Blut auf dem Mond von Fellfie ================================================================================ Kapitel 4: Kapitel 4 -------------------- Blut auf dem Mond Kapitel 4 Er hätte es wissen müssen. Es wäre zu einfach gewesen, zu gut um wahr zu sein, wenn tatsächlich alles nach Plan gelaufen wäre. Natürlich war er auf seine Art gerissen, aber er hätte sein Verwandten nicht so unterschätzen dürfen. Vielleicht war er nachlässig geworden, nachdem der Umgang mit Marvolo so selbstverständlich und einfach geworden war. Sie trafen sich fast jede Nacht und immer hatte der Vampir etwas in petto, das Harry faszinierte. Er zeigte ihm diese unbekannte Welt und nach und nach hatte Harry gelernt, wie er mit ihm umzugehen hatte. Wie er Marvolo auf Abstand hielt, um zu verdeutlichen, dass er ihm ebenbürtig und keineswegs ein Spielzeug war. Diese Grenze wurde bei jeder Begegnung neu getestet und neu definiert, aber Harry hatte den Eindruck, dass er nicht der Einzige war, der Spaß daran hatte. Allerdings waren die Treffen meist nicht sehr lang, denn Harry kam erst spät in der Nacht aus dem Haus und musste früh wieder zurück sein, denn seine Tante wurde wach, sobald die ersten Sonnenstrahlen müde über den Horizont krochen. Und meist wurde er dann auch geweckt, was in letzter Zeit zu einem kaum mehr zu übersehenden Schlafdefizit führte. Vielleicht waren sie dadurch misstrauisch geworden. Er hielt sich zwar die meiste Zeit in seinem Zimmer unter dem Dach auf, doch ab und an schaute einer der Dursleys vorbei, um ihm neue Arbeiten aufzuladen oder ihm eine karge Mahlzeit zu bringen. Am Anfang war Harry durch ihre schweren Schritte auf der Treppe immer rechtzeitig hoch geschreckt, doch je mehr Nächte er mit wenig oder gar keinem Schlaf auskommen musste, desto tiefer nickte er zwischendurch weg und manchmal war er erst erwacht, als er unsanft an der Schulter gepackt und geschüttelt wurde. Natürlich musste seinen Verwandten das verdächtig vorgekommen sein. Im Nachhinein hätte sich Harry dafür treten können, dass er nicht vorsichtiger gewesen war. Dass er sich von seiner Begeisterung für die Welt da draußen- und für Marvolo- so hatte mitreißen lassen, dass er seine nächtlichen Ausflüge immer schlechter verbergen konnte. Er war gerade beim Stopfen einer Hose eingenickt, da ließ ihn ein drohendes Grollen hochschrecken: „Potter!“ Harry fuhr hoch und stieß mit dem Kopf hart gegen den seines Onkels, der sich Unheil verkündend über ihn gebeugt hatte. Mit einem Stöhnen sank er zurück auf seine unbequeme, strohgefüllte Matratze und brauchte einen Moment, bevor er wieder mehr als nur Sterne sehen konnte. Auch sein Onkel presste seine fleischige Hand gegen seine Stirn und funkelte ihn erbost an. „Ist das deine Art, deiner Tante und mir zu danken, dass wir dich aufgenommen habe, du Faulpelz? Du schläfst den ganzen Tag und vernachlässigst deine Aufgaben. Das kann ich nicht dulden!“ Harry spürte, wie seine Hände feucht wurden. Jetzt musste er ganz vorsichtig vorgehen. Wenn sein Onkel ahnungslos war, dann konnte er die Situation vielleicht noch retten. „Nun ja...“ begann er zögernd. „Ich schlafe schlecht in letzter Zeit...“ Auf der Stirn seines Onkels pochte eine dicke Ader, als er die kleinen Schweinsäuglein verengte. „Und kannst du mir erklären, woran das liegt?