholen, denen sie hier ausgesetzt war. Langsam machte sich auch bei ihren beiden Gefährten die Erschöpfung bemerkbar. Ein schneller Blick zur Seite bewies ihr, dass Yelin noch immer gegen den Anführer kämpfte, dabei aber augenscheinlich recht gute Karten hatte. Um Korell sah es dagegen lange nicht so gut aus. Er blutete schon aus mehreren Wunden, die zwar einzeln für sich genommen nicht weiter schlimm waren, zusammen jedoch nur noch mehr an seinen ohnehin immer knapper werdenden Kräften zehrten. Doch schließlich fand ihr langes Ringen ein jähes Ende, als Korell von einem besonders harten Schlag getroffen wurde und zu Boden stürzte. Sofort waren die Elben über ihm und sorgten dafür, dass er sich nicht mehr so schnell erhob, töteten ihn jedoch nicht. Auch Thame konnte sich nun nicht viel länger der Übermacht erwehren, jetzt, da jemand fehlte, der ihr sonst die ganze Zeit den Rücken frei gehalten hatte. Sie sah ein, dass es wenig Sinn machte, sich weiter zu wehren und so gab sie schließlich auf. Als letzter war Yelin an der Reihe. Noch immer vollkommen in dem Duell mit dem Hauptmann gefangen, sah er nicht rechtzeitig, dass weitere Krieger hinzukamen, um auch ihren Kampf sofort zu beenden. Noch mitten in der Bewegung, einem weiteren Hieb seines Gegners auszuweichen, übersah er schlichtweg die Klinge, die von der Seite heransauste und mit ungeheurer Wucht auf seinen Schläfenknochen prallte. Dieses Mal kam die Dunkelheit schnell und unbarmherzig über ihn. Sie umschlang seinen Geist mit schwarzen, weichen Armen und hieß ihn zu vergessen. Kapitel 9: Gefangenschaft ------------------------- Sein Erwachen ging lange nicht so sanft und schnell vonstatten. Es wurde durch einen scharfen, stechenden Schmerz ausgelöst, der ihn nur allzu grausam wieder in die Wirklichkeit zurückholte. Er ging von seiner Schläfe aus und zog sich in brennenden Bahnen durch seinen Kopf. Mit einem leisen Stöhnen öffnete er die Augen und versuchte vergeblich, mehr als unscharfe Schlieren von seiner Umgebung wahrzunehmen. Nachdem er mehrmals vorsichtig geblinzelt hatte, konnte er wenigstens registrieren, dass sie sich nicht mehr in dem Wald befanden, wo sie so parademäßig in de Falle gegangen waren. Stattdessen blendete ihn nun die Sonne, so dass er noch immer nicht mehr als schwarze Gestalten erkennen konnte, die augenscheinlich um ihn herum liefen oder standen. Mit zusammen gebissenen Zähnen versuchte er, die Stelle, an der ihn die Klinge so unsanft getroffen hatte, mit seiner Hand zu befühlen. Erst jetzt bemerkte er, dass diese gefesselt waren. Höchstwahrscheinlich mit irgendeinem groben Strick, so weit er seinem Empfinden trauen konnte. Doch anscheinend waren die Elben klüger, als sie manchmal aussahen, denn nicht nur seine Handgelenke, auch seine Fußknöchel waren reichlich unsanft aneinander gebunden worden. Wahrscheinlich, so dachte er sich mit leiser, grimmiger Enttäuschung, hatte er sich definitiv zu viel ausgemalt, was ihre Einschätzung seiner Fähigkeiten betraf. Er war nämlich auch durchaus in der Lage dazu, alleine mit den Füßen größeren Schaden in solch einem Haufen hervorzurufen. Doch ganz so schnell gab er die Hoffnung nicht auf: Auch wenn er wusste, dass er höchstwahrscheinlich ohne Erfolg bleiben würde, versuchte er es damit, unsanft mit seinen Armen zu rütteln, um so vielleicht einen locker gebundenen Knoten zu lösen. Doch beinahe sofort wurde ihm klar, dass es ihm nicht nützen würde. Offenbar hatten sie wirklich schon genug Erfahrungen darin, wie man einen aufsässigen Gefangenen schnell und wirkungsvoll fesseln konnte... Seufzend gab er seine Bemühungen auf. Es wäre ja auch zu schön gewesen. Als hätte jemand genau in diesem Moment seine Gedanken gelesen, sagte eine Stimme hinter ihm: "Gebt euch keine Mühe, Prinz. Wir wissen durchaus, wie man einen guten Knoten knüpft." Mühsam drehte Yelin den Kopf und versuchte, sich nach demjenigen umzudrehen, der da soeben gesprochen hatte. Obwohl er eigentlich damit gerechnet hatte, war er dennoch leicht überrascht, den Anführer der Krieger zu sehen, dessen mattgelbe Augen mit einem schwer einzuschätzenden Ausdruck auf ihn herab sahen. Es war derjenige, gegen den er so lange und intensiv gekämpft hatte. A propos gekämpft…wo zum Teufel waren eigentlich Thame und Korell? Er hoffte, dass die Elben sie nicht einfach getötet hatten...und Physalis, vielleicht hatte er sich ja irgendwie retten können... Doch sofort glitten seine Gedanken wieder zurück zu dem Elb, der nun hinter ihm stand und anscheinend noch immer darauf wartete, dass er etwas sagte. Doch was wollte er wohl von ihm? Mit leiser Stimme antwortete er: "Woher wisst ihr, dass ich ein Prinz bin?" Der andere lachte leise. "Ich bitte euch....ein Menschenprinz, der ein Sanuki sein soll und heimlich bei Nacht und Nebel sein Schloss verlässt....und der seitdem in der Welt umherirrt, ohne sagen zu können, was sein Ziel ist. Was dachtet ihr denn? Sogar wir haben davon gehört. Und da nicht sehr viele Sanuki in eurem Alter herumlaufen...." wie schon einmal zuckte er mit den Schultern. Doch als Yelin gerade den Mund aufmachte, um etwas zu erwidern, schnitt er ihm mit einer Handbewegung das Wort ab und redete weiter. "Und bevor ihr fragt: Ja, eure Begleiter leben noch. Den Jüngeren hat es ziemlich übel erwischt, aber ich denke, dass er es schaffen kann, wenn er nur will. Was die Alte angeht...ihre Zunge scheint genau so flink und schlagkräftig zu sein wie ihr Schwert. Ich musste meinen Männern verbieten, ihr mit einem harten Schlag einfach das Wort abzuschneiden. Ich dachte, dir würde das vielleicht nicht so sonderlich gut gefallen..." Yelin runzelte die Stirn. Oder besser: er wollte es. Gerade rechtzeitig erinnerte er sich noch an seine Wunde und sah davon ab, den Schmerz weiter zu vergrößern. Er war auch jetzt schon schlimm genug. "Warum tut ihr das? Ich meine, warum habt ihr uns nicht gleich getötet...nein, stattdessen pflegt ihr meinen Freund wieder gesund und sorgt dafür, dass Thame nicht noch mehr verletzt wird. Sagt mir, warum das alles?" Bei diesen Worten trat ein neuer Ausdruck in die Augen seine Gegenüber, der nun ein paar Schritte um ihn herum gegangen war, so dass Yelin ihn besser sehen konnte. Es war ein Ausdruck, der ihm ganz und gar nicht gefiel.... "Das ist wieder einmal typisch ihr Menschen, nicht wahr? Ihr denkt doch immer noch, dass wir seelenlose Schlächter wären, denen ein Leben nichts bedeutet! Aber dass wir genau so Gefühle oder gar Mitleid wie ihr empfinden könnten, darauf seid ihr noch nie gekommen! Was erwartest du jetzt von mir? Dass ich dir die Zunge herausschneide, weil du nicht die richtigen Antworten gibst? Glaubst du das wirklich?" Er macht eine Bewegung, als wolle er ihn am Hemd packen, aber beherrschte sich dann aber noch im allerletzten Moment und beließ es bei einem wütenden Funkeln. Yelin war leicht zusammengefahren, als er den scharfen Ton in seiner Stimme vernommen hatte. Doch insgeheim musste er ihm Recht geben: Er hatte tatsächlich angenommen, dass dies oder etwas ähnliches geschehen würde...auf den Gedanken, dass die Elben eigentlich genau so menschliche Wesen waren und vielleicht unter den vielen Toten ebenso litten wie sie, war er tatsächlich noch nicht wirklich gekommen. Beinahe begann er, sich dafür zu schämen. Um seine wachsende Verlegenheit zu überspielen, sagte er leise: "Aber wenn ihr nicht so grausam seit, wie du sagst, warum überfallt ihr dann immer unsere Städte und Dörfer? Was gibt euch das Recht, unsere Leute einfach abzuschlachten und ihre Leben zu zerstören?" Der Mund des Elben wurde zu einer dünnen, weißen Linie. Fast ruckartig drehte er sich um ging mit schnellen Schritten davon, Yelin dort zurücklassend, wo er war. Dieser dachte noch lange über das nach, was er soeben erfahren hatte. Korell....er hoffte nur von ganzem Herzen, dass sein Freund nicht allzu schwer verletzt war. Wobei, vielleicht war es ihm auch gar nicht zu wünschen, im Vollbesitz seiner geistigen und körperlichen Kräfte zu sein. Er hatte keine Ahnung, wie schlimm es für ihn sein musste, sich in den Händen seiner schlimmsten Peiniger wiederfinden zu müssen. Er wusste nicht, ob er es an seiner Stelle ausgehalten hätte...hinter seinem Rücken ballte er seine gefesselten Hände. "Empfindsam". Ha! Wie hatten sie seinem Freund nur so etwas antun können, wenn sie wirklich so mitleidsvoll waren, wie er gesagt hatte? Sie waren wie Monster, verdammt noch mal! Sie hatten kein Recht, dies zu tun. Doch schon während er so wütend wurde, wusste er, dass dies nicht die Wahrheit war, dass er sich mit seiner Wut nur selbst belog, um seine wachsende Unsicherheit zu verbergen. Das Geheimnis, dass die Elben umgab, hatte irgendetwas mit dem schwarzen Krieger zu tun, das spürte er. Aber welche Rolle spielte er in diesem ganzen Geschehen? Um sich von diesen Gedanken abzulenken, begann er erst einmal damit, sich an dem Ort umzusehen, an dem er sich nun befand. Es war ganz augenscheinlich der Lagerplatz der kleinen Einheit, der sie begegnet waren. Um ihn herum sah er jede Menge Decken ausgebreitet, ein paar Zelte, angepflockte Pferde und ziemlich genau in der Mitte des kleinen Platzes die Reste eines großen Feuers. Offensichtlich hatten sie schon länger hier genächtigt, ehe sie auf sie aufmerksam geworden waren. Rings um ihn herum liefen, saßen und standen Elben , alle in den gleichen Rüstungen, die lediglich aus einem Brustpanzer, Bein- und Armschienen bestand. Einige von ihnen trugen frische Verbände, was darauf hindeutete, dass auch Thame und Korell sich ganz gut geschlagen hatten. Die meisten, die an ihm vorbei gingen, beachteten ihn kaum, aber ab und zu warfen einzelne Personen ihm böse Blicke zu, die besagten: 'Unser Kommandant scheint ja gnädig mit dir zu sein, Junge, aber warte ab, bis wir alleine sind!' Yelin erwiderte ihre Herausforderung kühl und mit gelassenem Blick. Er wusste, dass dies seine Chancen zu überleben auch nicht gerade beträchtlich vergrößerte. Aber im Moment war ihm dies ziemlich gleichgültig... Außerdem schien trotz allem jeder eine Art gesunden Respekt vor ihm zu entwickeln. Er hatte dieselbe Erfahrung auch schon an anderen Orten, an denen er gewesen war, gemacht. Die Leute schienen es irgendwie zu spüren, wenn sie einem Sanuki gegenüber standen und begegneten ihnen entweder mit einer großen Portion Ehrfurcht oder schlicht und einfach nur Unwohlsein, das sich bis zur Angst steigern konnte. Seine drei Gefährten waren die einzigen, die er bisher kennen gelernt hatte, denen diese Tatsache nichts auszumachen schien. Die Talente, welche die Sanuki besaßen, waren somit teuer erkauft. Vielleicht, so fand Yelin, war der Preis menschlicher Nähe ein wenig zu hoch, selbst für die Fähigkeiten, die sie dadurch erhielten. Sosehr er sich auch anstrengte, er konnte trotz des ebenen Bodens nirgendwo eine Spur von Thame oder Korell entdecken. Vielleicht, so überlegte er, waren sie an einen anderen Platz gebracht worden...die wahrscheinlichere Möglichkeit war allerdings, dass er sie aufgrund der vielen Leute schlicht und einfach nicht ausmachen konnte. Danach konzentrierte er sich noch einmal auf das, was er mit Hilfe seiner besonderen Begabung fähig war zu sehen. Vielleicht konnte er ja somit eine Spur von Norai, Korells Bogen oder sogar Physales entdecken. Und tatsächlich nahm er mit einiger Anstrengung ein bisschen Glanz von Magie wahr. Er erkannte das leichte, samtig schimmernde Schwarz ihrer Waffen und sogar das Olivgrün mit den braunen Spuren, wie sie die kleinen Erdgeister hinterließen. Er war sich ziemlich sicher, dass das erste Norai und der Bogen sein mussten. Sie lagen recht weit entfernt von ihm im Lager und schienen, so weit er das sah, nicht weiter beachtet zu werden. Bei dem Erdglanz hoffte er jedoch inständig, dass es sich um den kleinen Gúdo handeln mochte, der hoffentlich unerkannt zwischen den Elben herumflog und nach ihnen suchte. Doch nur wenige Stunden später wurde diese Hoffnung ebenso schnell wie brutal wieder zerstört. Wieder war es der Anführer der Gruppe, der zu ihm kam und offensichtlich seinen Zorn überwunden hatte. Im ersten Moment aber achtete Yelin nicht auf ihn, sondern eher auf das, was er in seiner Hand trug: Es war ein kleines Gefäß aus Glas, indem er zu seinem Schreck eine kleine, hin und her flatternde Gestalt ausmachen konnte, deren Aura in einem grünlich-braunen Licht leuchtete! Er konnte die Worte, die Physales rief, nicht hören, aber sein Gesichtsausdruck und die Art, wie er mit seinen kleinen Fäusten gegen das durchsichtige Glas trommelte, sprachen Bände. Offensichtlich war es ihm selbst nicht viel besser ergangen als ihnen und auch er fand sich jetzt in unfreiwilliger Gefangenschaft bei den Elben wieder. "Den hier haben wir erwischt, als er gerade einen unserer Dolche stehlen wollte. Wohl, um dich oder deine Gefährten damit zu befreien.....ich wollte nicht, dass man ihn tötet, darum habe ich ihn in diese kleinen Gefäß hier sperren lassen. Und wie du siehst, haben wir ihm sogar etwas zu Essen mit hinein gegeben.....dass wir euch Menschen nicht ausstehen können, heißt noch lange nicht, dass es uns mit