Der letzte Drache von Karen_Kasumi ================================================================================ Kapitel 11: Enuya ----------------- Sogar Korell schien auf eine gewisse Art und Weise den Tod des Elben zu bedauern. Auch wenn er es nicht zugab, wusste Yelin, dass er nicht mit einem solch schrecklichen Ende für ihn gerechnet, ja es nicht einmal gewollt hatte. Auch Thame und Physales waren den ganzen Rest des Tages ungewöhnlich still, als nähmen sie auf ihre ganz eigene Art und Weise Abschied von ihm, den sie nur so kurz gekannt hatten. Doch schon am Ende dieses Nachmittages ereignete sich etwas, dass ihre Reisepläne ein wenig auf den Kopf stellte. Die Landschaft hatte sich unter den immer schneller trappelnden Schritten ihrer Pferde kaum verändert, doch sie alle spürten die ungewöhnliche Atmosphäre, die in der Luft lag und immer stärker wurde, je weiter sie nach Norden kamen. Es war das Gefühl von etwas Großem, Alten und auf positive Weise Mächtigen, das sie alle erfüllte und sie glauben ließ, sie wären auf dem rechten Wege. Gegen Abend bekamen sie dann auf einmal Besuch von einem Gast, mit dem sie wohl am wenigsten gerechnet hatten: Plötzlich und ohne Vorwarnung stieg der Palyn, dem sie in den Hügelebenen schon einmal begegnet waren, vom Himmel herab und sich ihnen in den Weg. Unsicher, was sie nun tun sollten, zügelten die drei ihre Pferde und hielten vor dem großen magischen Wesen an, das sie mit Sicherheit nicht einfach so vorbei gelassen hätte. Aber im Unterschied zum letzten Mal, als sie ihm gegenüber gestanden waren (oder besser: Thame gegen ihn gekämpft hatte) verhielt sich er sich vollkommen friedlich und schien auf irgendetwas von ihnen zu warten. Lange starrte Yelin in seine großen goldenen Augen, dann stieg er vorsichtig von seinem Pferd hinunter und nährte sich zögernd dem Mischlingswesen, das noch immer vollkommen regungslos vor ihm stand. Ohne auf die warnenden Rufe zu achten, die hinter ihm erklangen, verstand er auf einmal genau, was von ihnen erwartet wurde. "Reiten.", flüsterte er leise. "Das ist es! Reiten!" und dann laut, über seine Schulter: "Er will, dass wir auf ihm reiten! Versteht ihr? Deswegen steht er so ruhig hier und rührt sich nicht! Er wartet schlicht und einfach auf uns!" Thame schien leise zu lächeln, doch der Ausdruck, der sich auf Korells Gesicht abzeichnete, ließ sich wohl noch am allerbesten mit "schockiert" beschreiben. "Niemals!" rief er zurück. "Doch!" wiederholte Yelin noch einmal. Und wie um zu beweisen, dass er die Wahrheit sagte, ging er behutsam um das riesige Wesen herum. Fast probehalber zog er an ein paar Strähnen seiner dichten Mähne. Als sich nichts rührte, holte er tief Luft und schwang sich mit einem Satz auf den Rücken des Geflügelten. Korell schien es fast die Sprache zu verschlagen, doch nichts geschah. Der Palyn stand einfach weiter so da und schien darauf zu warten, dass auch die anderen beiden Reisenden zustiegen. Schließlich trat auch Thame heran und schwang sich mit einer beneidenswert leicht wirkenden Bewegung vor Yelin auf den Rücken des großen Wesens. Korell schien zwar noch immer nicht so ganz überzeugt von der Sache zu sein, doch endlich fasste auch er sich ein Herz und kletterte unter der tatkräftigen Mithilfe hinter Yelin auf den Palyn hinauf. Es war erstaunlich, doch sie fanden tatsächlich alle drei Platz auf dem