“ Harry wich seinem Blick aus, um ihn nicht weiter zu provozieren und schüttelte den Kopf. „Nein, aber ich nehme an...“ Sein Onkel trat einen Schritt näher. „Nicht? Dann will ich dir mal auf die Sprünge helfen.“ In Harrys Kopf schrillten sämtliche Alarmglocken. Er wusste es! Der Junge war wie gelähmt, unfähig zu entscheiden, was er tun sollte. Wie betäubt lauschte er den bedrohlichen Worten seines Onkels. „Du schleichst dich nachts heimlich aus dem Haus. Obwohl wir es dir verboten haben.“ „Nein, ich-“ „Lüg nicht!“, brüllte sein Onkel. Harrys Kopf flog zur Seite als Vernon ihn ohrfeigte. Bei seinem Onkel saß die Hand locker, das wusste der Junge, aber selten schlug er ihn so hart. Harry spürte wie seine schmerzende Wange heiß wurde und schmeckte Blut. Er hatte sich versehentlich auf die Zunge gebissen. „Wie oft warst du draußen? Jede Nacht in den letzten Wochen? Du glaubst wohl wir sind dumm, was Junge?“ „Nein, ich würde nie-“ „Ganz recht, wir das sind wir nicht“, fiel ihm sein Onkel ins Wort und sein Schnurrbart zitterte erzürnt. „Oh nein! Als du angefangen hast, dich so merkwürdig zu verhalten, haben wir den Braten sofort gerochen und letzte Nacht haben wir die Haustüren präpariert. Hast den kleinen Zettel im Türspalt wohl nicht gesehen, hä? Sonst hättest du wohl daran gedacht, ihn wieder dort zu platzieren.“ Harry spürte seinen eigenen, rasenden Herzschlag und ihm wurde schwindlig. Natürlich hatte er gewusst, dass seine Verwandten bösartig waren, aber dass sie dabei clever genug waren, ihm eine solche ausgeklügelte Falle zu stellen... Du bist selbst schuld, teilte ihm die kleine, spöttische Stimme seines Verstandes mit. Das passiert, wenn man sich zu sicher fühlt und alle Regeln der Achtsamkeit außer Acht lässt. Nach 15 Jahren hättest deine Lektion gelernt haben müssen. Diesen Leuten kann man nicht trauen. Harry wünschte sich, die Stimme würde endlich schweigen. Sie hatte ja Recht. Er war selbst schuld. Er hatte sich wie ein Narr benommen. Niemals hätte er selbstverständlich davon ausgehen dürfen, dass sein Onkel und seine Tante nichts mitbekamen. Und nun hatte leugnen keinen Sinn mehr. Was er jetzt noch tun konnte, war Schadensbegrenzung. „So war das nicht. Ich hatte die letzten Nächte nicht schlafen können, es war so warm hier oben und ich habe schlecht geträumt. Letzte Nacht auch. Also bin ich runter gegangen und habe die Hintertür geöffnet, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Es war mitten in der Nacht, es hat mich bestimmt niemand gesehen.“ „Es geht nicht darum, dass dich niemand gesehen hat“, sagte sein Onkel langsam und zeigte Harry, was er in der Hand hielt, die er bis jetzt hinter dem Rücken verborgen hatte. Einen schweren Ledergürtel. Der Gürtel, mit dem Harry schon Bekanntschaft gemacht hatte, als er vor Jahren versucht hatte, sich aus dem Haus zu schleichen. Panik schnürte dem Jungen die Luft ab. „Es geht darum, dass dich jemand hätte sehen können. Wir sind davon ausgegangen, dass du deine Lektion damals gelernt hast. Aber offensichtlich bis du ein dummer Taugenichts. Ich werde dir wohl erneut zeigen müssen, was geschieht, wenn du uns keinen Gehorsam leistest.