magischen Wesen genau so geht. " meinte er. Yelin erwiderte nichts, sondern sah ihn nur weiter mit wachsendem Erstaunen an. Er hatte gewusst, dass die Elben sich damals mehr mit den Tieren als mit den Menschen verbunden gefühlt hatten. Einige von ihnen hatten sogar angeblich mit ihnen sprechen können. Doch irgendwie hatte er angenommen, dass sie mit ihrer Abkehr von den Menschen auch ihrer Verbindung zu allen anderen Wesen entsagt hätten...aber augenscheinlich schien dies nicht zu stimmen. Wieder eines der Dinge, die von den Menschen fälschlich angenommen worden war. Wer wusste, was er noch alles erfahren würde. "Und was habt ihr nun mit uns vor?" fragte Yelin und versuchte dabei, so gut es ging, seine Überlegungen vor seinem Gegenüber zu verbergen. "Ich bin mir nicht ganz sicher." meinte dieser daraufhin. "Die Befehle besagen, dass wir jeden Eindringling, der unerlaubt das Gebiet betritt, umgehend in die Feste bringen sollen, damit sich der Schwarze Krieger um sie kümmern kann." Ihm entging keineswegs das Zusammenzucken seines Gefangenen, als er den Namen des weißhaarigen Elbenkriegers erwähnte. Aber auch Yelin konnte beobachten, wie sie die Augen des Anführers bei seiner Nennung verdüsterten. Offenbar verbreitete er nicht nur bei dem Heer der Menschen Angst und Schrecken...Doch der Elb vor ihm schien nicht geneigt zu sein, dieses Thema noch weiter zu erörtern. Stattdessen sah er ihn lange an und fragte dann zögernd: "Da ist noch etwas.....der kleine Bursche hier drin hatte irgendetwas von 'Yelin' gerufen. Und nun interessiert mich ganz einfach, ob du dieser Yelin bist....." "Warum, glaubst du, sollte ich dir das sagen? Was hilft es dir, meinen Namen zu erfahren?" fragte Yelin leise und sah ihm direkt in die Augen. Sein Herz klopfte bis zum Hals. Er wusste, dass er sich mit diesen Worten eigentlich eine Respektlosigkeit erlaubte, aber in seiner jetzigen Situation hatte er nicht mehr viel zu verlieren. Der Elb lächelte, als wüsste er dies. "Was nützt es dir, ihn geheim zu halten?" fragte er zurück. "Ich denke, über dieses Stadium von kindlichem Trotz sollten wir schon lange hinaus sein, nicht wahr? Und damit es dir leichter fällt.....mein Name lautet Lorphyr." Yelin sah ein, dass ihn eine solche Haltung nicht viel weiter brachte. Und Lorphyr hatte durchaus recht: Auf seinem infantilen Trotz zu beharren, half ihm nicht wirklich. "Ja. Ich bin Yelin." Der Elb konnte nicht ganz verbergen, wie sich ein leichter Ausdruck von Erstaunen über sein Gesicht huschte. Irgendetwas schien die Nennung seines Namens in ihm bewirkt haben, denn ganz unvermittelt meinte er plötzlich mit einem Kopfnicken zu seinen Fesseln hin: "Wenn du möchtest, können wir dir jetzt etwas zu essen geben." Die Überraschung musste sich auf Yelins Gesicht wohl deutlicher abgezeichnet haben, als er selbst dachte, denn fast schien sich so etwas wie ein kleines Lächeln auf Lorphyrs Gesicht zu stehlen. "Ich weiß, dass du nicht versuchen wirst zu kämpfen, wenn wir dir deine Fesseln abnehmen. Du bist klug genug, um zu wissen, dass du nicht sehr weit kommen würdest, zumal deine Füße zusammen gebunden bleiben werden. Aber....ich denke ebenfalls nicht, dass du ohne deine Freunde gehen würdest. Und vor allem dein dunkelhaariger junger Gefährte wird wohl kaum fähig sein, eine lange Reise zu überstehen. Nicht in diesem Zustand." Yelin seufzte leise. Er hatte ihn durchschaut. Natürlich würde er weder ohne Thame noch ohne Korell oder Physales hier weggehen. Im Prinzip könnte er ihn auch frei umherlaufen lassen. An Flucht war unter diesen Umständen nicht zu denken. Statt einer Antwort beschränkte er sich auf ein Nicken, worauf hin Lorphyr einen Dolch aus seinem Gürtel nahm und vorsichtig die Stricke auf seinem Rücken entzwei schnitt. Mit einem leisen Aufatmen bewegte Yelin seine Handgelenke, die ihm von der unbequemen Haltung noch immer sehr weh taten. Währenddessen war der grauhaarige Elb wieder davon gegangen, ohne sich noch einmal umzusehen, ob Yelin auch wirklich sitzen blieb. Nach nur wenigen Augenblicken kam er zurück und brachte eine große Schüssel mit, die voll von kalten Fleisch- und Brotstückchen war. "Hier." meinte er nur. "Iss." Wortlos griff Yelin nach der Schale. Er wollte es zwar nicht zugeben, aber er hatte einen wirklich großen Hunger und sein Magen meldete sich auf unvorteilhaft laute Weise, als er des Essens ansichtig wurde. Es blieb nur bei dem Versuch, alles langsam zu essen. Schon nach den ersten paar Minuten gab er alle Anstandsregeln auf und begann damit, seine Mahlzeit regelrecht herunter zu schlingen. Im Zweifelsfall war der Drang zu überleben eben doch stärker als jede Etikette. Und er konnte nicht sagen, wie lange er schon kein Brot mehr gekostet hatte...unweigerlich musste er zugeben, dass sich die Elben allem Anschein nach wirklich gut darauf verstanden, Brot zu backen. Es schmeckte ausgezeichnet. Aber vermutlich galt das für alles, was man längere Zeit nicht mehr gegessen hatte... Als er fertig war, nahm Lorphyr die leere Schale kommentarlos zurück und stellte sie neben sich auf den Boden. Dann machte er eine kleine Handbewegung und Yelin wurde klar, dass seine Hände nun wieder gefesselt werden würden. Seiner Meinung nach war es komplett unnötig, aber er wollte auch nicht wegen einer solchen Kleinigkeit Streit anfangen. Allerdings entging ihm nach, dass Lorphyr die Stricke diesmal weniger unsanft um seine Handgelenke sprach. Somit schnitt ihm die Schnur nicht mehr so stark ins Fleisch wie noch vor wenigen Augenblicken. Der Knoten jedoch saß so fest wie eh und je und ließ sich nicht im Geringsten lösen. Dafür bückte sich der Elb jedoch und begann sorgsam damit, den Knoten seiner Fußfesseln aufzumachen. Schließlich ließ er ihm genügend Zeit, dass er wieder relativ sicher auf den Beinen stand und winkte ihm wortlos, ihm zu folgen. Ohne sich umzusehen, ob Yelin auch wirklich mitkam, machten sie sich auf den Weg, quer durch das Lager. Yelin bemerkte es erst nach einer Weile, doch diejenigen, an denen sie vorbei kamen, machten ihnen fast respektvoll Platz. Aber schon bald hatte Yelin kaum mehr Augen für die vielen Elben, die ihm seltsame Blicke zuwarfen. Seine Aufmerksamkeit galt vielmehr einer liegenden Gestalt, die er auf dem Boden erkennen konnte und auf die sie zustrebten. Schließlich hielt er es nicht aus und stürzte mit fliegenden Schritten auf Korell zu. Ein schneller Blick bewies ihm, dass es wirklich nicht allzu gut um seinen Freund stand. Seine Augen waren geschlossen und die Stirn glänzte in fiebrigem Schweiß. Der Atem ging zwar regelmäßig, aber auch schwer. Als Yelin die Decke beiseite schob, sah er auch, warum: über seine gesamte Brust lag ein dicker, fachmännisch angelegter Verband. Er versuchte fast vergeblich, seine Blutung zu stoppen, denn das Rot hatte sich schon fast über den gesamten Stoff ausgebreitet. "Seit er bemerkt hat, dass ihn ein elbischer Arzt behandelt hat, lässt er niemanden mehr an sich heran. Aber wie müssen die Verbände wechseln und die Wunde reinigen, sonst wird er es vielleicht doch nicht mehr schaffen. " Lorphyr war leise von hinten an ihn heran getreten, während Yelin noch immer fassungslos seinen Freund beobachtete. Dann rief er leise seinen Namen und war erleichtert, als er die Augen aufschlug. Diese waren noch nicht verschleiert und so glasklar und dunkel wie immer. Ein leichtes Lächeln erschien auf Korells Gesicht, als er bemerkte, wer neben ihm kniete und ihn besorgt anstarrte. "Yelin....." flüsterte er mit leiser, aber erstaunlich starker Stimme. "Ich bin so froh, dass du nicht so schwer verletzt wurdest..."Yelin versucht zu lächeln, aber es gelang ihm nicht so ganz. Noch immer überschattete die Sorge sein ganzes Gesicht. Sie kannten sich zu lange, als das Korell dies nicht erkannt hätte. "Mach dir nicht so viele Sorgen. Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Wenn ich den Rest meines Körpers mehr oder weniger vergesse, dann lässt sich der Schmerz auch einigermaßen gut ertragen...ich-" Ein plötzlicher Schauer durchfuhr ihn und sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz. Der Blutfleck auf seiner Brust wuchs mit erschreckender Schnelligkeit weiter an. "Korell...." Yelin sagte es nicht sehr gerne, aber er musste einfach. "Lass dich von ihnen behandeln, Korell! Sie sind die einzigen, die dir wirklich helfen können! Vertrau mir!" Der Blick seines Freundes verdüsterte sich, als hätte er schon mit etwas derartigem gerechnet. "Ich kann es nicht" sagte er leise und blickte mit schmervollen Augen an Yelin vorbei ins Leere. "Verstehst du Yelin, ich kann es einfach nicht. Es ist zu viel geschehen, als dass ich zulassen könnte, dass sie auch nur in meine Nähe kommen. Erinnerst du dich, was ich dir gesagt habe? Dass ich lieber sterben würde als noch einmal in ihre Hände zu gelangen? Das hat sich nicht geändert, glaub mir. Es tut mir Leid um dich, aber ich kann nicht anders...."Langsam ließ er seinen Kopf wieder zurücksinken und schloss erschöpft die Augen. Yelin musste sich beherrschen, nicht zu schreien, als er sich zu Lorphyr umdrehte. Dieser sah ihn nur traurig an, als bedauere er es ebenso sehr wie er, Korell nicht helfen zu können. "Er stirbt!" meinte er verzweifelt. Das weitere sagte er nicht, doch sein Blick drückte es dafür umso mehr aus: Und wenn er stirbt, dann werde ich mit ihm gehen. Ich werde nicht zulassen, dass er mir noch einmal genommen wird. Lorphyr schien zu verstehen. Fast unmerklich nickte er einem anderen zu, der neben ihm stand und befahl ihm mit leiser Stimme, ein paar Tücher, heißes Wasser, die Salbe und neue Verbände zu holen. Dann kniete er sich zögernd und unter dem erstaunten Gemurmel vieler Mitglieder seiner Gruppe, die um ihn herum standen nieder. Vorsichtig knüpfte er den Knoten auf, der seine Handgelenke verbunden hielt. Er war sich sicher, dass Yelin nicht versuchen würde zu fliehen. Zumindest nicht, bis er sicher gehen konnte, dass seine Freunde mit ihm kamen... Es war zwar kaum der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzudenken, aber schon zuvor war ihm aufgefallen, was für eine seltsame Gruppe die vier doch darstellten. Eine alte Frau, die aber besser mit dem Schwert umgehen konnte als die meisten von ihnen und die ihr besonderes Geheimnis vor den anderen noch nicht gelüftet zu haben schien, ein kleiner Gúdo, der richtig an den anderen zu hängen schien, ein junger Mann, der sich wie ein wundes Tier verteidigt hatte und außerdem tief sitzende Erfahrungen mit den Schwarzen Krieger gemacht und schließlich noch ein ehemaliger Prinz, der noch dazu ein Sanuki war und in dessen Augen die ganze Zeit über schon eine Art tiefsitzende Traurigkeit und Rastlosigkeit gelegen hatte. Oh ja, er wusste, was mit Korell geschehen war...er hatte seine Narben gesehen. Damals, als sie ihn auf die Feste gebracht hatten, hatte ihn seine Schreie nachts nicht schlafen lassen. Sogar heute raubten sie ihm noch ein manches Mal die Ruhe. Und da war da noch die Sache mit Shantora gewesen...Schnell verjagte er den Gedanken an die weißen Bilder voller rotem Blut. Es war nicht gut, an solchen Dingen zu rühren...aber er konnte die Ablehnung von Korell sehr gut verstehen. Er an seiner Stelle hätte wohl nicht anders gehandelt. Ein leises Stöhnen riss ihn aus den Gedanken und er sah, wie Yelin gerade vorsichtig den Verband entfernte. Dann reinigte er die Wunde, trug um sie herum ein wenig Salbe auf und legte ihm schließlich wieder sanft die Stoffbänder um die Brust. Schon allein an der Art seiner Bewegungen erkannte man, wie wichtig ihm dieser Mensch dort war. Nach der Behandlung ließ er sich erschöpft zu Boden sinken und legte die Hand auf die Stirn seines Freundes. Lorphyrs Blick entging nicht, dass die Schürfwunde, die sich zuvor an Yelins Schläfe befunden hatte, schon erheblich zugeheilt war, schneller als eigentlich normalerweise möglich. Hatte dies etwas mit dem Drachen zu tun...? Zu gern hätte er Fragen gestellt, aber er spürte, dass dies nicht der richtige Moment war. In Yelins Augen las er die stumme Bitte, dass er hier bleiben und sich weiter um seinen Freund kümmern durfte. Gleichzeitig erkannte er auch, dass er notfalls bereit dazu war, um dieses Recht zu kämpfen, und sei es mit bloßen Händen. Er spürte, wie die anderen ihn ansahen, doch in dieser Sache gab es nur eines, was er wirklich richtigerweise tun konnte: Seufzend signalisierte er sein Einverständnis. Fast gleichzeitig erscholl hinter ihm ein halb erstauntes, halb empörtes Gemurmel. Lorphyr schloss die Augen. Innerlich bereitete er sich schon auf eine harte Debatte vor, die heute Abend wohl ihren Ort hier am Feuer nehmen würde. Er hoffte nur, dass seine Soldaten hörig genug waren, um seine Beweggründe anzuerkennen... Yelin war mehr als nur erleichtert, als er die Erlaubnis bekam, neben seinem Freund lagern zu dürfen. Lorphyr schien ihm immer undurchsichtiger zu werden, vor allem da er diese Entscheidung anscheinend vollkommen ohne die Zustimmung seiner Männer getroffen hatte. Wer zum Teufel war dieser Elb? Je länger er ihn kannte, desto rätselhafter erschienen ihm seine Beweggründe und Handlungen. Verwirrt