riesenhaften Wesen. Kaum hatte sich Korell zurecht gerückt und vergewissert, dass auch Physales, der sich wieder einmal zwischen seinem Mantel versteckt hielt, noch da war, begann der Mischling damit, Anlauf zu nehmen für seinen Flug durch die Wolken. Es war ein wahrhaft berauschendes Gefühl, wie es Yelin noch nie zuvor verspürt hatte. Er merkte, wie die Welt neben und unter ihm immer schneller hinweg glitt und schließlich zu einem einzigen Wirbel von Farben wurde. Der Wind pfiff in seinen Ohren und an seinem Gesicht entlang, aber er genoss es regelrecht, die beißende Kälte auf seiner Haut zu fühlen. Er spürte, wie die mächtigen Muskeln in dem Körper unter ihm arbeiteten, um sich und seine drei ungewohnten Gäste in der Luft zu halten. Die Strecke, für die sie sonst vielleicht zwei oder drei Wochen gebraucht hätten, legten sie nun in weniger als zwei Stunden zurück. Dennoch erschien es ihm, als hätte der berauschende Flug gerade eben erst begonnen, als sie auch schon wieder zur Landung ansetzen. Yelin wusste nicht genau, was er erwartet hatte, doch das, was er hier sah, war es mit Sicherheit nicht gewesen. Unbewusst hatte er sich auf eine Art überquellenden Paradieses eingerichtet, so etwas wie ein Ort, an dem alle irdischen Freuden auf einmal versammelt waren. Stattdessen kam ihm die Ebene, auf der sie nun standen, genau so leer und kahl vor wie dort, wo der Palyn sie abgefangen hatte. Das einzige, was auf die Anwesenheit von Bewohnern hinwies war das große Gebäude aus schwarzem Marmor, rot gesprenkelt, das sich direkt vor ihnen erhob. Es war ein wenig in der Art der alten Tempel erbaut worden, mit großen, schwer tragenden Säulen auf der Fronseite, zu denen eine Treppe mit breiten steinernen Stufen empor führte. Am Erstaunlichsten aber war die Stille, die sie empfing. Bis auf das Geräusch ihrer Schritte und das leise Zwitschern einiger Vögel war rein gar nichts zu hören. Allerdings war die Ruhe von einer Art, bei der man meinte, die ganze Welt atmen und wachsen zu hören. Es war nicht wie die Abwesenheit von Geräuschen, sondern eher ihr Entstehen, was sie hier hörten. Hinter ihm stiegen nun auch Thame und Korell von dem riesigen Wesen herunter und vor allem letzterer sah sich mit erstaunten Blicken um. Offenbar hatte nicht nur Yelin etwas anderes erwartet...es dauerte nicht lange, da steckte auch Physales wieder seinen kleinen Kopf auf dem Stoff von Korells Mantel hinaus. Das, was er sah, schien ihn lange nicht so sehr zu beeindrucken wie seine beiden menschlichen Gefährten. Doch mit Abstand am seltsamsten reagierte wohl Thame. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als wäre sie schon sehr oft hier gewesen und freute ich jedes Mal mehr, dieses Platz zu sehen. Mit langsamen Schritten ging sie zu dem schwer atmenden Palyn, legte ihm vorsichtig die Hand auf die schwarze Flanke und flüsterte ihm leise etwas zu. Kurz darauf wandte sich der magische Pegasus um und stieg wieder in die Lüfte auf. Yelin wollte gerade etwas dazu sagen, aber im selben Moment berührte Korell seinen Arm und wies mit einem Nicken auf die drei Gestalten hin, die sich ihnen von dem schwarzen Tempel aus näherten. Unwillkürlich suchten seine Augen wieder den Anblick Thames, die jedoch schon damit begonnen hatte, ihnen entgegen zu streben. Er konnte nicht genau sagen, was ihn bei ihnen so sehr an die alte Frau erinnerte, die