“ Damit holte er aus und ließ den Gürtel in einer schnellen, geübten Bewegung niedersausen. Erschrocken riss Harry die Arme vor das Gesicht und mit einem hässlichen Peitschen traf Leder auf Haut. Harry stöhnte vor Schmerz auf, doch er wusste, dass das nur der Anfang war. Das war noch gar nichts. Die Erinnerungen an das erste Mal als Vernon die Beherrschung verloren hatte, waren immer noch so lebendig, als wäre es erst gestern geschehen. Doch heute war er kein kleines Kind mehr. Heute war er nicht mehr so hilflos wie damals. Heute wusste er, wohin er fliehen konnte. Als sein Onkel zum zweiten Mal ausholte, brachte der Junge rasch seine Beine unter seinen Körper und warf sich mit einem Aufschrei gegen die massige Gestalt des Älteren, der überrascht zurücktaumelte und Harry so den Weg zur Dachluke freigab. Schnell Doch gerade, als der Junge durch die Öffnung klettern wollte, wurde er am Kragen gepackt und zurückgezogen. „So einfach entkommst du mir nicht, du unerzogener Bengel.“ Verzweifelt kämpfte Harry gegen den Griff an, die rettende Treppe im Blick, obwohl der vordere Teil von Dudleys altem Hemd gegen seinen Hals drückte und ihm die Luft abschnürte. Gerade als Schwärze begann, sein Sichtfeld kleiner werden zu lassen, gab es ein lautes Reißen und Harry stolperte ohne Oberteil nach vorne und fiel mehr als dass er lief die Treppe hinunter. Unter angekommen japste er kurz nach Luft, doch das Poltern und laute Schnaufen hinter ihm machte ihm klar, dass er keine Zeit für eine Pause hatte. Sein Onkel mochte unglaublich fett sein, doch wenn er wollte, konnte er sich unheimlich flink bewegen. Rasch spurtete der Junge die Treppe ins Erdgeschoss hinunter, an dessen Fuß seine Tante und sein Cousin standen, durch den Lärm angelockt. Seine Tante zuckte erschrocken zurück, als sie ihn auf sich zulaufen sah- in der Tat schien sie sich auch nach 15 Jahren immer noch nicht an seinen Anblick gewöhnt haben-, doch sein Cousin grinste plötzlich gemein. Das hätte Harry eine Warnung sein müssen, schließlich hatte ihn der Junge Zeit seines Lebens terrorisiert, doch sein Blick war so auf die Ausgangstür fixiert, dass er den Gesichtsausdruck nur am Rand wahrnahm- und mit voller Wucht in die Faust hineinlief, die der ältere Junge in seine Magengegend schwang. Unfähig zu atmen stürzte Harry zu Boden und blieb nach Atem ringend liegen, während sich Vernon schwer schnaufend mit einem triumphalen Grinsen im geröteten Gesicht über ihm aufbaute. „Gut gemacht, mein Junge. Immer bereit, dem Vater zu helfen. Das lob‘ ich mir.“ Als Harry mit Tränen des Schmerzes in den Augen nach oben in Dudleys grinsendes Gesicht blinzelte, vermutete er allerdings, dass sein Cousin das nicht getan hatte, um seinem Vater zu helfen, sondern einfach, weil der kleine Sadist sofort die Chance erkannt und genutzt hatte, Harry wieder einmal eins reinzuwürgen. Und verdammt, sein Magen tat wirklich höllisch weh. Er schloss seine grünen Augen und versuchte sich auf seine stockende Atmung zu konzentrieren und sie zu normalisieren. Das klappte gut- bis der Gürtel mit aller Kraft, die Vernon in seinen fetten Armen hatte, auf die nackte Haut an Harrys Oberkörper traf und der beißende Schmerz ihm erneut den Atem raubte. Seine Augen flogen auf und der zweite Hieb traf ihn, bevor er die Chance hatte sich zu bewegen. Keuchend versuchte er über den Boden davon zu robben, doch es kostete seinen Onkel nur einen kleinen Schritt, um den harten Gürtel erneut zielsicher auf seinen Rücken niedersausen zu lassen und dieses Mal war das Gefühl, das harte Leder würde ihm die Haut regelrecht abziehen, mehr als nur ein Gefühl. Der Junge spürte sein eigenes, warmes Blut auf der Haut. „Vernon!