schüttelte er den Kopf und wandte sich wieder Korell zu, der nun zu schlafen schien. Seine Gedanken wanderten weiter zu Thame und Physalis. Es war seltsam - obwohl die alte Frau mit Sicherheit ebenfalls gefangen genommen worden war, konnte er nicht die leiseste Spur von ihr entdecken. Ebensowenig erblickte er das Gefäß, in dem der kleine Gúdo untergebracht worden war. Aber irgendetwas sagte ihm, dass den beiden nichts passieren würden, so lange auch er keinerlei Unsinn anstellte. Die nächsten Tage und Nächte vergingen in einem relativen Einerlei. Da er ja nicht viel anderes tun konnte, wachte er eigentlich die ganze Zeit an der Lagerstatt seines Freundes, half ihm beim Essen, wechselte die Verbände und gab Hilfestellung bei dem, was sonst noch so alles anfiel. Seine beiden anderen Gefährten bekam er in dieser Zeit noch immer nicht zu Gesicht, doch ihm wurde immer wieder versichert, dass es den beiden gut ginge. Auch Korell begann langsam aber sicher damit, sich wieder zu erholen. Schon nach zwei Tagen war das Fieber fast verschwunden und auch seine Wunde heilte schon leicht ab. Yelin wusste aus Erfahrung, dass es noch einige Zeit dauern würde bis er sich wieder normal bewegen konnte, aber das Gröbste war mit Sicherheit überstanden. Mit ein bisschen Glück würde er sogar in spätestens einer Woche wieder dazu fähig sein, zu laufen oder zu reiten, ohne gleich ohnmächtig aus dem Sattel zu kippen. Aus den Gesprächen der Elben um ihn herum erfuhr er auch einiges darüber, wie sie in diese Falle hatten geraten können und wo sie nun waren. Sie befanden sich gar nicht so weit entfernt von dem kleinen Wald, indem man sie aufgegriffen hatte. Genauer gesagt waren sie auf der kleinen freien Fläche, die genau zwischen den nördlichsten Ausläufern der Namuren, dem Lainen, dem kleinen Wald und dem großen Sumpfgebiet lag, wenn Yelin Thames Karte noch richtig im Kopf hatte. Das bedeutete, dass sie weder viele Kilometer von der Elbenfeste, noch von der Grenze zum Reich der Enuya trennten! Doch so, wie es im Moment aussah, würden sie ihnen für lange Zeit auch nicht näher kommen, denn wenn die Elben sie wirklich auf ihre Feste bringen wollten...er schauderte bei dem Gedanken daran, was er in den Augen von Korell gelesen hatte, als ihn die Erinnerungen überfielen. Nein, niemandem von seinen treuen Gefährten konnte er eine solche Qual zumuten! Und er war sich ebenfalls sicher, dass Korell sich sein Leben lieber von eigener Hand nehmen würde, als noch einmal in diese schrecklichen Kerker einzuziehen. Und er selbst dachte auch nicht viel anders, wie er feststellen musste. Die Elben hatten sie wohl halb durch Zufall halb durch den Willen sie zu finden erwischt. Anscheinend hatte ihr Oberhaupt, ihren Schilderungen nach der Schwarze Krieger, irgendwie eine Nachricht erhalten, dass sich mehrere Eindringlinge auf dem Weg in ihr Reich befanden und schon den östlichen Ausläufer der Namuren überquert hatten. Keiner wusste, woher er diese Gewissheit hatte, aber dass man sie hier tatsächlich aufgegriffen hatte, bewies schon alleine den Wahrheitsgehalt ihrer Aussage. Mehrere kleine Einheiten waren entsendet worden, um herauszufinden, um wen es sich handle und sie gegebenenfalls auf der Feste auszuliefern. Eigentlich hatten sie sich schon auf dem Rückweg befunden, doch dann waren sie zufällig im Wald auf ihre Spuren gestoßen und da sie natürlich zu Pferde schneller waren als zu Fuß, hatten die Elben sie in einem weiten Bogen überholt, um sie am Ende des Waldes zu erwarten, wo sie ihnen dann auch regelrecht vorschriftsmäßig in die Arme gelaufen waren. Noch immer konnte er sich über diese unglaubliche Stümperhaftigkeit ärgern. Normalerweise hätte er sie schon von weitem hören müssen! Aber nein, stattdessen waren sie wie die Mäuse in die sprichwörtliche Falle gerannt. Der Tonfall, in dem die Männer über den Schwarzen Krieger sprachen, zeigte ihm, dass Lorphyr nicht der einzige war, der mehr als nur einen gewaltigen Respekt vor dem Weißhaarigen empfand. Keiner wusste genau, woher er gekommen war. Tatsache war allerdings, dass er eines Tages, noch als Baby, einfach aufgetaucht war und danach von einer Pflegefamilie aufgezogen wurde. Als er älter wurde, gelangte er schon bald aufgrund seiner außergewöhnlichen Kampfkraft in der Hierarchie nach oben. Einige sprachen davon, dass er ein Sanuki sein musste, doch Yelin hatte nichts dergleichen gespürt und so glaubte er, dass dies nicht der Fall sein konnte. Auch über sie wurde natürlich einiges erzählt. Yelin reichte es, wenn er die Ohren spitzen konnte, denn so fing er auch jede Menge Gesprächsfetzen auf, die sich um sie und ihre Gefährten drehten. Die meisten konnten ihre Abneigung den Menschen gegenüber nur schlecht verbergen. Vor allem er und Korell wurden im Gegensatz zu Thame des öfteren voller Bitterkeit erwähnt und durch geduldiges Lauschen fand er heraus, dass sein Freund mehr Männer getötet haben musste, als er gedacht hatte, bevor man ihn hatte überwältigen können. Doch sie sprachen nicht nur von den Opfern dieses Kampfes sondern auch von anderen Schlachten, die weiter in der Vergangenheit gelegen und unzählige Opfer (auch durch sie) gefordert hatten. Dies erfüllte ihn jedoch erstaunlicherweise nicht mit einem Gefühl der Befriedigung, wie er verwirrt feststellte, sondern eher mit leiser, vager Trauer. Hatte das Morden denn nie ein Ende? Indes war auch hier kein Hinweis auf den Verbleib der Alten Frau zu entdecken, was ihm langsam wirklich sehr seltsam vorkam. Doch so oft und gut er auch zuhörte - er schnappte nicht auch nur ein Wort auf, aus dem er hätte schließen können, was mit ihr geschehen war. Kapitel 10: Gut und Böse ------------------------ Die Tage, die er an Korells Seite verbrachte, schienen schnell zu vergehen, obwohl sie eigentlich eintönig waren und fast immer denselben Ablauf aufwiesen. Auch das Wetter änderte sich nicht wirklich nennenswert. An manchen Tagen zogen, von einem unsichtbaren schnellen Wind getrieben, ein paar Wolken eilig über sie hinweg, aber nie begann es zu regnen oder zu schneien. Lediglich die Nächte konnten inzwischen empfindlich kühl werden. Aber dies machte allen wenig aus, denn im Vergleich zu der Überquerung der Namuren war es immer noch recht warm, fand Yelin. Nach einer guten Woche war es endlich so weit, dass Korell stark genug war, um reisen zu können. Schon in den letzten Tagen war er ein paar Mal probehalber aufgestanden und nicht wie zuvor in tiefem Schlaf gelegen. Sie verbachten viel Zeit damit, miteinander zu reden. Doch nie wurden ihre Gespräche so tief, wie es sich Yelin gewünscht hätte. Er wusste zwar, dass sie viel, viel Zeit füreinander brauchen würden, doch jeden Tag wurde die Wunde in seinem Herzen tiefer und tiefer, wenn sie fast bewusst jedes Thema mieden, das mit dem Inneren des anderen zu tun hatte. An dem Morgen, an dem sie weiterreisen wollten, wurde Yelin zum ersten Mal wieder wirklich bewusst, dass sie Gefangene waren. Natürlich war auch tief in seinem Inneren nie auch nur der leiseste Zweifel daran aufgetaucht, doch Gefangenschaft war für ihn bisher immer etwas anderes gewesen als dies hier. Erst, als man sie auf die Pferde der Gefallenen setzte und ihnen, als sie auf ihrem Rücken saßen, wieder die Hände zusammen band, brannte sich die Erkenntnis wieder schmerzhaft in seinen Geist. Lorphyr hatte natürlich recht, wenn er dies tat und sie noch dazu genau in der Mitte des Zuges reiten ließ, von wo aus ein Entkommen fast unmöglich war. Auch er selbst hätte an seiner Stelle gewiss nicht anders gehandelt. Aber nun konnte er sich der Gewissheit nicht mehr entziehen, was mit ihnen geschehen würde, wenn sie auf die Feste gebracht werden würden. Und endlich erblickte er auch Thame und Physales wieder. Der kleine Gúdo war noch immer hinter dem Glas gefangen und baumelte von der Packtasche des Anführers. Thame hingegen schien genauso wie sie gefesselt worden zu sein, ritt aber sehr viel weiter vorne, so dass eine Verständigung nahezu unmöglich war. Allerdings hatten sie noch immer Zeit genug dazu gefunden, erleichterte Blicke auszutauschen, dass es dem anderen gut ging. Genauso wie sie schien auch die Alte mit dem Nötigsten versorgt worden zu sein. An diesem Tag ritten sie noch nicht die gesamte Zeit. Schon zum späten Nachmittag hin stellte sich nämlich heraus, dass Korell es nicht schaffen würde, sich bis in die Abendstunden noch anständig im Sattel zu halten. Doch auch so waren alle überrascht, dass er es so lange durchhalten konnte. Alle hatten insgeheim damit gerechnet, dass sie zum Mittag schon wieder hätten Halt machen müssen. Yelin wusste natürlich, was für diesen erstaunlichen Schub an Kraft verantwortlich war: Es war schlicht und einfach die Tatsache, dass Korell wieder auf einem Pferd saß. So wie damals schien er auch jetzt fast aufzublühen, als er das sanfte Fell des Tieres berührte. Er liebte Pferde über alles und allein die bloße Nähe des Tieres schien ihm noch zusätzliche Kraft zu verleihen. Natürlich entging auch dieses Detail nicht den wachsamen Augen von Lorphyr. Doch er sagte, ganz wie es seine Art zu sein schien, kein Wort dazu. Erst am späten Nachmittag, als sie erneut Halt machten und ihr Lager aufschlugen, bat er Yelin mit einer Handbewegung, zu sich zu kommen. Dieser hatte selbstverständlich registriert, dass man ihnen die Fesseln auch jetzt nicht abnahm und in ausreichender Ferne zu Thame und Physales ihren Schlafplatz herrichtete. Mit leisen Zögern folgte er dem hochgewachsenen Elb durch das dämmrige Lager. An einem kleinen Feuer an seinem Rande ließ er sich nieder und hieß Yelin, es ihm gleich zu tun. Dieser kam seiner Aufforderung mit einiger Verspätung nach und setzte sich ihm gegenüber nahe an die brennenden Scheite heran, damit sie auch ihm etwas von ihrer Wärme abgaben. Schweigend aßen sie etwas, um den Hunger in ihren Mägen zu stillen. Er fragte sich vergeblich, warum Lorphyr ihn her gebeten hatte. Seit dem Gespräch, nachdem er ihn zu Korell geführt hatte, hatten sie nicht mehr viel miteinander zu tun gehabt. Dennoch war ihm natürlich nicht entgangen, dass der Grauhaarige ihm von Zeit zu Zeit nachdenkliche Blicke zugeworfen hatte. Doch im Grunde hatte er nicht weiter über ihn nachgedacht - höchstens noch über die Worte, die sie miteinander gewechselt hatten. Diese jedoch hatten ihn tiefer bewegt, als er selbst zugeben wollte. Schweigend starrte er auf Lorphyr, der vor ihm saß und blicklos ins Feuer sah. Yelin wusste nicht, was er dort sah, doch sein Gesichtsausdruck verriet, dass es nicht unbedingt besonders positiver Natur war. Endlich durchbrach er seine Erinnerung und sah zu ihm auf. In seinen Augen spiegelte sich noch immer der Schrecken vergangener Tage. "Manchmal überfallen sie einen einfach so." meinte er plötzlich leise. "Die Erinnerungen. Du stehst oder sitzt irgendwo und auf einmal taucht es alles vor deinen Augen wieder auf...du möchtest dich abwenden und kannst es nicht. Sie ist wie ein Fieber, dass sich immer weiter in dich hinein frisst und für das es keine Heilung gibt." Erstaunt sah Yelin auf. Diese Worte gehörten definitiv nicht zu dem, womit er gerechnet hatte. Fast schon ungewollt sah er wieder die elfenbeinernen Krallen aufblitzen und das Blut....Blut, silbern wie der Schatten des Mondes. Doch was hatte Lorphyr erlebt? Zu gerne wünschte sich Yelin nun die Fähigkeit Physales', die Gedanken anderer lesen zu können. Doch als er die Verletztheit erkannte, die in seinen Worten gelegen hatte, da war er sich nicht so sicher, ob er auch noch dies ertragen hätte. "Weißt du, warum wir Elben euch Menschen so sehr gehasst haben und auch teilweise noch heute hassen?" fragte sein Gegenüber unvermittelt. Als Yelin andeutungsweise den Kopf schüttelte, fuhr er fort: "Damals, als die Menschen und Elben noch friedlich und in Freundschaft zusammen lebten, gab es viele magische Wesen auf dieser Welt. Unendlich mehr, als du es dir auch nur vorstellen kannst. In dieser Zeit waren sie für alle so selbstverständlich wie die Waffe, die du sonst immer bei dir trägst. Das klingt jetzt alles wie eine dieser schrecklich kitschigen Geschichten aus den Alten Zeiten, wo eh noch alles besser war. Natürlich war die Welt damals nicht frei von Krieg und Streit, Sorge und Kummer, so wie du vielleicht jetzt meinst. Das Schlechte in menschlich aussehenden Wesen findet immer einen Weg sich ausdrücken, dies gehört zu unserem Wesen. Aber es entspricht vielleicht eher der Wahrheit, wenn ich sage, dass die Grausamkeit noch nicht so sehr Einzug gehalten hatte wie es heutzutage der Fall ist. Jedenfalls bemerkten wir Elben nach einer gewissen Zeit, wie wenig die Menschen sich noch um die Wesen zu kümmern schienen, die in ihrer Nähe wohnten. Sie begannen mehr und mehr, für sich zu leben und die Natur nach ihren eigenen Interessen umzuformen und zu verwenden. Wir merkten es daran, dass immer weniger magische Wesen in der Nähe der Menschen lebten. Sie verschwanden nach und nach, fast unmerklich, so dass es kaum jemanden auffiel. Die Menschenkinder waren vielleicht die einzigen, die es wirklich mitbekamen. Doch aus Kindern werden Erwachsene und in