ihre Begleiterin war, denn rein äußerlich wiesen sie keinerlei Ähnlichkeit mit ihr auf. Es waren eine junge Frau, ein Mann, der von außen ungefähr gleichalt wie sie wirkte und eine Frau in mittleren Jahren, die in der Mitte ging und den weisesten der drei Blicke zu haben schien. Aber bei ihrem Anblick durchfuhr in dieselbe Empfindung, die er auch bei Thame verspürt hatte: er merkte, wie eine unglaubliche Macht von ihnen auszugehen schien. Und in ihren Augen lag derselbe Ausdruck uralter Weisheit wie in denen seiner ehemaligen Gefährtin. Langsam dämmerte es ihm, wer sie war... "Sei willkommen, Yelin, Drachenmörder. Und auch du, Korell, mit dem schweren Herzen und der bleiernen Seele. Verzeiht uns, dass wir euch den Palyn nicht schon früher schickten, aber wir hatten Gründe, so zu handeln. Wir haben euch schon lange erwartet." Die mittlere der drei Gestalten streckte ihre Hand aus. Fast augenblicklich setzte sich der kleine Gúdo, der bisher auf Korells Schulter gewartet hatte, in Bewegung und flatterte sanft zu ihr hinüber, sich schließlich auf der ausgebreiteten Handfläche niederlassend. Da begriff Yelin mit einem Mal. "Thame...Physales..."krächzte er leise. Er verspürte das eigentlich unangebrachte Gefühl, kräftig herein gelegt worden zu sein. "Du...du bist eine Enuya...Thame..." Diese strich sich die Kapuze mit einer graziösen Bewegung die Kapuze vom Kopf und grinste ihn an. "Ich konnte ja nicht zulassen, dass euch etwas passiert..."meinte sie mit einem leichten Lächeln und stupste Physales freundschaftlich an der Schulter. Dieser wurde noch röter als er ohnehin schon war. "Es tut mir Leid, Yelin...wie du jetzt bestimmt richtig vermutet hast, bin ich einer ihrer geflügelten Boten. Ich habe dich nicht zufällig in jener Nacht belästigt...aber verstehst du, ich konnte einfach nichts sagen! Das hätte den ganzen Plan durcheinander gebracht!" "Den...den Plan? Heißt das, es war alles beabsichtigt? Es war mir von Anfang an vorher bestimmt, dass ich dem Drachen begegne? Dass ich mir die Schuld zukommen lassen musste, ihn zu töten? Der Besuch bei Yonami, der Weiße Dämon, Lorphyr..." seine Stimme brach, als er wieder die kleiner werdende Gestalt des Elben sah, der getroffen auf dem Boden zusammen brach. Und all das sollte geplant gewesen sein? Der ganze Schmerz, die ganzen Selbstvorwürfe, die er sich wegen dem Tode des letzten Drachens gemacht hatte? Das konnte einfach nicht wahr sein. Es durfte schlichtweg nicht wahr sein. Thame sah ihn traurig an. "Nicht so, wie du jetzt denkst, Yelin. Wir haben lange auf jemanden gewartet wie du, nicht direkt auf dich. Wir wussten, dass es eines Tages einen Sanuki geben würde, der das Töten verabscheut...und ihm würde die schwerste aller Prüfungen auferlegt werden. Wir sind die Bewahrer, die Schöpfer dieser Welt. Aber wir können nicht so aktiv in ihren Lauf eingreifen, wie du vielleicht denkst. Oder glaubt du, derart stolze Wesen wie die Yonami, der Schwarze Krieger oder der letzte Drache hätten sich tatsächlich etwas befehlen lassen? Ja, selbst über den Palyn haben wir nur für eine sehr begrenzte Zeit Macht, obwohl du jetzt vielleicht etwas anderes vermutest. Wir kannten Ende und Anfang dieser Reise. Wir konnten jedoch nicht ahnen, was dazwischen geschehen wurde. Auch ich wurde euch nur zur Seite gegeben, weil es mein Wunsch war. Ich war mehr Beobachter als Helfer." Mit