“, keuchte Petunia erschrocken und Harry erinnerte sich, dass sie auch schon beim ersten Mal nicht in der Lage gewesen war, ihren Mann zu stoppen. Vernon hatte Spaß daran, sein Pflegekind zu misshandeln und der Junge hasste sich dafür, dumm genug gewesen zu sein, seinem Onkel einen Vorwand geliefert zu haben. Vielleicht hatte er einen Teil des Schmerzes wirklich verdient für seine Gedankenlosigkeit. Zwei weitere Schläge fügten ihm blutige Striemen auf dem Rücken zu, bevor Harry sich wieder auf seinen ursprünglichen Plan besann. Er musste hier raus. Die Tür war nicht weit... Seine Muskeln protestierten, als er sich noch während des nächsten Hiebes hochstemmte und zu einem Spurt in Richtung Tür ansetzte. Er kam nur nicht weit. Er hatte kaum ein paar Schritte Abstand zwischen sich und seinen verblüfften Onkel gebracht, da rammte sich die schwere Gestalt seines Cousins in seine Seite und beide gingen zu Boden, Dudley begrub Harry dabei halb unter sich. Scharfer Schmerz flammte auf, als sein geschundener Rücken über den rauen Boden schrammte und das Gewicht seines Cousins trieb ihm jede Luft aus den Lungen. Einige Momente lang dachte Harry, er würde ohnmächtig werden, dann ebbte der Schmerz zu einem stetigen, deutlich spürbaren Pulsieren ab und der Junge konnte wieder klar denken. Er sah hinauf in das wutverzerrte, schwitzende Gesicht, seines Onkels, der sich ihm nährte, und wusste, dass er keine Wahl mehr hatte. Er konnte nicht einfach still halten, bis es vorbei war. Jetzt, nachdem er Vernon durch seine Fluchtversuche so sehr gereizt hatte, musste er es aus dem Haus schaffen, wenn er leben wollte. Diese Erkenntnis gab ihm neue Kraft. Er schaffte es seine Arme, unter seinem Cousin hervorzuziehen und sah sich im Erdgeschoss, das sowohl Wohnraum, als auch Küche war, nach etwas um, das er als Waffe benutzen konnte. Erfolglos. „Du hältst dich wohl für besonders schlau, was?“, höhnte Vernon und seine Schweinsäuglein funkelten in bösartigem Vergnügen. „Du hast uns unterschätzt, Potter.“ Er holte erneut aus, weiter als zuvor, Dudley rollte rasch zur Seite und Harry wusste, dieser Schlag würde weh tun wie kein anderer zuvor. „Nein!“, rief er verzweifelt, schloss die Augen und riss die Hände vors Gesicht. Es gab ein lautes Platschen und der Schlag blieb aus. Dafür ertönte es ein zweistimmiges, schmerzerfülltes Heulen, gefolgt von einem spitzen Aufschrei seiner Tante. Verblüfft blinzelte Harry vorsichtig hinter seinen Händen hervor und er brauchte einen Moment um Sinn in die Szene zu bringen. Sein Onkel hatte den Gürtel fallen lassen und hielt sich brüllend das Gesicht, sein Haar war klatschnass und es befanden sich Dinge darin, die seltsamerweise wie Kartoffelstückchen aussahen, auf seinen Schultern lag etwas, das an Gemüse erinnerte. Dudley bot einen ähnlichen Anblick. Petunia war zu ihren Männern geeilt, um das Ausmaß der Katastrophe zu begutachten und immer wieder wanderten ihre entsetzten Blicke zu Harry und dem Herd. Der Junge kam schwankend auf die Füße und blickte ebenfalls zum Herd. Dort, wo eben noch der Eintopf für das Mittag gekocht hatte, stand nur noch ein leerer Topf auf dem Feuer. Harry begriff, dass er es irgendwie geschafft hatte, die