gleichem Maße wie ihre Fantasie schwindet, so schrumpft auch ihr Bewusstsein für die Wesen dieser Welt. Wir Elben zogen daraus auch den Schluss, uns mehr und mehr von unseren Freunden zu entfremden, bis wir uns schließlich in fast völliger Isolation zurück gezogen hatten. Du hast es vielleicht bemerkt, als ihr den Weg in diese Richtung beschritten habt: Je näher ihr unserem Reich gekommen seid, desto mehr Magie ist euch begegnet, nicht wahr? Sie haben sich mit uns zurück gezogen, diese Wesen. Auch sie hatten diese Entwicklung erst voller Trauer, dann voller Zorn beobachtet. Aber schließlich sahen sie keinen anderen Weg..." Yelin musste an den Palyn und den Weißen Dämon denken, denen sie begegnet waren. Er wusste nicht warum, aber mit einem Mal fühlte er sich schrecklich schuldig. "Aber warum.....warum habt ihr es nicht einfach dabei belassen? Warum musstet ihr unbedingt versuchen, uns zu vernichten?" Lorphyr lächelte ein Lächeln, das keines war. Dann nahm er einen kleinen Stock in die Hand und stocherte damit gedankenverloren in dem Feuer herum, während er weiter erzählte. "Weißt du, was mir als Kind einmal passiert ist? Ich liebte es damals schon immer, bei den Älteren mit zu reiten und dann alleine im Alten Wald zu spielen. Ich war ungeheuer fasziniert von ihm und seiner unglaublichen Größe und Schönheit. Die Gúdo und Sylphiden liebten es immer, mich zu necken und mit mir zu spielen. Als ich eines Tages wieder einmal zu ihnen gehen wollte, hörte ich lautes Wehklagen und rannte zu der Stelle, woher diese schrecklichen Geräusche kamen. Es war eine kleine Lichtung - diejenige, auf der ich bis jetzt immer am liebsten gespielt hatte. Und weißt du, was ich dort sah? " seine Stimme zitterte sanft, als ihn die Erinnerung wieder einholte. "Es war eine Dryade. Eine wunderschön anzusehende, zeitlose Dryade. Doch als ich näher herantrat, erkannte ich, dass sie nicht mehr lebte. Ich weiß nur noch, dass ich leise zu Weinen anfing, als mir klar wurde, was geschehen war. Die Sylphiden erzählten mir, dass sie von sehr weit her gekommen wäre. Dort, wo sie einst gelebt hatte, war sie der Geist eines wunderschönen, uralten Baumes gewesen, der schon viele Zeitalter miterlebt hatte. Er hatte zusammen mit anderen seines Stammes einen kleinen Wald gebildet. Doch eines Tages wären die Menschen erschienen und hätten einen nach dem anderen von ihnen abgeholzt. Du weißt sicherlich, dass die Dryaden sterben, wenn sie erst einmal so sehr mit ihrem Baum verbunden sind wie diese hier und sie dann einfach getötet werden. Hätten die Menschen nicht so gedankenlos gehandelt und Bäume gefällt, die noch nicht so alt waren, so hätte sich der entsprechende Baumgeist vielleicht noch eine neue Pflanze suchen können ohne an seinem Tode zugrunde zu gehen. Diese Dryade war die einzige gewesen, die den langen Weg hierher geschafft hatte. Warum sie unbedingt dorthin wollte, wusste mir keiner von ihnen zu sagen... Weißt du, in diesem Moment habe ich euch wirklich gehasst. Euch und eure Ignoranz, euer ganzes, seelenloses Streben nach euch selbst und eurem höchsten Wohl! Diese Erfahrung war der Grund, warum ich kämpfen wollte, anstatt einer der Bewahrer zu werden. Die Bewahrer sind diejenigen bei uns, die sich um die Wesen kümmern und versuchen, sie zu schützen...doch damals habe ich einen alles verzehrenden Hass gespürt, eine brennende Wut. Da konnte ich auch verstehen, was meine Vorfahren dazu trieb, euch alle auslöschen zu wollen....wenn du dieses Feuer in dir trägst, dann ist dir nichts mehr heilig." Lange schwiegen sie nach dieser Erzählung. Yelin vermeint auf einmal, jenen schrecklichen Schmerz zu spüren, der seinen jungen Gegenüber von her zerfraß. Doch... "Aber dies kann nicht die Lösung sein." flüsterte er leise. "Das kann es nicht. Ich kann schlicht nicht glauben, dass es keinen anderen Weg geben soll. Einen Weg, der allen von uns das Leben lässt, der Magie, den Menschen, den Elben. Warum gibt es keinen Weg des Friedens? Sag mir, warum?" er ballte die Fäuste und hätte ihn beinahe angeschrieen. "Weil wir verdammt sind. Es liegt in unserer Natur, deiner wie meiner, Kriege zu führen, zu kämpfen, zu töten - zu vernichten. Wir können nicht anders, weil wir so geboren wurden. Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es ja auch komplett falsch, dass wir versuchen, die schwindende Magie noch irgendwie hier festzuhalten. Vielleicht ist sie zum Untergang bestimmt und ihr wie auch unser Zeitalter geht zu Ende. Doch wegen einem bin ich mir sicher...dass, was wir tun, ist genau so wenig richtig wie das, was ihr tut. Aber ich glaube nicht, dass es jemals einen Weg geben wird, bei dem alle glücklich werden. Das kann es gar nicht geben. " Seine Stimme versiegte immer mehr, bis er die letzten Worte gesprochen hatte. Mit Tränen in den Augen nickte Yelin. Er wusste genau, was Lorphyr meinte. Gleichzeitig wurde ihm klar, dass sie beide sich im Grunde ihres Herzens sehr, sehr ähnlich waren. "Aber warum erzählst du mir das alles?" Wieder lächelte der Elb vor ihm und dieses Mal schien es so etwas wie ein ehrliches Lächeln zu sein. "Ich bin mir nicht sicher. Aber als ich deinen Namen hörte, da wusste ich, dass vielleicht du mich verstehen würdest...ich habe nicht ohne Grund damals nach deinem Namen gefragt. Wie gesagt, beinahe wäre ich ein Bewahrer geworden. Dies lag allerdings nicht nur an meiner Liebe zu anderen Wesen, sondern auch an der seltenen Gabe, den Sinn ihrer Worte verstehen zu können. Und die Vögel des Alten Waldes erzählten mir von deinem Kampf mit dem Drachen und wie du ihn schließlich töten musstest. Sie wussten mir auch von deinem Besuch bei der Yonami zu berichten und eurer Reise bis in diesen kleinen Wald. Eigentlich hätte ich euch auch an dem Ausläufer der Namuren auflauern können, als ihr aus dem Tal gekommen seid.....aber irgendetwas hielt mich davon ab, dies zu tun. Vielleicht war es das pure Interesse, zu sehen, wie weit ihr kommt....vielleicht war es Mitleid mit dir und deinem Schicksal, vielleicht auch nur bloße Neugierde, wer du wohl sein mochtest." Wieder eine von vielen erstaunlichen Offenbarungen, die Yelin heute erhielt. Und sein Gefühl sagte ihm, dass die bisherigen lange nicht die einzigen bleiben würden..... "Du weißt also von meinem Kampf mit dem Drachen?" murmelte er. Er hasste es, wenn an dieser Wunde gerührt wurde. Aber seltsamerweise schien der Schmerz ein wenig abzuklingen, als er darüber sprach. Er fühlte sich ein wenig verräterisch für solche Gefühle. Normalerweise hätte Korell derjenige sein müssen, mit dem er diese Erlebnisse das erste Mal teilte. Doch jetzt, wo er einmal damit angefangen hatte, davon zu reden, konnte er auch nicht mehr aufhören. Und so wartete er gerade einmal das sanfte Nicken von Lorphyr ab, ehe er auch schon begann, zu erzählen. Eigentlich wollte er es gar nicht, doch sogar die Worte der Prophezeiung Yonamis flossen von seinen Lippen, als hätten sie schon die ganze Zeit darauf gewartet, ausgesprochen zu werden. Nachdem er seine eigene Erzählung beendet hatte, war es schon tiefe Nacht geworden und die meisten anderen Elben hatten sich schon längst schlafen gelegt. Doch sie blieben noch immer sitzen, sahen in die samtige Nacht hinaus und träumten von vergangenen Tagen, die in alle ihrer Pracht wohl nie wieder kehren würden. Erst nach langer Zeit hob wieder einer von ihnen zu sprechen an. Diesmal war es Lorphyr. "Danke." sagte er einfach nur. "Danke, dass du mir dies alles erzählt hast. Ich weiß, wie unglaublich schwer es ist, über solche Erfahrungen schlicht und einfach nur zu sprechen......" seine Augen verdüsterten sich ein wenig und Yelin erkannte, dass auch er etwas ähnlich einschneidendes erlebt haben musste. Und das noch außer dem Erlebnis mit der Dryade. Doch er beherrschte sich und drängte den jungen Elb ihm gegenüber nicht mit Fragen. Stattdessen meinte er zu ihm: "Lorphyr...eines verstehe ich noch nicht. Ich weiß nun, was für eine Wut ihr gegen die Menschen hegt, aber...warum habt ihr das Korell angetan? Warum habt ihr ihm diese schrecklichen Wunden zugefügt, die ihn noch heute plagen?" Diese Frage hatte ihm schon die ganze Zeit mehr oder weniger auf der Zunge gebrannt und nun endlich stellte er sie. Wieder sah sein Gegenüber lange ins Feuer bevor er ihm antwortete. Und dieses Mal schwangen auch leise Schuldgefühle in seiner Stimme mit. "Du kennst noch nicht einmal die ganze Geschichte, Yelin. Shantora...aber nein, fangen wir von vorne an. Du erinnerst dich sicher, vor sieben Jahren wurde er zu uns auf die Burg gebracht, als Gefangener. Dort haben sie ihn fast ein ganzes Jahr lang in den Kerker gesperrt und gefoltert. Die Wunden hast ja gesehen, wie ich denke....." Oh ja, Yelin konnte sich leider nur noch allzu gut an die vielen Striemen erinnern, die den Körper seines Freundes über und über bedeckten. Er wusste, dass er diesen Anblick wahrscheinlich nie wieder würde vergessen können. Lorphyr verstand seine stumme Bitte und fuhr fort zu erzählen. "Seine Schreie ließen mich nachts nicht schlafen. Ich konnte nicht verstehen, wie man jemand anderem so etwas antun konnte. Damals war ich noch ein recht junger, unerfahrener Soldat, hatte in keiner Schlacht gekämpft und noch nicht gesehen, was Elben und Menschen einander antun konnten. Manchmal verfolgen mich diese schrecklichen Schreie noch in der Nacht und lassen mich wieder schweißgebadet erwachen. Ich weiß nicht, was sie alles mit ihm gemacht haben, aber es muss wirklich schrecklich gewesen sein. Doch ich war nicht der einzige, der so dachte. Ich kenne viele meiner Kameraden, die genauso dachten wie ich und auch noch immer unter den Geräuschen leiden, die sie von unten vernommen haben. Nach fast einem Jahr aber war es plötzlich vorbei. Ich erfuhr von einem Freund, was geschehen war: Korells Peiniger hatte ihn so systematisch zerstört, dass er nun der Meinung war, dass er nie wieder normal würde leben können. Die Narben, die er auf seinem Körper hinterlassen hat, sind sehr tief. Aber noch grausamer sind mit Sicherheit die, die sich auf seiner Seele befinden. Und so gaben sie ihm seinen Bogen zurück, Kleidung, Essen und ließen ihn gehen. Einfach so, von heute auf morgen. Ich weiß nicht, wie er das hat überleben können, ohne daran zu zerbrechen, doch irgendwie muss er es geschafft haben. Und du kannst die sicherlich denken, wer derjenige war, der sich für seine Qual verantwortlich zeigte..." Yelin nickte nur stumm. Gleichzeitig verspürte er immer größeres Erschrecken und ein Mitgefühl mit Korell, was tiefer ging als alles anderes bisher gespürte. Doch daneben wuchs auch etwas andere in ihm heran: ein unstillbare, verzehrender Hass auf den Mann, der ihm all dies angetan hatte. Aber er versuchte, seiner Wut Einhalt zu gebieten und zwang sich, Lorphyrs Ausführungen weiterhin ruhig zu folgen. "Der Schwarze Krieger." Die Art, wie der Elb den Namen aussprach, ließ in ihnen beiden die selbe Ansicht entstehen: Hoch aufgerichtet, mit wehenden weißen Haaren, in eine schwarze Rüstung gehüllt, sein schlankes Schwert in der Hand und den alles durchdringenden Blick aus seinen stahlblauen Augen, der einen innerlich zu Eis erstarren ließ. Wie um dieses klirrende Bild zu verscheuchen, fuhr er fort: "Obwohl man es nicht meinen möchte, hat auch er eine eigene, traurige Geschichte. Man sagt, er sei mittlerweile über sechzig Jahre alt, doch in seiner frühen Jugend war er so ganz anders als in den heutigen Tagen. Ich habe mit einigen der Älteren gesprochen, die schon hunderte von Jahren vorbeiziehen sahen. Sie erzählten, dass er mir damals sehr geähnelt habe, in seiner Liebe zu Natur und der eigentlichen Freude, die er an allen Dingen empfand. Schon früh erkannte man jedoch auch sein außergewöhnliches Talent für den Schwertkampf. Es stand zwar fest, dass er keiner der Sanuki sein konnte, doch die Tatsache, dass in ihm ein wahrer Meister in dieser Sache heran wuchs, bezweifelte niemand. Eigentlich hätte es wie eine Geschichte aus den alten Märchen werden können: Er verlobte sich schon bald mit einer jungen Elbin, die er über alles liebte. Keiner weiß mehr ihren Namen oder aber man vermeidet es nun, ihn auszusprechen. Man weiß nur noch so viel, dass sie statt ihm die Sanuki war, die uns geboren wurde. Bald waren die beiden die einzigen, die sich noch miteinander messen konnten ohne sich bei diesen Duellen ernsthaft zu verletzten..... Nachdem sie schon mehrere Jahre verheiratet waren, kam es wieder einmal zu einer großen Schlacht mit euch Menschen. Doch sie wussten dieses Mal aus irgendeinem Grunde, dass eine Sanuki mitkämpfen würde. Und so kam es dann auch, dass sie sich alle darauf konzentrierten, sie zu töten...Selbst eine Sanuki kann nicht ewig überleben, wenn sie von ihrem Heer abgeschnitten, in die Enge getrieben und dort feige mit Pfeilen beschossen wird. Es wird auch gesagt, dass der Schwarze Krieger alles mit ansehen musste. Er stand dabei, kämpfte darum, zu ihr zu gelangen und musste hilflos erblicken, wie man sein Herz vernichtete. Einige Quellen meinen melodramatisch, sie wäre in seinen Armen gestorben, aber ich glaube, sie war schon tot, als er sie endlich