langsamen Schritten drehten sie sich um und schritten wieder die Stufen des Tempels hinauf. Oben angekommen meinten sie: "Nun wollen wir dir den zeigen, der ewig schlief. Es wird deine Aufgabe sein, ihn wieder zu erwecken...Komm." Wortlos setzten sich Korell und Yelin in Bewegung, noch immer regelrecht geschockt von der Erkenntnis, mit einer Enuya gereist zu sein. Mit einem Mal schien alles einen Sinn zu ergeben. Ihre seltsamen Blicke, ihr Verschwinden während ihrer Gefangenschaft bei den Elben, die sie natürlich eher erkannt haben mussten als sie selbst, das doppelte Auftauchen des Palyn...kein Wunder, dass sie gewusst hatte, wo sich das Heiligtum der Enuya befand und auch noch in diesem "Alter" dazu fähig, so stark und unglaublich gut zu kämpfen. Aber dass Physales...damit hatten sie beide nicht gerechnet. Der kleine Gúdo der Bote dieser mächtigen Wesen...jetzt wurde auch klar, warum er sich immer vor seinen Artgenossen versteckt hatte. Schließlich musste es überall bekannt gewesen sein, was er war... Und doch konnte Yelin sich auch des seltsamen Gefühls nicht erwehren, verraten worden zu sein. Er war nur ein Werkzeug gewesen! Man hatte ihn benutzt, wie einen Stein, ohne auch nur daran zu denken, dass man vielleicht sein ganzes Leben zerstört hatte - und das anderer mit ihm. Langsam nährten sie sich den lichten Säulengängen, durch die sie die vier hindurch führten. Jetzt, bei nahem Hinsehen erkannte Yelin, dass Physales damals Recht gehabt hatte: die vielen kleinen roten Punkte, die er gesehen hatte, waren tatsächlich winzige, blutrote Blüten, die mitten aus dem schwarzen Stein zu sprießen schienen, aus dem das ganze Gebäude erbaut war. Und je länger und näher er die Wände und Säulen des Tempels betrachtete, desto mehr ging ihm auch die ganze Schönheit und Kunst auf, die in ihm steckte. An jeder Ecke konnte er Neues entdecken, kleine Schnitzwerke, Bilder, Steinhauereien oder winzige Vögel, die sich an dem Saft der roten Blüten labten. Die Wände waren bis an die Decke mit Verzierungen bedeckt, die jede einzeln ihre kleine Geschichte erzählte. Jedes Mal, wenn man meinte, alles gesehen zu haben, entdeckte man wieder neue, unbekannte Formen und Meisterwerke, die sie in ihren Bann zogen. Das ganze Gebäude schien alleine aus diesem Begriff "Vollkommenheit" zu bestehen, seine Grundsubstanz darzustellen - und all das, obwohl es nichts anderes außer schwarzem Stein, den tiefroten Blumen und den kleinen Vögeln gab, die sie umschwirrten. Er spürte die elementare Magie, die in diesem Ort steckte. Es war eine uralte, wilde Kraft und Weisheit, die unglaubliche Magie der Schöpfung, die alles durchströmte und aus jeder Pore hier amtete. Doch eines wunderte ihn: Warum konnte er die ungeheure Macht, die hier vorhanden war, nicht sehen wie sonst? Nach einigem Überlegen stellte er diese Frage laut an die Gestalten, die vor ihm hergingen. Wieder war es Thame, die ihm antwortete. "Wenn du die Magie hier sehen könntest, so würdest du vermutlich jetzt schon blind sein. Du bist hier an dem Ort, der den Ursprung dieser ganzen Kraft der Natur darstellt. Du kannst die Magie nicht sehen, denn hier durchdringt sie alles und jeden, bündelt sich, verstärkt sich vielfach, so dass sie zwar vorhanden, jedoch selbst für Menschen wie dich nicht sichtbar ist." Yelin nickte. Er konnte verstehen, was sie meinte. Die Magie war hier