Suppe über seinen Onkel und seinen Cousin zu schütten, ohne den Topf zu bewegen. Verblüfft starrte er einen Moment länger auf die drei Dursleys, bevor ihm klar wurde, dass er die Gunst der Stunde nutzen musste. Ohne sich noch einmal umzudrehen, rannte er zur nahen Vordertür und hinaus auf die Straße. Dorfbewohner, die gerade vorbeikamen, verharrten verdutzt in ihrem Schritt und starrten ihn an. Drei alte Damen, die in der Nähe zusammenstanden und den neusten Klatsch austauschten verstummten perplex, um kurz darauf sofort wieder tuschelnd die Köpfe zusammen zu stecken. Es musste aber auch seltsam aussehen, wenn ein halbnackter Halbwüchsiger, den zuvor noch nie jemand gesehen hatte, mit blutigen Striemen auf dem Rücken aus dem Haus einer Familie gestürmt kam, die man im Dorf wegen ihrer Unauffälligkeit respektierte und von der man genau wusste, dass sie nur ein einziges Kind hatte. Harry stellte sich vor, was für Gerüchte die Klatschbasen des Dorfes innerhalb der nächsten Stunden verbreiten würden und lächelte grimmig. Das hatten die Dursleys seiner Meinung nach verdient dafür, dass sie ihn aus Scham jahrelang versteckt, ihn der ihm zustehenden Freiheit beraubt und ihn über Jahre hinweg physisch und psychisch misshandelt hatten. Von diesem Abschiedsgeschenk würden sie sich vielleicht nie wieder erholen und es tat dem Jungen nicht im Geringsten leid. Er wurde langsamer, nachdem er die Häuser hinter sich gelassen hatte und auf einer kleinen Anhöhe blickte er noch einmal zurück auf das Dorf, in dem er 15 Jahre gelebt hatte ohne dass die anderen Bewohner etwas davon gewusst hatten. Er konnte nicht mehr zurück, aber als er auf die kleine Ansammlung alter Fachwerkhäuser blickte, stimmte ihn das nicht traurig. Schließlich verband er mit ihnen kaum Erinnerungen. Der Gedanke wiederum machte ihn schon ein wenig wehmütig. Mit einem Seufzen wandte sich der Junge ab und folgte dem Weg zum Schloss, der erst durch den Wald und dann einen Hügel hinauf führte. Er war noch nie bei Tageslicht draußen gewesen, aber es gefiel ihm. Er mochte die Wärme der Sonne auf seiner Haut, das Wechselspiel von Licht und Schatten im Wald, die vielen, verschiedenen Farben der Pflanzen und Insekten und all die Laute der tagaktiven Tiere. Einmal blieb er stehen, um einen großen, grün irisierenden Käfer zu beobachten, der eilig über den Waldweg krabbelte, bis er im Gras auf der anderen Seite verschwand. Oft hielt er inne, um nach dem Ursprung der vielstimmigen Vogelgesänge um ihn herum Ausschau zu halten, doch nie konnte er auch nur einen der gut getarnten Vögel entdecken. Als er aus dem schattigen Wald hinaustrat, blickte er blinzelnd hinauf zu dem Schloss. Die Sonne streichelte warm über seine Haut und der Junge hatte das erste Mal seit er sich erinnern konnte das Gefühl, wirklich zu atmen. Zum ersten Mal war er wirklich frei, erkannte Harry, und trotz der Schmerzen in seinem Rücken war es ein berauschendes Gefühl. Dieses Mal hatte er das Haus der Dursleys für immer verlassen und es gab kein Zurück mehr. Für ihn hatte jetzt ein völlig neuer Abschnitt seines Lebens begonnen. Nervös stieg er den gewundenen Weg hinauf zum Schloss und tastete in seiner Hosentasche nach dem Ring, den Marvolo ihm gegeben hatte und den er seitdem immer bei sich trug, und schloss seine Faust fest darum. Eigentlich war es