berühren konnte. Es heißt, dass in diesem Moment nicht nur sie starb. Auch er begrub zur gleichen Zeit all seine Gefühle, seine menschlichen Regungen unter einem Panzer von Trauer, Verzweiflung und vernichtendem Hass. Alles, was er bisher empfunden hatte, wandelte er über seinen unglaublichen Verlust um in dem Durst nach Rache und einer Grausamkeit, die noch bis heute seinesgleichen sucht. Ich glaube, als er euch beide damals sah, da erkannte er die tiefe Bindung, die zwischen euch bestand und der seinigen zu seiner ehemaligen Frau von ihrer Stärke her so sehr ähnelte. Er fühlte wohl gleichzeitig Neid und das dringende Bedürfnis, sich endlich gebührend für seinen erlittenen Schmerz zu rächen. Und da er genau wusste, dass er dir somit am meisten weh tun würde, wenn er deinen Freund nicht tötete, sondern systematisch zerstörte, war ihm klar, was er zu tun hatte. Deswegen tötete er dich nicht.....er sah wohl tief in sich, wie ähnlich ihr beide euch eigentlich im Grunde eures Herzens ward. Und somit war es seine größte Freude, dich und ihn gleichzeitig leiden zu sehen. Er hätte euer beider Glück nicht ertragen, denke ich. Im Grunde genommen ist er nichts weiter als ein bemitleidenswertes Wesen, dass sich hinter seine Mauer aus Selbsthass, Zweifel und dem verlorenen Glauben an eine gerechte Welt selbst vergraben hat." Diese Geschichte berührte Yelin tiefer, als er selbst zugeben wollte. Auch er erkannte ungewollt die Parallelen, die zwischen ihnen existierten und war gleichzeitig voller Angst, was aus ihm werden könnte, wenn er Korell endgültig verlor. Nein, er wollte sich nicht in solch ein...solch ein Ungeheuer verwandeln, auch wenn er verstand, wie es dazu gekommen war. "Aber das kann doch nicht der richtige Weg sein. Ich verstehe ihn sehr gut, vielleicht sogar noch besser als ich es jetzt im Moment weiß. Doch ich bin sicher, dass diese ausufernde, rücksichtslose Gewalt nicht das sein kann, was diesen Konflikt erfolgreich zu Ende führt!" meinte er schließlich. "Nein, du hast recht. Gewalt kann letztendlich nie das Mittel sein. Selbst dann nicht, wenn sie ursprünglich nur Frieden erzeugen will. Aber es ist der Weg, den er gewählt hat. Und ich denke nicht, dass er imstande ist, jetzt auch nur einen einzigen Schritt davon abzuweichen...." Ja, da hatte er vermutlich recht. Beschritt man auch nur einmal diesen verhängnisvollen Pfad des Hasses, so konnte man ihn nur schwerlich wieder verlassen. Dies galt sowohl für Menschen als auch für die Elben. Er hoffte nur, dass dies auch irgendwann von jenen eingesehen wurde, die sich schon längst auf ihm befanden.....Irgendetwas sagte ihm, dass die ganze Geschichte noch nicht zu Ende war, sondern erst noch ihren schrecklichen Höhepunkt erreichen würde. Nun war er der Antwort auf die Frage, was Korell gleichzeitig gerettet wie in noch tieferes Verderben gestürzt hatte, so nahe wie nie zuvor. Lorphyr schien zu wissen, was Yelin nun von ihm erwartete, denn er schloss kurz die Augen und verbarg sein Gesicht in den Händen. Das, was er nun erzählen musste, hatte er noch niemals zuvor irgendjemandem anvertraut. Aber wie auch Yelin zuvor, hatte er das Gefühl, dass nun der Zeitpunkt gekommen war, seine schmerzvollen Erfahrungen zu teilen. Und so begann er erst stockend, doch dann immer flüssiger damit, das letzte Kapitel der Geschichte aufzuschlagen und vor Yelin auszubreiten. "Ich habe vorhin angesprochen, dass ich nicht verstand, wie Korell dies überleben konnte. Doch das stimmte nicht so ganz. Es ist zwar nicht bekannt, wie lange es dauerte, bis er sie fand, doch dass er schließlich bei ihr war, ist unbestritten. Sie...das war Shantora. Ich erinnere mich an sie. Sie ging aus der Verbindung eines Menschenmannes mit einer elbischen Frau hervor. Ihr Vater und ihre Mutter waren immer auf der Flucht, nie sicher vor den Vertretern ihrer Stämme, die sie beide mit Verachtung straften und verfolgten. Und so lehrten diese sie schon von Kindesbeinen an den Umgang mit Waffen wie Schwertern, Dolch und Bogen. Aber sie schärften ihr ein, dass sie diese nur benutzen dürfte, um ihr Leben zu verteidigen, niemals um das anderer vorsätzlich auszulöschen. Sie befolgte diesen Vorsatz treu und auch als man ihre Eltern schließlich fand und tötete, benutzte sie ihr Schwert nicht dazu, um Rache zu üben. Stattdessen zog sie sich zurück an die Stelle, an der die kleine Bergkette im Norden des Alten Waldes an das Ufer des Meeres mündete. Dort lebte sie und erstaunlicherweise wurde sie sowohl von den Menschen als auch von den Elben in Frieden gelassen. Vielleicht hatten sie Respekt vor ihr oder aber fürchteten sich vor einer Frau, die aus solch einer Bindung hervor gegangen und mit solchen Fähigkeiten gesegnet worden war. Ich bin mir nicht sicher, wer von beiden wen als erstes fand: Aber es ist sicher, dass sie diejenige war, die Korell dabei half, die Wunden auf seiner Seele ein wenig zu heilen. Ihre Beziehung mit dem Wort "Liebe" zu beschreiben, erscheint mir bei weitem zu wenig, nach dem, was ich gesehen habe. Es war eher eine tiefgreifende Verbindung, die zwischen ihnen bestand, eine Seelenverwandtschaft, deren Intensität mit Worten nicht zu beschreiben ist. Vielleicht hätte Korell dort glücklich werden können und vielleicht hätte er auch vergessen können, was geschehen war. Aber dann...über fünf Jahre lebten sie gemeinsam dort oben. Doch dem Schwarzen Krieger flüsterte ein Vogel zu, was ihnen widerfahren war und so machte er sich auf den Weg, die glückliche Gemeinschaft dort oben aufzuspüren. Ich denke, dass es im Grunde derselbe Grund wie zuvor war, der ihn dazu antrieb dies zu tun. Er wollte Korell zerstören. Und als er erkannte, welche Erfüllung er wieder hatte finden können, da erwachte in ihm der grimmige Wunsch, ihm zu zeigen, was man ihm angetan hatte, ihm gleiches mit gleichem zu vergelten, wenn du so willst. Und so machte er sich eines Nachts auf den Weg, allein und ohne Begleitung, seine Schritte von Vergeltung gelenkt und in seinem Kopf nur die leisen Worte des kleinen Sperlings, der ihm sagte, wo sie zu finden waren." Lorphyr machte eine kleine Pause und schien wieder in Erinnerungen zu versinken. Doch Yelin wagte es nicht, ihn zu fragen, was dann geschehen sein mochte. Er konnte es sich leider nur allzu gut ausmalen und wollte den Elben vor ihm nicht durch unnötige Fragen unterbrechen. "Das, was darauf folgte, werde ich immer verwünschen. Als man am nächsten Morgen sein Verschwinden entdeckte, schickte man nach mir und der kleinen Einheit, deren Hauptmann ich gerade vor ein paar Wochen geworden war. Man sagte uns, dass man nicht wüsste, wohin der Schwarze Krieger gegangen sei, doch genau so wie ihm erzählten auch mir die Vögel von dem, was sie sahen. Und so erfuhr ich welche Richtung er eingeschlagen hatte. Ich wusste es damals noch nicht, doch ich traf eine der verhängnisvollsten Entscheidungen meines Lebens, als ich mich freiwillig mit meinen Leuten dazu anbot, ihn zu suchen, beziehungsweise hinterher zu eilen. Aber wir kamen zu spät. Irgendwie war mir das ab dem Moment klar, wo ich die Sonne in blutroten Schlieren am Horizont untergehen sah...ich trieb sie an und wahrscheinlich war ich nie in meinem Leben schneller zu Pferde unterwegs als in dieser Nacht. Doch am nächsten Morgen...nie werde ich diesen Anblick vergessen." Wieder schwieg er und Yelin sah, wie sich seine Augen verdüsterten, als er sich das, was er gesehen hatte noch einmal Stück für Stück in seiner grausamen Deutlichkeit ins Gedächtnis rief. "Es war tiefer Winter, als es geschah. Die Bäume waren kahl und standen schwarz und leer auf der verschneiten Fläche. Das Meer trieb in dunklen, rauen Wellen ans Land und schuf so ein Grollen, dass aus den Tiefen der Erde selbst zu kommen schien. Die Berge schienen hohnlachend auf mich hinunter zu blicken, als ich mir immer langsamer werdend und in Vorahnung des Schreckens, der mich dort erwarten würde, meinen Weg zu der kleinen Hütte bahnte, die sich sanft an einen Felsen zu schmiegen schien. Er musste sie überrascht haben - vielleicht war er wie der Weiße Dämon höchstpersönlich aus dem Schnee gekommen, um Verderben über sie zu bringen. Wären wir nur ein wenig schneller gewesen...hätte ich nur geahnt, was passieren würde. Sie hatte sich noch wehren können, so viel war klar. Weißt du, wie rotes Blut aussieht, wenn es auf weißen Schnee trifft und die letzten Strahlen des Mondes es sanft zum Erleuchten bringen? Es scheint nicht mehr rot, sondern von einem tiefen Schwarz und silbrig glänzend zu sein. Sie hatte noch kämpfen können - ich verfolgte die Spuren ihres Kampfes bis unter die leeren Äste der Bäume, die sich selbst wie in schwarzer Trauer bis über den Boden zu neigen schienen. Letztendlich hatte sie jedoch keine Chance gegen ihn gehabt. Dieser Blick...ich werde ihn noch heute nicht los. Ihr schwarzes Haar...vermischt mit dem weißen Schnee. Dazu ihr rotes Gewand, dessen Farbe sich nicht von der ihres dunklen Blutes unterschied, dass sie von allen Seiten umgab. Ihr Blick war starr und schien mich vorwurfsvoll anzusehen, wie ich das hatte zulassen können. Die Finger umklammerten noch immer den Griff ihres Schwertes, klamm und steif gefroren von dem kalten Schnee, der ihr das letzte Ruhelager bereitete. Ich habe nie wieder etwas gesehen, das von so unendlich trauriger Schönheit war. Ich fühlte mich schuldig - ich weiß nicht, wie lange ich neben ihrem Leichnam kniete und leise weinte, sie besinnungslos anschrie, dass es nicht meine Schuld war und verzweifelt versuchte, ihren Blick zu vergessen. Aber das ist mir bis heute nicht gelungen. Oft genug, wenn ich die Augen schließe, erscheint sie mir wieder und verfolgt mich..." hier brach seine Stimme endgültig und Yelin konnte sehen, wie seine Hände zitterten. Als er den Kopf hob, sah er es in seinen Augenwinkeln leise und feucht schimmern. Die letzten Worte von Lorphyr erinnerten ihn nur zu deutlich an das, was er selbst hatte erleben müssen. Dieses Blut....die silbrige Klinge von Norai und das Blut, das alles bedeckte. Oh ja, wenn er die Augen zumachte, dann konnte auch er es wieder sehen, so deutlich als sei es erst gestern gewesen. Lorphyr sah ihn lange an. Schließlich erhob er sich leise und ging in die erstarkende Dunkelheit hinein, die sie nun von allen Seiten umgab. Doch schon nach wenigen Augenblicken kehrte er wieder zurück - und obwohl er es in ein Tuch gewickelt trug, sah Yelin an dem mattschwarzen Glanz, dass er Norai auf seinen Armen hielt. Erstaunt wollte er eine entsprechende Frage stellen, doch etwas an Lorphyrs Verhalten sagte ihm, dass er es nicht nötig hatte. Schweigend kniete sich der Elb neben ihm nieder und zog seinen Dolch aus seinem Gürtel. "Streck die Hände aus!" forderte er sanft. Yelin gehorchte und schon ein paar Augenblicke später fielen die Reste seine Fesseln durchtrennt zu Boden. Noch immer erstaunt und mit zitternden Händen nahm er Norai entgegen, als es ihm wortlos entgegen gestreckt wurde. Dann ließ sich Lorphyr wieder ihm gegenüber nieder und sah ihm tief in die Augen. "Wenn du willst, so kannst du jetzt gehen." flüsterte er mit leiser, jedoch nachdrücklicher Stimme. "Hiermit bist du frei, ebenso wie deine drei Freunde." Doch Yelin rührte sich nicht vom Fleck. "Warum tust du das?" fragte er ihn und schob zögernd die Klinge seiner Waffe wieder zurück, wo sie eigentlich hingehörte. Es tat gut, ihr Gewicht wieder an seiner Seite zu spüren. Doch er hatte nicht vor, jetzt so einfach zu gehen. "Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht liegt es daran, dass ich in dir so viel von mir selbst wieder erkenne. Deine verzweifelte Suche nach dem Sinn, dein Streben nach Erlösung - du bist so, wie ich auch einst war. Noch voller Hoffnung und Mut, etwas verändern zu können. Vielleicht gelingt dir ja, was ich so lange vergebens versucht habe. Ich hoffe es so sehr. Denn ich mache mir keine Illusionen darüber, was mit mir geschehen wird, sobald man von der ganzen Sache hier erfährt. Und ich bin mir ebenfalls sicher, dass ich es nicht ertragen könnte, noch einmal diese schrecklichen Schreie zu vernehmen, die mir damals den Schlaf raubten. Es ist so vieles, was ich in euch sehe - Idealismus, Verzweiflung, Freundschaft und Hoffnung. Ihr könnt es schaffen. Ihr werdet es schaffen, da bin ich mir sicher. Yelin, nimm dein Schwert, nimm deine Freunde und geht eures Weges!" Der ehemalige Prinz war in diesem Moment vielleicht derjenige, der am besten ermessen konnte, wie schwer es dem Elb fiel, diese Worte zu sagen. Und dennoch konnte er dieses unglaubliche Geschenk nicht einfach annehmen. "Nein." sagte er sanft, aber sehr bestimmt. "Ich weiß, dass ich dich nicht im Stich lassen werde. Genau so wenig, wie ich es bei Physales, Thame oder Korell tun würde. Verstehst du nicht? Dadurch, dass du mir dein ganzes Selbst anvertraut hast, dadurch, dass du dich mir bis ins Innerste offenbart hast, haben wir gemeinsam etwas geschaffen, was uns aneinander bindet. Und ich bin nicht gewillt, dieses Band einfach durchzuschneiden, mein Freund." Mit diesen Worten erhob er sich und schritt mit leisen Schritten zurück zu seinem Lager, um