ein solche elementarer Bestandteil des Baumwerks, dass sie sich nicht einmal ihm zu zeigen brauchte. Endlich kamen sie zu dem Portal, hinter dem sein Schicksal auf ihn wartete. Er sah eine Menge Zeichnungen auf dem schwarzen Stein vor sich, doch am meisten beeindruckte ihn das kleine Muster, dass die roten Blüten hier zu bilden schienen: sie sahen aus, als versuchten sie, die Umrisse eines Drachens nachzuzeichnen... Ohne jedes Geräusch schwang die Tür vor ihm auf und gab den Blick frei auf ein dämmriges Halbdunkel, dass nur durch das Licht zweier Fackeln erhellt zu werden schien, die beide an der gegenüberliegenden Wand in Halterungen steckten. Zögernd schritt Yelin nach vorne, an den vier Enuya vorbei, die respektvoll warteten, bis er als erster über die Schwelle getreten war. Schon auf dem Weg hierher hatte bemerkt, wie das Gefühl, etwas Vertrautem zu begegnen, sich ständig verstärkt hatte. Jetzt, wo er endlich am Ziel war, spürte er so deutlich, als könne er es mit den Händen greifen. Der gesamte Raum vor ihm war leer, bis auf die Mitte, in der sich ein kleiner Sockel erhob, auf dem etwas lag. Yelin atmete tief ein und trat näher. Es war ein Ei. Ein großes, ihm bis zu den Knien gehendes Ei, dessen Farbe irgendwo zwischen Grün, Blau, Silber und Braun zu schwanken schien. Er brauchte keine Bestätigung von den Gestalten, die hinter ihm herein getreten waren. Etwas tief in ihm, das Erbe des Drachen hatte es schon lange vor ihnen erkannt: Es war ein Drachenei. Von dieser Schale geschützt schlief der letzte Drache der Welt seinen ewigen Schlaf, bis er kommen und ihn erwecken würde. Ein Gefühl tiefen, umfassenden Friedens machte sich in ihm breit und er begann, stumm zu weinen, als er begriff, dass er nun zumindest einen Teil seiner Schuld wieder abbezahlen würde können. Er war gekommen, um seine Aufgabe zu erfüllen. "Yelin." Eine Stimme hinter ihm riss ihn aus seinen Gedanken. Er drehte sich um und erblickte Thame, wie sie mit einem traurigen Gesicht auf ihn zutrat und ihm die Hand auf den Arm legte. "Erinnerst du dich noch an die Worte der Prophezeiung? Blut wird durch Blut gesühnt, Neues löscht Altes aus. Diese Zeilen waren wörtlich gemeint, Yelin. Der Drache kann nur durch das Blut erweckte werden, in denen das Erbe des Drachens vorhanden ist. Der Mörder seiner letzten Vorfahren muss dieses Blut vergießen. Und nur, wenn er aus tiefstem Herzen an das glaubt, wofür er stirbt, so kann der Fluch gebrochen werden. Verstehst du?" "Soll das etwa heißen, dass er sich selbst hier, an dieser Stelle das Leben nehmen muss?" Die ruhige, aber dennoch laute Stimme gehörte Korell, der seinen Freund mit einem verzweifelten Blick ansah. Die Enuya nickten nur stumm und schwer. Korell sah Yelin lange an und dieser erkannte, wie sich die Verzweiflung wie eine lange Bahn aus Samt über ihn zu legen schien und alle Freude, endlich am Ziel zu sein, erdrückte. Seine Augen verdüsterten sich vor neuem Schmerz. Und tief, tief in ihnen erglomm ein Funke...Yelin vermochte es nicht, ihn zu deuten, aber er erschreckte ihn zutiefst. "Kommt." flüsterte Thame leise und packte sie beide am Arm. "Lassen wir noch eine Nacht vergehen. Danach wird sich Yelin entscheiden, welches Schicksal er annimmt." Der Abend verlief in einem schwermütigem Schweigen. Sie aßen und tranken den Wein, der ihnen gereicht wurde. Einmal flüsterte Korell kurz