verrückt. Er hatte so viele unheimliche Geschichten über das Schloss und seine Bewohner gehört und ein Teil von ihm hatte sich immer davor gefürchtet, während der andere fasziniert war. Trotzdem hätte er Stein und Bein geschworen, dass er sich niemals freiwillig hier hinauf wagen würde. Das Leben nahm seltsame Wendungen. Was würde Marvolo wohl mit ihm machen, wenn er an seine Tür klopfte? Würde er ihn aufnehmen? Oder würde er seinen Ring nehmen, ihn auslachen und ihn fortschicken? Ihm sagen, dass er sein Angebot aus einer Laune heraus gemacht hatte, und ihn naiv nennen, weil Harry tatsächlich geglaubt hatte, dass er es ernst gemeint hatte? Nervös stand der Junge vor der schweren Schlosstür und fand beim besten Willen nichts, womit er hätte anklopfen können. Nach kurzem Zögern drückte er probehalber gegen die Tür und tatsächlich- sie schwang auf. Unsicher trat der Junge hindurch in eine düstere Empfangshalle, die nur von einigen wenigen Fackeln an den Wänden erleuchtet wurde. Seine Augen brauchten einen Moment, um sich nach der Helligkeit des Tages draußen an das gedämpfte Licht hier drinnen zu gewöhnen. „Hallo?“, rief Harry, als sich auch nach Minuten keine Menschenseele zeigte, doch er erhielt keine Antwort. Als auch ein zweiter Versuch erfolglos blieb, nahm er allen Mut zusammen und erkundete das Schloss auf eigene Faust. Es wirkte wie ausgestorben… oder schlafend. Unwohlsein überfiel Harry, als er sich an all die Vampirgeschichten erinnerte. Und so beäugte er jede dunkle Ecke doppelt wachsam und vergaß auch nicht, ab und zu einen sichernden Blick nach hinten zu werfen. Das Schloss sah aus, wie er es sich immer vorgestellt hatte. Ritterrüstungen und gruselige Steinfiguren am Rand der Gänge und an den Wänden, ab und zu ein Gemälde, das vornehme Herrschaften zeigte, deren Gesichter alle nichtssagend waren, die ihn aber zu beobachten schienen. Kurz: Es war unheimlich. Und als er schon glaube, für immer durch die Gänge irren zu müssen, hörte er leise Stimmen und Gelächter. Beinahe hätte er auf dem Absatz kehrt gemacht, um wieder hinaus ins Freie zu laufen, doch dann atmete er einmal tief durch und sammelte noch einmal allen Mut zusammen, um den Stimmen zu folgen. Den Ring holte er vorsichtshalber schon einmal aus der Tasche. Schließlich kam er zu einer Tür, die nur angelehnt war, der flackernde Lichtschein von Fackeln fiel durch den Spalt auf den Gang und mit so heftig schlagendem Herzen, dass Harry meinte, man müsse es bis in das Zimmer hinein hören, schlüpfte er schließlich durch die Tür und räusperte sich leise. 5 Augenpaare richteten sich auf ihn. Vier Männer und eine Frau in vornehmer Kleidung saßen im Licht der Fackeln zusammen, tranken Wein (das war doch Wein, oder?) und starrten ihn nun verblüfft an. Schwere Vorhänge versperrten dem Sonnenlicht den Zugang zum Salon. Verlegen starrte Harry zu Boden. „Tut mir leid. Ich wollte nicht einfach so eindringen, aber unten an der Tür hat niemand auf mein Rufen reagiert. Also dachte ich…“ Er zuckte etwas hilflos mit den Schultern. Die überraschten Edelleute fassten sich schnell. „Wie unhöflich von uns. Wir hatten keinen Besuch erwartet“, sagte der Mann, mit den langen, blonden Haaren, die ihm in perfekter Ordnung bis über die Schulter fielen. Er verströmte Aristokratie aus jeder Pore. Unwillkürlich strich Harry mit der Hand über seinen Kopf, in dem vergeblichen Versuch, seinen eigenen wilden Mopp an Haaren zu bändigen. Der blonde Mann lächelte und deute auf den freien Sessel neben seinem eigenen. „Setz dich doch. Und Gregory, schließ‘ doch bitte die Tür. Es zieht.