sich behutsam neben Korell auf der Decke nieder zu strecken. Sein Freund schlief schon lange den tiefen Schlaf der Erschöpften und atmete tief und regelmäßig. Auch Yelin kam wieder Erwarten bald zur Ruhe. Die Informationen, die er in diesen wenigen Stunden heute Abend empfangen hatte, waren vielleicht zu viel gewesen. Doch er wusste, dass der Sturm, den sie auslösen würden, mit Sicherheit erst noch kommen würde. Um dafür gewappnet zu sein, würde ihm der Schlaf mit Sicherheit erst einmal sehr gut tun. Der nächste Morgen kam schnell und nach Yelins Empfindungen viel zu eilig. Er hatte das schlechte Gefühl, in dieser Nacht kaum mehr als ein paar Stunden geschlafen zu haben, was durchaus auch der Wahrheit entsprechen konnte. Doch nicht einmal seine Träume hatten sich als besonders erholsam erwiesen...... Das erste, was er bemerkte, war die absolute Stille, die um sie herum herrschte. Sonst waren immer ein paar Elben schon wach gewesen und wie aufgescheuchte Insekten um sie herum gerannt. Doch heute schien alles ungewöhnlich ruhig. Als er die Augen aufschlug, erkannte er auch den Grund für das Ganze: Der Platz um sie herum war leer. Bis auf die Gestalten von Physales, Thame, Korell und Lorphyr waren alle anderen verschwunden. Diese vier saßen hingegen neben einem kleinen Feuer und verspeisten allem Anschein nach ihr Frühstück. Noch immer recht verblüfft erhob sich Yelin und tastete mit der Hand nach Norai. Tatsächlich. Seine Waffe fand sich wirklich noch da, wo er sie gestern zurück gelassen hatte - nämlich genau in seinem Gürtel steckend. Langsam richtete er sich auf und ging gähnend zu den anderen hin, die ihm schon einen Platz zwischen sich frei gehalten hatten. Dort erfuhr er dann im Laufe des Frühstücksgespräches den Grund für die plötzliche Leere: Lorphyr hatte alle seine Männer fortgeschickt, ohne Begründung, sie nur einfach aus "seinen Diensten entlassen." Und warum das alles? Es war einfach: Er wollte sie zumindest ein Stück des Weges begleiten. Denn er kannte die Wege, die sie zur Grenze des Enuya-Reiches führten. Und was noch viel wichtiger war: er lieferte ihnen den wertvollen Hinweis, dass es nur eine einzige Brücke über den Lainen gab und diese wurde für gewöhnlich recht gut bewacht. Vielleicht konnte er ihnen ja dabei behilflich sein, sie zu überschreiten. Korell war der einzige, der sich nicht sehr erbaut von diesem Vorschlag zeigte. Nach dem, was er gestern Abend gehört hatte, konnte ihn Yelin auch sehr gut verstehen. Wenn er dasselbe erlebt hätte....eigentlich kam es fast einem Wunder gleich, dass sich sein Freund nicht einfach ein Schwert genommen und den Elb vor ihm getötet hatte. Doch dieser schien auch diese Möglichkeit vollkommen mit einkalkuliert zu haben. Vielleicht hatte er ja auch tief in seinem Inneren darauf gehofft, endlich von seinem eigenen Kummer erlöst zu werden. Als sie nach dem Frühstück ihre Sachen zusammen packten und sich anschließend auf die Pferde setzten, nahm Korell Yelin beiseite und sah ihn lange an. Schließlich meinte er: "Er hat es dir erzählt, nicht wahr? Er hat dir alles von Shantora erzählt. Woher hätte auch sonst sein Wandel kommen können......." Yelin konnte darauf nichts sagen. Das, was er in Korells Augen las, hätte die Welt dazu zwingen zu können, die Zeit anzuhalten. So beließ er es schlicht und einfach dabei, nur zu nicken. "Irgendwie wusste ich, dass du es einmal erfahren würdest.....vielleicht ist es ja auch gut so. Aber als ich sie damals so liegen sah....ihre Haut war blass, fast durchsichtig kam sie mir vor. Ich zerbrach. In diesem Moment zerbrach mit ihrem Leben alles, was mir je etwas bedeutet hatte. Und ich schwor nur noch, Rache zu nehmen für das, was man mir angetan hatte...erinnerst du dich an den Weißen Dämon? Für mich sah er aus wie sie. Ihr Haar, ihr Gewand...ihre sanften Hände, die leicht mein Gesicht umfassten und ihr Mund, der mir die Wunden zart aus der Seele küsste. Gott, Yelin! Könnte ich das beschreiben, was die Quintessenz der Liebe ist, so würde ich ihr ihren Namen geben. Ich habe mir länger Vorwürfe gemacht, als ich denken kann. Wieso musste ich ausgerechnet an jenem Tag fort gehen? Warum kam ich erst wieder, als es schon lange viel zu spät war? Warum, warum, warum. Tausend Fragen und keine Antwort darauf. Ich wünschte, du würdest sie für mich finden können...." Doch Yelin sagte nichts darauf. Er schwieg einfach und starrte in die Ferne. Doch in Wirklichkeit war er ganz woanders, an einem Ort, der nur ihm und seinen Gedanken gehörte. Jetzt wusste er also endlich, was die ganze Zeit zwischen ihnen gestanden hatte. Noch nach ihrem Tod hinderte Shantora ihn daran, Yelin ebenfalls wieder so tief in seinem Herzen aufzunehmen, wie er es vormals getan hatte. Und der Vorfall mit dem Weißen Dämon hatte ihm gezeigt, für wen sich sein Freund im Zweifelsfall entschieden hätte. Diese Erkenntnis traf ihn tiefer als alles andere, was er zuvor erfahren hatte. Denn gleichzeitig damit wusste, dass er keine Chance haben würde, seinen Platz wieder zurück zu erobern...... Knapp vier Wochen waren sie unterwegs durch die dürre Graslandschaft der Ebene. Sie sprachen wenig, doch ritten dafür um so mehr. Eine der wenigen Sachen, die sie erfuhren, war, dass auch Thames Name eine Bedeutung hatte, genau so wie die ihren: Lorphyr verriet ihnen augenzwinkernd, dass er für das Wort "Geheimnis" stand. Gar nicht einmal so unpassend, das mussten Korell und Yelin dann auch zugeben. Der Elb schien wesentlich mehr über die alte Frau zu wissen als sie, doch nie ließ er mehr als Andeutungen aus sich heraus bringen, die sie nicht zu deuten vermochten. Das Wetter veränderte sich kaum auf ihren Weg nach Nordwesten. Sie wurden nun lediglich öfter von einem plötzlichen Regenguss überrascht und die Temperaturen fielen fast unmerklich, aber stetig nach unten. Ein paar Mal schneite es sogar, jedoch ohne dass das weiße Nass nennenswert liegen blieb. Ansonsten passierte nichts, bis sie schließlich nach einer weiteren Woche auch an dem See und den Bergen vorbei waren und in der Ferne schon das helle Band des Lainen glitzern sehen konnten. Auf ihrem ganzen Weg waren sie keiner weiteren Patrouille begegnet und Yelin hoffte, dass dies auch für den Rest ihrer Reise noch so weiter gehen würde. Korell vermied es indes noch immer, mehr als das Nötigste mit Lorphyr zu reden, aber selbst Yelin konnte spüren, wie das Herz seines Freundes langsam begriff, dass der andere zwar nicht ebenso stark, aber dennoch oft genug an dem Ereignis mit Shantora litt wie er. Dass er so etwas wie Sympathie für ihn entwickelte, war etwas zu übertrieben, um es zu behaupten, aber immerhin schwand langsam der unversöhnliche Hass, den man am Anfang noch vermeintlich mit den Händen hatte greifen können. Die Landschaft wurde während ihrem langen Ritt immer rauer und sie bemerkten es jetzt ganz deutlich, dass sie sich immer weiter nach Norden bewegten. Die Vegetation wurde karger, der Boden härter und immer öfter konnte Yelin jetzt Spuren von den magischen Wesen der Kälte wie den Schneefeen erkennen. Manchmal vermeinten sie sogar, ihr leises Kichern zu hören. Physales hatte sich inzwischen wieder zurück gezogen und versteckte sich wahlweise bei Thame, Korell, Yelin oder sogar ein manches Mal Lorphyr, mit dem auch er sich langsam anzufreunden schien. Endlich erreichten sie die Brücke, von welcher der Elb gesprochen hatte. Sie war recht breit uns spannte sich über die reißenden Fluten des Lainen, den sie tatsächlich niemals so hätten überqueren können. Aber die kurzfristige Erleichterung, die sie bei diesem Anblick überflutet hatte, hielt nicht sehr lange an. Genauer gesagt genau so lange, bis sie die drei Wächter sehen konnten, die ihr eines Ende bewachten. Auf der anderen Seite schienen komischerweise keine von ihnen postiert zu sein.....das machte ganz den Eindruck, als wolle man sich hier nicht gegen Eindringlinge schützen sondern eher die eigenen Leute an der Überquerung hindern. Aus den Erzählungen von Thame und Lorphyr wussten sie, dass sich hier quasi die Grenze zu den Enuya befand. Doch nicht einmal die Elben wagten es, einen Fuß auf ihr Territorium zu setzen. Ihr grauhaariger Führer wies sie mit einer raschen Handbewegung an, ihre Mäntel an- und sich ihre Kapuzen tief ins Gesicht zu ziehen, damit man sie nicht sofort erkannte. Dann setzte er sich an die Spitze der kleinen Gruppe und ritt ein wenig voraus, um die Wächter dazu zu überreden, sie passieren zu lassen. Mit angehaltenem Atem beobachteten sie, wie er sich ihnen nährte und reichlich gestikulierend mit ihnen zu reden begann. Offenbar schienen seine Bemühungen aber nicht sehr hilfreich zu sein, denn sie konnten mit sinkender Hoffnung beobachten, wie sich der Gesichtsausdruck der Elben immer weiter verdüsterte, je länger sie miteinander sprachen. Schließlich griff der eine von ihnen sogar drohend nach seiner Waffe, die in seinem Gürtel steckte. Korells Hand fuhr zu dem Griff seines Bogens, doch Yelin hielt sie auf und schüttelte warnend den Kopf. Wenn sie jetzt zogen, sanken ihre Chancen beträchtlich, unversehrt auf die andere Seite zu gelangen. Er zweifelte zwar nicht daran, dass es ihnen gelingen würde, die drei Elben vor ihnen zu überwältigen, aber er wollte keinerlei Risiko eingehen oder gar weiteres Blut vergießen. Außerdem konnten ihre Langbogen zu wirkungsvollen Waffen werden, wenn sie erst noch aus der Ferne heran geritten kamen. Das hätte die gleiche Auswirkungen auf sie wie eine Reihe von Rebhühner, die fein säuberlich in einer Reihe liefen uns sich somit alle leicht einzeln abschießen ließen. Doch schon hob Lorphyr beschwichtigend die Hände - und griff noch in derselben Bewegung nach seinem Schwert. Der erste Wächter wurde schon verwundet noch ehe er bemerkte, wie sich die Situation gewendet hatte. Dafür reagierten die anderen beiden umso schneller und schon bald war der Elb in ein heftiges Gefecht verwickelt, dass er unmöglich alleine gewinnen konnte. "Los!" rief Korell und packte seinen Freund am Arm. "Verstehst du denn nicht, was er uns sagen will? Er möchte, dass wie über die Brücke reiten, so lange er die Wächter beschäftigt!" Yelin starrte noch immer auf die unglaubliche Szenerie, die sich vor ihnen auftat. Erst langsam dämmerte es ihm, welch schmerzliche Bedeutung sich darauf erwuchs...Tatsächlich schien auch Lorphyr verzweifelt zu versuchen, ihnen zu sagen, dass sie vorbei ziehen sollten. Korell und Thame gaben ihren Reittieren bereits die Sporen, doch Yelin zögerte noch immer. Verzweifelt schrie er: "Aber er wird sterben, Korell! Verstehst du denn nicht? Er wird jetzt und an diesem Ort sterben! Wir können ihn doch nicht einfach so alleine lassen!" Korell hielt noch einmal mitten in seiner Bewegung inne und legte ihm zärtlich die Hand auf den Arm. "Yelin," meinte er sanft. "Dieses Mal bist du es, der nicht versteht. Lorphyr will sich für uns opfern! Für deine, für unsere Suche, Yelin! Wir sollten sein Geschenk nicht einfach wegwerfen, sondern dafür sorgen, dass sein Wunsch in Erfüllung geht. Bitte," flehte er ihn jetzt fast schon an. "Komm und reite mit uns!" Verzweifelt schloss Yelin die Augen und sah noch einmal zu der Gestalt, die inzwischen von zwei anderen in die Enge getrieben wurde. Ihr letzter, bittender Blick gab den Ausschlag und er presste seinem Pferd die Fersen so fest in die Flanken, dass es einen erschrockenen Satz nach vorne machte und dann losgaloppierte, quer über die Brücke und auf die andere Seite des Lainen. Thame war schon voraus geritten und dich hinter ihm folgte Korell, der es nicht minder eilig hatte, auf die andere Seite zu gelangen. Mitten im Galopp blickte Yelin noch ein aller letztes Mal hinter sich - und sah eben, wie die größere der beiden Gestalten endgültig unter den Hieben der anderen zu Boden ging. Lorphyr...mit einem letzten traurigen Blick nahm Yelin Abschied von einem Freund, bei dem ihm erst jetzt wirklich bewusst wurde, wie viel er ihm bedeutet hatte. Und Gut und Böse werden sich wandeln unter deinen Schritten...... Ganz kurz fühlte er etwas wie eine kurzen, unsichtbaren Hauch, der ihn zu streifen schien. Doch ebenso schnell, wie er gekommen zu sein schien, war es dann auch schon wieder vorbei und er war sich sicher, dass das, was sie eben gespürt hatten, nichts anderes als eine Art Grenze der Enuya darzustellen schien. Sie wussten, dass sie kamen. Kapitel 11: Enuya ----------------- Sogar Korell schien auf eine gewisse Art und Weise den Tod des Elben zu bedauern. Auch wenn er es nicht zugab, wusste Yelin, dass er nicht mit einem solch schrecklichen Ende für ihn gerechnet, ja es nicht einmal gewollt hatte. Auch Thame und Physales waren den ganzen Rest des Tages ungewöhnlich still, als nähmen sie auf ihre ganz eigene Art und Weise Abschied von ihm, den sie nur so kurz gekannt hatten. Doch schon am Ende dieses Nachmittages ereignete sich etwas, dass ihre Reisepläne ein wenig auf den Kopf stellte. Die Landschaft hatte sich unter den immer schneller trappelnden Schritten ihrer Pferde kaum verändert, doch sie alle spürten die ungewöhnliche Atmosphäre, die in der Luft lag und immer stärker wurde, je weiter