mit Thame, die ihm als Antwort nur einen kleinen Beutel aus den Tiefen ihres Mantels reichte und dabei traurig zu Yelin hinübersah, der, mit kleinen Schlucken aus dem Kelch in seiner Hand trinkend, einsam in einer Ecke saß und in Gedanken versunken schien. Es war seltsam, doch er fühlte keinen Widerwillen oder gar Schmerz, von dieser Welt scheiden zu müssen. Fast war es so, als ob er tief in sich schon damit gerechnet habe, dass dies passieren würde. Doch er sah es eher als eine gerechte Erfüllung seiner Schuld an denn als sinnloses Opfer. Vielleicht konnte er durch seinen Tod mehr verändern, als wenn er leben würde. Nur das, was mit Korell geschehen würde, wenn auch er starb, erfüllte ihn noch mit ein wenig trauriger Sorge. Sein Freund schien wohl seine Gedanken gelesen zu haben, denn er setzte sich im Laufe der Nacht zu ihm. Leise begannen sie miteinander zu reden. Als hätte die Aussicht auf Yelins Tod mit einem Mal ein verborgenes Tor geöffnet, so erzählte Yelin ihm nun auch alles, was er bis jetzt erlebt hatte. Endlich, endlich war er fähig dazu, ihm einen Teil seines Inneren zu zeigen. Er bemerkte nicht, dass Korell immer wieder etwas aus dem Beutel zu nehmen schien und es in sein Weinglas träufelte. Eigentlich hatte Yelin insgeheim vorgehabt, noch heute in den kleinen Raum zu dem Ei zu gehen und es heimlich zu Ende zu bringen. Er zweifelte nicht daran, dass Korell es erkannt hatte und wusste, was er tun würde. Doch sein Freund sagte nichts, kein Wort, um ihn davon abzuhalten und dies rechnete Yelin ihm hoch an. Er sah es fast als einen letzten Dienst an ihrer alten Freundschaft, dass Korell stillschweigend akzeptierte, was eigentlich schon von Anfang an festgestanden hatte. Als es gegen Mitternacht zuging, stahl sich Yelin heimlich davon und ging den letzten Weg seines Lebens zu den dunklen Mauern und dem schlafenden Wesen, die seiner harrten. Doch kaum bewegte er sich, verspürte er, wie sich ein bleiernes Gefühl der Müdigkeit über seine Glieder senkte und ihn zum Anhalten zwang. Seufzend lehnte er den Kopf gegen die Wand, wollte nur ein wenig ausruhen. Aber schon ein paar Sekunden später hatte der mächtige Schlaf endgültig sein schwarzes Tuch über ihm ausgebreitet. So konnte er auch nicht sehen, wie sich nur wenige Minuten später eine Gestalt aus der Dunkelheit löste. Sie ging entschlossen, mit schnellen Schritten zu ihm hin und kniete sich neben dem Schlafenden nieder. Dann zog sie sacht und darauf bedacht, möglichst wenige Geräusche zu machen, Norai aus seiner Scheide. Stattdessen ließ sie ein kleines zusammen gefaltetes Stück Papier zurück. Schließlich hob sie sacht den Arm des ehemaligen Prinzen und brachte ihm schnell einen langen, flachen Schnitt bei. Das Blut, das dadurch hinuntertropfte, fing er in einer kleinen Schale auf, die er, ebenso wie Norai mit sich nahm, als er wieder ging. Als Yelin am nächsten Morgen erwachte, geschah dies mit einem schweren Kopf, einem brennenden Arm und dem Gefühl, dass etwas geschehen war, was eben so schrecklich wie wichtig war. Er sah an sich hinunter, bemerkte die schon wieder halb verheilte Wunde und sein fehlendes Schwert. Mit einem erschrockenen Laut sprang er auf - und fand dabei das kleine Zettelchen, dass unbemerkt in seinem Gürtel gesteckt hatte. Zitternd und voll dunkler Vorahnungen faltete er es auseinander, las es - und stürzte mit einem