sie nach Norden kamen. Es war das Gefühl von etwas Großem, Alten und auf positive Weise Mächtigen, das sie alle erfüllte und sie glauben ließ, sie wären auf dem rechten Wege. Gegen Abend bekamen sie dann auf einmal Besuch von einem Gast, mit dem sie wohl am wenigsten gerechnet hatten: Plötzlich und ohne Vorwarnung stieg der Palyn, dem sie in den Hügelebenen schon einmal begegnet waren, vom Himmel herab und sich ihnen in den Weg. Unsicher, was sie nun tun sollten, zügelten die drei ihre Pferde und hielten vor dem großen magischen Wesen an, das sie mit Sicherheit nicht einfach so vorbei gelassen hätte. Aber im Unterschied zum letzten Mal, als sie ihm gegenüber gestanden waren (oder besser: Thame gegen ihn gekämpft hatte) verhielt sich er sich vollkommen friedlich und schien auf irgendetwas von ihnen zu warten. Lange starrte Yelin in seine großen goldenen Augen, dann stieg er vorsichtig von seinem Pferd hinunter und nährte sich zögernd dem Mischlingswesen, das noch immer vollkommen regungslos vor ihm stand. Ohne auf die warnenden Rufe zu achten, die hinter ihm erklangen, verstand er auf einmal genau, was von ihnen erwartet wurde. "Reiten.", flüsterte er leise. "Das ist es! Reiten!" und dann laut, über seine Schulter: "Er will, dass wir auf ihm reiten! Versteht ihr? Deswegen steht er so ruhig hier und rührt sich nicht! Er wartet schlicht und einfach auf uns!" Thame schien leise zu lächeln, doch der Ausdruck, der sich auf Korells Gesicht abzeichnete, ließ sich wohl noch am allerbesten mit "schockiert" beschreiben. "Niemals!" rief er zurück. "Doch!" wiederholte Yelin noch einmal. Und wie um zu beweisen, dass er die Wahrheit sagte, ging er behutsam um das riesige Wesen herum. Fast probehalber zog er an ein paar Strähnen seiner dichten Mähne. Als sich nichts rührte, holte er tief Luft und schwang sich mit einem Satz auf den Rücken des Geflügelten. Korell schien es fast die Sprache zu verschlagen, doch nichts geschah. Der Palyn stand einfach weiter so da und schien darauf zu warten, dass auch die anderen beiden Reisenden zustiegen. Schließlich trat auch Thame heran und schwang sich mit einer beneidenswert leicht wirkenden Bewegung vor Yelin auf den Rücken des großen Wesens. Korell schien zwar noch immer nicht so ganz überzeugt von der Sache zu sein, doch endlich fasste auch er sich ein Herz und kletterte unter der tatkräftigen Mithilfe hinter Yelin auf den Palyn hinauf. Es war erstaunlich, doch sie fanden tatsächlich alle drei Platz auf dem riesenhaften Wesen. Kaum hatte sich Korell zurecht gerückt und vergewissert, dass auch Physales, der sich wieder einmal zwischen seinem Mantel versteckt hielt, noch da war, begann der Mischling damit, Anlauf zu nehmen für seinen Flug durch die Wolken. Es war ein wahrhaft berauschendes Gefühl, wie es Yelin noch nie zuvor verspürt hatte. Er merkte, wie die Welt neben und unter ihm immer schneller hinweg glitt und schließlich zu einem einzigen Wirbel von Farben wurde. Der Wind pfiff in seinen Ohren und an seinem Gesicht entlang, aber er genoss es regelrecht, die beißende Kälte auf seiner Haut zu fühlen. Er spürte, wie die mächtigen Muskeln in dem Körper unter ihm arbeiteten, um sich und seine drei ungewohnten Gäste in der Luft zu halten. Die Strecke, für die sie sonst vielleicht zwei oder drei Wochen gebraucht hätten, legten sie nun in weniger als zwei Stunden zurück. Dennoch erschien es ihm, als hätte der berauschende Flug gerade eben erst begonnen, als sie auch schon wieder zur Landung ansetzen. Yelin wusste nicht genau, was er erwartet hatte, doch das, was er hier sah, war es mit Sicherheit nicht gewesen. Unbewusst hatte er sich auf eine Art überquellenden Paradieses eingerichtet, so etwas wie ein Ort, an dem alle irdischen Freuden auf einmal versammelt waren. Stattdessen kam ihm die Ebene, auf der sie nun standen, genau so leer und kahl vor wie dort, wo der Palyn sie abgefangen hatte. Das einzige, was auf die Anwesenheit von Bewohnern hinwies war das große Gebäude aus schwarzem Marmor, rot gesprenkelt, das sich direkt vor ihnen erhob. Es war ein wenig in der Art der alten Tempel erbaut worden, mit großen, schwer tragenden Säulen auf der Fronseite, zu denen eine Treppe mit breiten steinernen Stufen empor führte. Am Erstaunlichsten aber war die Stille, die sie empfing. Bis auf das Geräusch ihrer Schritte und das leise Zwitschern einiger Vögel war rein gar nichts zu hören. Allerdings war die Ruhe von einer Art, bei der man meinte, die ganze Welt atmen und wachsen zu hören. Es war nicht wie die Abwesenheit von Geräuschen, sondern eher ihr Entstehen, was sie hier hörten. Hinter ihm stiegen nun auch Thame und Korell von dem riesigen Wesen herunter und vor allem letzterer sah sich mit erstaunten Blicken um. Offenbar hatte nicht nur Yelin etwas anderes erwartet...es dauerte nicht lange, da steckte auch Physales wieder seinen kleinen Kopf auf dem Stoff von Korells Mantel hinaus. Das, was er sah, schien ihn lange nicht so sehr zu beeindrucken wie seine beiden menschlichen Gefährten. Doch mit Abstand am seltsamsten reagierte wohl Thame. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als wäre sie schon sehr oft hier gewesen und freute ich jedes Mal mehr, dieses Platz zu sehen. Mit langsamen Schritten ging sie zu dem schwer atmenden Palyn, legte ihm vorsichtig die Hand auf die schwarze Flanke und flüsterte ihm leise etwas zu. Kurz darauf wandte sich der magische Pegasus um und stieg wieder in die Lüfte auf. Yelin wollte gerade etwas dazu sagen, aber im selben Moment berührte Korell seinen Arm und wies mit einem Nicken auf die drei Gestalten hin, die sich ihnen von dem schwarzen Tempel aus näherten. Unwillkürlich suchten seine Augen wieder den Anblick Thames, die jedoch schon damit begonnen hatte, ihnen entgegen zu streben. Er konnte nicht genau sagen, was ihn bei ihnen so sehr an die alte Frau erinnerte, die ihre Begleiterin war, denn rein äußerlich wiesen sie keinerlei Ähnlichkeit mit ihr auf. Es waren eine junge Frau, ein Mann, der von außen ungefähr gleichalt wie sie wirkte und eine Frau in mittleren Jahren, die in der Mitte ging und den weisesten der drei Blicke zu haben schien. Aber bei ihrem Anblick durchfuhr in dieselbe Empfindung, die er auch bei Thame verspürt hatte: er merkte, wie eine unglaubliche Macht von ihnen auszugehen schien. Und in ihren Augen lag derselbe Ausdruck uralter Weisheit wie in denen seiner ehemaligen Gefährtin. Langsam dämmerte es ihm, wer sie war... "Sei willkommen, Yelin, Drachenmörder. Und auch du, Korell, mit dem schweren Herzen und der bleiernen Seele. Verzeiht uns, dass wir euch den Palyn nicht schon früher schickten, aber wir hatten Gründe, so zu handeln. Wir haben euch schon lange erwartet." Die mittlere der drei Gestalten streckte ihre Hand aus. Fast augenblicklich setzte sich der kleine Gúdo, der bisher auf Korells Schulter gewartet hatte, in Bewegung und flatterte sanft zu ihr hinüber, sich schließlich auf der ausgebreiteten Handfläche niederlassend. Da begriff Yelin mit einem Mal. "Thame...Physales..."krächzte er leise. Er verspürte das eigentlich unangebrachte Gefühl, kräftig herein gelegt worden zu sein. "Du...du bist eine Enuya...Thame..." Diese strich sich die Kapuze mit einer graziösen Bewegung die Kapuze vom Kopf und grinste ihn an. "Ich konnte ja nicht zulassen, dass euch etwas passiert..."meinte sie mit einem leichten Lächeln und stupste Physales freundschaftlich an der Schulter. Dieser wurde noch röter als er ohnehin schon war. "Es tut mir Leid, Yelin...wie du jetzt bestimmt richtig vermutet hast, bin ich einer ihrer geflügelten Boten. Ich habe dich nicht zufällig in jener Nacht belästigt...aber verstehst du, ich konnte einfach nichts sagen! Das hätte den ganzen Plan durcheinander gebracht!" "Den...den Plan? Heißt das, es war alles beabsichtigt? Es war mir von Anfang an vorher bestimmt, dass ich dem Drachen begegne? Dass ich mir die Schuld zukommen lassen musste, ihn zu töten? Der Besuch bei Yonami, der Weiße Dämon, Lorphyr..." seine Stimme brach, als er wieder die kleiner werdende Gestalt des Elben sah, der getroffen auf dem Boden zusammen brach. Und all das sollte geplant gewesen sein? Der ganze Schmerz, die ganzen Selbstvorwürfe, die er sich wegen dem Tode des letzten Drachens gemacht hatte? Das konnte einfach nicht wahr sein. Es durfte schlichtweg nicht wahr sein. Thame sah ihn traurig an. "Nicht so, wie du jetzt denkst, Yelin. Wir haben lange auf jemanden gewartet wie du, nicht direkt auf dich. Wir wussten, dass es eines Tages einen Sanuki geben würde, der das Töten verabscheut...und ihm würde die schwerste aller Prüfungen auferlegt werden. Wir sind die Bewahrer, die Schöpfer dieser Welt. Aber wir können nicht so aktiv in ihren Lauf eingreifen, wie du vielleicht denkst. Oder glaubt du, derart stolze Wesen wie die Yonami, der Schwarze Krieger oder der letzte Drache hätten sich tatsächlich etwas befehlen lassen? Ja, selbst über den Palyn haben wir nur für eine sehr begrenzte Zeit Macht, obwohl du jetzt vielleicht etwas anderes vermutest. Wir kannten Ende und Anfang dieser Reise. Wir konnten jedoch nicht ahnen, was dazwischen geschehen wurde. Auch ich wurde euch nur zur Seite gegeben, weil es mein Wunsch war. Ich war mehr Beobachter als Helfer." Mit langsamen Schritten drehten sie sich um und schritten wieder die Stufen des Tempels hinauf. Oben angekommen meinten sie: "Nun wollen wir dir den zeigen, der ewig schlief. Es wird deine Aufgabe sein, ihn wieder zu erwecken...Komm." Wortlos setzten sich Korell und Yelin in Bewegung, noch immer regelrecht geschockt von der Erkenntnis, mit einer Enuya gereist zu sein. Mit einem Mal schien alles einen Sinn zu ergeben. Ihre seltsamen Blicke, ihr Verschwinden während ihrer Gefangenschaft bei den Elben, die sie natürlich eher erkannt haben mussten als sie selbst, das doppelte Auftauchen des Palyn...kein Wunder, dass sie gewusst hatte, wo sich das Heiligtum der Enuya befand und auch noch in diesem "Alter" dazu fähig, so stark und unglaublich gut zu kämpfen. Aber dass Physales...damit hatten sie beide nicht gerechnet. Der kleine Gúdo der Bote dieser mächtigen Wesen...jetzt wurde auch klar, warum er sich immer vor seinen Artgenossen versteckt hatte. Schließlich musste es überall bekannt gewesen sein, was er war... Und doch konnte Yelin sich auch des seltsamen Gefühls nicht erwehren, verraten worden zu sein. Er war nur ein Werkzeug gewesen! Man hatte ihn benutzt, wie einen Stein, ohne auch nur daran zu denken, dass man vielleicht sein ganzes Leben zerstört hatte - und das anderer mit ihm. Langsam nährten sie sich den lichten Säulengängen, durch die sie die vier hindurch führten. Jetzt, bei nahem Hinsehen erkannte Yelin, dass Physales damals Recht gehabt hatte: die vielen kleinen roten Punkte, die er gesehen hatte, waren tatsächlich winzige, blutrote Blüten, die mitten aus dem schwarzen Stein zu sprießen schienen, aus dem das ganze Gebäude erbaut war. Und je länger und näher er die Wände und Säulen des Tempels betrachtete, desto mehr ging ihm auch die ganze Schönheit und Kunst auf, die in ihm steckte. An jeder Ecke konnte er Neues entdecken, kleine Schnitzwerke, Bilder, Steinhauereien oder winzige Vögel, die sich an dem Saft der roten Blüten labten. Die Wände waren bis an die Decke mit Verzierungen bedeckt, die jede einzeln ihre kleine Geschichte erzählte. Jedes Mal, wenn man meinte, alles gesehen zu haben, entdeckte man wieder neue, unbekannte Formen und Meisterwerke, die sie in ihren Bann zogen. Das ganze Gebäude schien alleine aus diesem Begriff "Vollkommenheit" zu bestehen, seine Grundsubstanz darzustellen - und all das, obwohl es nichts anderes außer schwarzem Stein, den tiefroten Blumen und den kleinen Vögeln gab, die sie umschwirrten. Er spürte die elementare Magie, die in diesem Ort steckte. Es war eine uralte, wilde Kraft und Weisheit, die unglaubliche Magie der Schöpfung, die alles durchströmte und aus jeder Pore hier amtete. Doch eines wunderte ihn: Warum konnte er die ungeheure Macht, die hier vorhanden war, nicht sehen wie sonst? Nach einigem Überlegen stellte er diese Frage laut an die Gestalten, die vor ihm hergingen. Wieder war es Thame, die ihm antwortete. "Wenn du die Magie hier sehen könntest, so würdest du vermutlich jetzt schon blind sein. Du bist hier an dem Ort, der den Ursprung dieser ganzen Kraft der Natur darstellt. Du kannst die Magie nicht sehen, denn hier durchdringt sie alles und jeden, bündelt sich, verstärkt sich vielfach, so dass sie zwar vorhanden, jedoch selbst für Menschen wie dich nicht sichtbar ist." Yelin nickte. Er konnte verstehen, was sie meinte. Die Magie war hier ein solche elementarer Bestandteil des Baumwerks, dass sie sich nicht einmal ihm zu zeigen brauchte. Endlich kamen sie zu dem Portal, hinter dem sein Schicksal auf ihn wartete. Er sah eine Menge Zeichnungen auf dem schwarzen Stein vor sich, doch am meisten beeindruckte ihn das kleine Muster, dass die roten Blüten hier zu bilden schienen: sie sahen aus, als versuchten sie, die Umrisse eines Drachens nachzuzeichnen... Ohne jedes Geräusch schwang die Tür vor ihm auf und gab den Blick frei auf ein dämmriges Halbdunkel, dass nur durch das Licht zweier Fackeln erhellt zu werden schien, die beide an der gegenüberliegenden Wand in Halterungen steckten. Zögernd schritt Yelin nach vorne, an den vier Enuya vorbei, die respektvoll warteten, bis er als erster über die Schwelle getreten war. Schon auf dem Weg hierher hatte bemerkt, wie das Gefühl, etwas Vertrautem zu begegnen, sich ständig verstärkt hatte. Jetzt, wo er endlich am Ziel war, spürte er so deutlich, als könne er es mit den Händen greifen. Der gesamte Raum vor ihm war leer, bis auf die Mitte, in der sich ein kleiner Sockel erhob, auf dem etwas lag. Yelin atmete tief ein und trat näher. Es war ein Ei. Ein großes, ihm bis zu den Knien gehendes Ei, dessen Farbe irgendwo zwischen Grün, Blau, Silber und Braun zu schwanken schien. Er brauchte keine Bestätigung von den Gestalten, die hinter ihm herein getreten waren. Etwas tief in ihm, das Erbe des Drachen hatte es schon lange vor ihnen erkannt: Es war ein Drachenei. Von dieser Schale geschützt schlief der letzte Drache der Welt seinen ewigen Schlaf, bis er kommen und ihn erwecken würde. Ein Gefühl tiefen, umfassenden Friedens machte sich in ihm breit und er begann, stumm zu weinen, als er begriff, dass er nun zumindest einen Teil seiner Schuld wieder abbezahlen würde können. Er war gekommen, um seine Aufgabe zu erfüllen. "Yelin." Eine Stimme hinter ihm riss ihn aus seinen Gedanken. Er drehte sich um und erblickte Thame, wie sie mit einem traurigen Gesicht auf ihn zutrat und ihm die Hand auf den Arm legte. "Erinnerst du dich noch an die Worte der Prophezeiung? Blut wird durch Blut gesühnt, Neues löscht Altes aus. Diese Zeilen waren wörtlich gemeint, Yelin. Der Drache kann nur durch das Blut erweckte werden, in denen das Erbe des Drachens vorhanden ist. Der Mörder seiner letzten Vorfahren muss dieses Blut vergießen. Und nur, wenn er aus tiefstem Herzen an das glaubt, wofür er stirbt, so kann der Fluch gebrochen werden. Verstehst du?" "Soll das etwa heißen, dass er sich selbst hier, an dieser Stelle das Leben nehmen muss?" Die ruhige, aber dennoch laute Stimme gehörte Korell, der seinen Freund mit einem verzweifelten Blick ansah. Die Enuya nickten nur stumm und schwer. Korell sah Yelin lange an und dieser erkannte, wie sich die Verzweiflung wie eine lange Bahn aus Samt über ihn zu legen schien und alle Freude, endlich am Ziel zu sein, erdrückte. Seine Augen verdüsterten sich vor neuem Schmerz. Und tief, tief in ihnen erglomm ein Funke...Yelin vermochte es nicht, ihn zu deuten, aber er erschreckte ihn zutiefst. "Kommt." flüsterte Thame leise und packte sie beide am Arm. "Lassen wir noch eine Nacht vergehen. Danach wird sich Yelin entscheiden, welches Schicksal er annimmt." Der Abend verlief in einem schwermütigem Schweigen. Sie aßen und tranken den Wein, der ihnen gereicht wurde. Einmal flüsterte Korell kurz mit Thame, die ihm als Antwort nur einen kleinen Beutel aus den Tiefen ihres Mantels reichte und dabei traurig zu Yelin hinübersah, der, mit kleinen Schlucken aus dem Kelch in seiner Hand trinkend, einsam in einer Ecke saß und in Gedanken versunken schien. Es war seltsam, doch er fühlte keinen Widerwillen oder gar Schmerz, von dieser Welt scheiden zu müssen. Fast war es so, als ob er tief in sich schon damit gerechnet habe, dass dies passieren würde. Doch er sah es eher als eine gerechte Erfüllung seiner Schuld an denn als sinnloses Opfer. Vielleicht konnte er durch seinen Tod mehr verändern, als wenn er leben würde. Nur das, was mit Korell geschehen würde, wenn auch er starb, erfüllte ihn noch mit ein wenig trauriger Sorge. Sein Freund schien wohl seine Gedanken gelesen zu haben, denn er setzte sich im Laufe der Nacht zu ihm. Leise begannen sie miteinander zu reden. Als hätte die Aussicht auf Yelins Tod mit einem Mal ein verborgenes Tor geöffnet, so erzählte Yelin ihm nun auch alles, was er bis jetzt erlebt hatte. Endlich, endlich war er fähig dazu, ihm einen Teil seines Inneren zu zeigen. Er bemerkte nicht, dass Korell immer wieder etwas aus dem Beutel zu nehmen schien und es in sein Weinglas träufelte. Eigentlich hatte Yelin insgeheim vorgehabt, noch heute in den kleinen Raum zu dem Ei zu gehen und es heimlich zu Ende zu bringen. Er zweifelte nicht daran, dass Korell es erkannt hatte und wusste, was er tun würde. Doch sein Freund sagte nichts, kein Wort, um ihn davon abzuhalten und dies rechnete Yelin ihm hoch an. Er sah es fast als einen letzten Dienst an ihrer alten Freundschaft, dass Korell stillschweigend akzeptierte, was eigentlich schon von Anfang an festgestanden hatte. Als es gegen Mitternacht zuging, stahl sich Yelin heimlich davon und ging den letzten Weg seines Lebens zu den dunklen Mauern und dem schlafenden Wesen, die seiner harrten. Doch kaum bewegte er sich, verspürte er, wie sich ein bleiernes Gefühl der Müdigkeit über seine Glieder senkte und ihn zum Anhalten zwang. Seufzend lehnte er den Kopf gegen die Wand, wollte nur ein wenig ausruhen. Aber schon ein paar Sekunden später hatte der mächtige Schlaf endgültig sein schwarzes Tuch über ihm ausgebreitet. So konnte er auch nicht sehen, wie sich nur wenige Minuten später eine Gestalt aus der Dunkelheit löste. Sie ging entschlossen, mit schnellen Schritten zu ihm hin und kniete sich neben dem Schlafenden nieder. Dann zog sie sacht und darauf bedacht, möglichst wenige Geräusche zu machen, Norai aus seiner Scheide. Stattdessen ließ sie ein kleines zusammen gefaltetes Stück Papier zurück. Schließlich hob sie sacht den Arm des ehemaligen Prinzen und brachte ihm schnell einen langen, flachen Schnitt bei. Das Blut, das dadurch hinuntertropfte, fing er in einer kleinen Schale auf, die er, ebenso wie Norai mit sich nahm, als er wieder ging. Als Yelin am nächsten Morgen erwachte, geschah dies mit einem schweren Kopf, einem brennenden Arm und dem Gefühl, dass etwas geschehen war, was eben so schrecklich wie wichtig war. Er sah an sich hinunter, bemerkte die schon wieder halb verheilte Wunde und sein fehlendes Schwert. Mit einem erschrockenen Laut sprang er auf - und fand dabei das kleine Zettelchen, dass unbemerkt in seinem Gürtel gesteckt hatte. Zitternd und voll dunkler Vorahnungen faltete er es auseinander, las es - und stürzte mit einem lauten Schrei des Entsetzens und grausamen Begreifens fort. Er eilte durch die hohen Säulen des Tempels und wurde immer schneller und schneller, bis er endlich schweratmend das hohe Portal erreichte, hinter dem das Ei gelegen hatte. Alle waren sie versammelt, als er ein zweites Mal über die Schwelle trat und sich nach dem Sockel in seiner Mitte umsah. Eigentlich hätte ihm klar sein müssen, was ihn erwartete, doch trotzdem fuhr ihm der Anblick, der sich ihm bot, bis ins Mark. Lange stand er da und starrte auf das rote Blut, das Boden, Wände und das Ei selbst bedeckte. Etwas zerbrach in ihm und fühlte seine Brust rasend schnell mit einem Knoten, der ihm fast den Atem raubte. Dann meinte er leise und mit zitternder Stimme: "Geht. Ihr alle, geht und lasst mich allein!" Schweigend kamen sie seiner Aufforderung nach. Er schrie. Es war ein einziger Schrei, aber er stieß ihn so laut hervor, dass die Decke anfing zu zittern. In diesem einen Schrei lag all seine blinde Wut, der Hass auf das Schicksal, das ihnen dies angetan hatte, auf sich selbst, dass er es nicht erkannt hatte und auch auf Korell, der gegangen war und ihn alleine ließ. Zornig und voller Trauer ballte Yelin die Fäuste und kniete sich dann neben dem reglosen Körper nieder, der auf dem Boden lag, Norai noch immer in der Hand. Irgendjemand hatte seine Augen schon geschlossen, so dass er nicht auch noch seinen starren Blick ertragen musste. Im ersten Moment, als er ihn so sah, verspürte er nichts als Wut, dass Korell ihn einfach so, ohne zu fragen, verlassen hatte. Was war ihm nur eingefallen? Warum, warum , warum... Mit einem leisen Schluchzen fuhr Yelin über die glatte, weiche Haut im Gesicht seines Freundes. Ein letztes Mal...diese schrecklich wohlbekannten Züge, die ihm so vertraut gewesen waren wie nichts auf der Welt. Sanft strich er ihm die Haare aus dem Gesicht, legte seine Finger behutsam auf dessen Wangen, fuhr über die geschlossenen Augen, den toten Mund, der nie wieder lachen, nie wieder weinen oder zu ihm sprechen würde - als könne allein seine Berührung ihn ins Leben zurück holen. Er hörte ein leises Flattern hinter sich, doch drehte sich nicht um. Obwohl er doch von allen gefordert hatte, dass sie den Raum verlassen sollte, war er nun seltsam dankbar dafür, dass Physales geblieben war. Der kleine Erdgeist setzte sich behutsam auf seine Hand. Noch ehe er etwas sagen konnte, wusste Yelin, dass es ihm schon viel früher klar geworden sein musste, was Korell vorgehabt hatte. Die Fähigkeit, Gedanken zu lesen, konnte manchmal zu einem wirklichen Fluch werden. Doch gleichzeitig verstand er auch genau, warum er, warum alle ihm nicht gesagt hatten, was Korell tun wollte. Und auf irgendeine verdrehte Art und Weise konnte er ihnen deswegen nicht einmal böse sein. Gemeinsam starrten sie auf das herunter, was einmal ihr Gefährte und der Mensch, der ihm auf der ganzen Welt am meisten bedeutet hatte, gewesen war. In diesem einen, unendlich scheinenden Moment konnte er nicht einmal weinen. Alles, was er fähig war, zu fühlen, war eine einzige, alles verschlingende Leere in ihm. Die Gewissheit, nun wieder alleine zu sein, schmerzte mehr als alles andere. Erst ein leises Knacken riss ihn wieder aus seiner tiefen Trauer hinaus. Und als er aufblickte, erkannte, dass das Opfer nicht umsonst gewesen war. Kapitel 12: Requiem ------------------- Yelin erinnerte sich an das zurück, was Thame ihm gesagt hatte: Und nur, wenn er aus tiefstem Herzen an das glaubt, wofür er stirbt, so kann der Fluch gebrochen werden. Oh ja, Korell hatte geglaubt. Er hatte sich geopfert, in dem tiefen Wunsch, die Last des Mordes von Yelins Schultern zu nehmen. Dadurch, dass er nicht gezweifelt hatte, dadurch, dass er vorher ihrer beider Blut vermischte und letztendlich auch dadurch, dass es Norai gewesen war, mit dem er sich das Leben genommen hatte, war der Schlaf des kleinen Drachens zu Ende gegangen. Er starrte weiterhin mit offenen Augen in die hellen Flammen, die sich vor ihm in den Himmel erhoben. Sie ließen das, was für ihn einst das Wertvollste im Leben gewesen war, in ihrer Hitze vergehen und schenkten seinem Körper die ewige Ruhe, nach der er so lange gesucht und sie doch nie gefunden hatte. Langsam spürte er, wie am Rande der unendlichen Trauer etwas Neues in ihm entstand. In jeder Bewegung, jedem Blick des kleinen, frischen Wesens auf seiner Schulter fand er ein Stück seines alten Freundes wieder. Seit sieben Jahren waren sie sich nicht mehr so nahe gewesen; doch er bedauerte zutiefst, dass es erst so weit hatte kommen müssen, bis sich ihre Herzen wieder vereinen konnten. Und endlich verschwand auch die Schuld, die er mit dem Tode des Drachens auf sich geladen hatte. Er war am Ziel seiner ewigen Suche und alles, was in ihm zurückblieb, war ein Gefühl von Trauer, tiefem Frieden und der Empfindung, Korell erst jetzt wieder wirklich für sich gefunden zu haben. Er würde ihn nicht vergessen, gewiss nicht. Und seine Seele würde so lange bestehen, wie sie in ihm weiterlebte. Erst jetzt verstand er wirklich, was die Yonami gemeint hatte, als sie sagte: Doch um zu gewinnen, Was du am meisten liebst, Wirst du es zuvor Verlieren müssen. Mit einem zärtlichen und unendlich traurigen Lächeln hob er die Hand, in der er ein kleines, zerknülltes Stück Papier hielt. Er warf es in das Feuer und beobachtete noch lange, wie die Flammen die geschriebenen Worte verzehrten. Und mit ihnen begann er endlich zu weinen. Die Tränen rann stumm und nass seine Wangen hinunter, eine unaufhaltsame, salzige Flut, die seine Wangen benetzte. All sein Schmerz lag in ihnen, sein Unglauben, sein Zorn und die stille, verzweifelte Trauer darüber, dass es erst so weit hatte kommen müssen. Er weinte um das, was sie einst gewesen waren. Er weinte um das, was ihnen genommen worden war und er weinte um all jene Dinge, die sie noch hätten sein können ohne den unbarmherzigen Lauf des Schicksals. Yelin - Du weißt, warum ich es tue. Ich spüre, dass meine Zeit gekommen ist zu gehen. Und ich hätte es nicht ertragen, dich ein weiteres Mal zu verlieren. Ich hoffe, dass er mein Leben im Tausch für deines annehmen wird. Denke bitte immer daran: Erinnerung ist das, was uns zusammen hält. Wenn auch nur ein Mensch in Trauer und Freude meiner gedenkt, so war mein Leben nicht umsonst. Shantora ruft mich. Sie hat lange gewartet. Doch ich konnte nicht zu ihr, ehe ich nicht noch einmal dein Gesicht gesehen hätte. Ich liebe dich. Der Wind zerstreute die Asche und trocknete die letzten Tränen, die aus seinen Augen liefen. Dann machte er sich auf. Er wusste nicht wohin, aber er war sich sicher, dass er seinen Weg finden würde. Das hatte er bisher immer getan. Und schließlich war er nicht mehr alleine. Physales lachte leise, als der letzte Drache auf Yelins Schulter ein heiseres Krächzen ausstieß. The End Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)