lauten Schrei des Entsetzens und grausamen Begreifens fort. Er eilte durch die hohen Säulen des Tempels und wurde immer schneller und schneller, bis er endlich schweratmend das hohe Portal erreichte, hinter dem das Ei gelegen hatte. Alle waren sie versammelt, als er ein zweites Mal über die Schwelle trat und sich nach dem Sockel in seiner Mitte umsah. Eigentlich hätte ihm klar sein müssen, was ihn erwartete, doch trotzdem fuhr ihm der Anblick, der sich ihm bot, bis ins Mark. Lange stand er da und starrte auf das rote Blut, das Boden, Wände und das Ei selbst bedeckte. Etwas zerbrach in ihm und fühlte seine Brust rasend schnell mit einem Knoten, der ihm fast den Atem raubte. Dann meinte er leise und mit zitternder Stimme: "Geht. Ihr alle, geht und lasst mich allein!" Schweigend kamen sie seiner Aufforderung nach. Er schrie. Es war ein einziger Schrei, aber er stieß ihn so laut hervor, dass die Decke anfing zu zittern. In diesem einen Schrei lag all seine blinde Wut, der Hass auf das Schicksal, das ihnen dies angetan hatte, auf sich selbst, dass er es nicht erkannt hatte und auch auf Korell, der gegangen war und ihn alleine ließ. Zornig und voller Trauer ballte Yelin die Fäuste und kniete sich dann neben dem reglosen Körper nieder, der auf dem Boden lag, Norai noch immer in der Hand. Irgendjemand hatte seine Augen schon geschlossen, so dass er nicht auch noch seinen starren Blick ertragen musste. Im ersten Moment, als er ihn so sah, verspürte er nichts als Wut, dass Korell ihn einfach so, ohne zu fragen, verlassen hatte. Was war ihm nur eingefallen? Warum, warum , warum... Mit einem leisen Schluchzen fuhr Yelin über die glatte, weiche Haut im Gesicht seines Freundes. Ein letztes Mal...diese schrecklich wohlbekannten Züge, die ihm so vertraut gewesen waren wie nichts auf der Welt. Sanft strich er ihm die Haare aus dem Gesicht, legte seine Finger behutsam auf dessen Wangen, fuhr über die geschlossenen Augen, den toten Mund, der nie wieder lachen, nie wieder weinen oder zu ihm sprechen würde - als könne allein seine Berührung ihn ins Leben zurück holen. Er hörte ein leises Flattern hinter sich, doch drehte sich nicht um. Obwohl er doch von allen gefordert hatte, dass sie den Raum verlassen sollte, war er nun seltsam dankbar dafür, dass Physales geblieben war. Der kleine Erdgeist setzte sich behutsam auf seine Hand. Noch ehe er etwas sagen konnte, wusste Yelin, dass es ihm schon viel früher klar geworden sein musste, was Korell vorgehabt hatte. Die Fähigkeit, Gedanken zu lesen, konnte manchmal zu einem wirklichen Fluch werden. Doch gleichzeitig verstand er auch genau, warum er, warum alle ihm nicht gesagt hatten, was Korell tun wollte. Und auf irgendeine verdrehte Art und Weise konnte er ihnen deswegen nicht einmal böse sein. Gemeinsam starrten sie auf das herunter, was einmal ihr Gefährte und der Mensch, der ihm auf der ganzen Welt am meisten bedeutet hatte, gewesen war. In diesem einen, unendlich scheinenden Moment konnte er nicht einmal weinen. Alles, was er fähig war, zu fühlen, war eine einzige, alles verschlingende Leere in ihm. Die Gewissheit, nun wieder alleine zu sein, schmerzte mehr als alles andere. Erst ein leises Knacken riss ihn wieder aus seiner tiefen Trauer hinaus. Und als er aufblickte, erkannte, dass das Opfer nicht umsonst gewesen war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)