“ Harry beäugte ihn noch einen Moment misstrauisch, dann nahm er tatsächlich Platz und ein Mann, dessen blutrotes Wams sich über einen üppigen Wohlstandsbauch spannte, erhob sich, um die Tür zu schließen. „Ich bin Lucius Malfoy“, stellte der Mann zu Harrys Rechten sich vor. „Und das sind Vincent Crabbe, Gregory Goyle, Rodolphus Lestrange und seine Frau Bellatrix.“ Harry nickte jedem der Vorgestellten höflich zu. „Mein Name ist Harry Potter“, stellte er sich nun ebenfalls vor und rutschte unbehaglich in seinem Sessel hin und her, als er die anderen Anwesenden musterte. Ihre Blicke hatten dieselbe Intensität wie Marvolos, aber bei ihnen verspürte er nicht diesen wohligen Schauer. Im Gegenteil. Er hatte das Gefühl, er sollte hier schnellst möglichst verschwinden. Und er sollte etwas zum Anziehen finden. Es gefiel ihm nicht, dass er hier halb nackt saß, während alle anderen so edel gekleidet waren und ihn abschätzend musterten. „Darf ich dir etwas zu trinken anbieten, Harry?“, fragte Lucius Malfoy seidenweich und seine Körperhaltung war die einer Schlang kurz vor dem Angriff. Harry, der nicht daran gewöhnt war, dass man ihm etwas anbot, nickte perplex. Niemand fragte ihn, wieso er hier war und was mit ihm geschehen war und obwohl Harry nicht die geringste Lust verspürte, solche Fragen zu beantworten, beunruhigte es ihn. Malfoy reichte ihm ein Glas mit einer roten Flüssigkeit und ohne zu überlegen nippte Harry daran, um es sofort wieder auszuspucken. „Das ist ja Blut!“, keuchte er entsetzt und alle um ihn herum lachten. Malfoys berechnender Blick lag auf ihm, als er sagte: „Natürlich, du dummer Junge. Wir sind Vampire. Was würde uns besser schmecken, als Blut?“ Bellatrix lachte. „Ausgenommen warmes Blut von Lebenden natürlich.“ Okay, entschied Harry, das war wohl der Moment, in dem er einen möglichst schnellen Abgang machen sollte. Er sprang auf und schlagartig waren auch alle anderen auf den Beinen. Bevor er auch nur einen Schritt tun konnte, zwang ihn ein harter Stoß zurück in den Sessel und vor Schreck ließ er den Ring los, der lautlos über den dicken Teppich rollte. Harrys Augen folgten ihm, als könne er den Ring allein durch seine Willenskraft zurück in seine Hand zwingen. „Nicht doch“, gurrte Malfoy und Harry blickte zu ihm auf. „Du willst doch nicht etwa schon gehen? Der Spaß hat doch gerade erst angefangen.“ Als er dieses Mal lächelte, sah Harry die langen, spitzen Vampirzähne deutlich hervorstechen. „Rühr mich nicht an“, fauchte er und drückte dem blonden Vampir, der sich vorlehnte, ablehnend die Hände gegen die Brust. Mit einem kalten Lachen drückte Malfoy seine Hände zur Seite und überwand die letzten Zentimeter, um dem Jungen die Zähne in den Hals zu schlagen. „Lucius, nein!“, erklang Bellatrix‘ Stimme befehlend. Der blonde Vampir rollte mit den Augen, bevor er sich zu ihr umwandte. „Keine Sorge, Bella. Ich lasse dir schon noch etwas übrig.“ „Das ist es nicht.“ Sie hielt ihm ihre schmale Hand hin, auf ihrer Handfläche lag Marvolos Ring. „Den hat der Junge gerade verloren.“ Malfoy richtete sich sofort auf und Harry wusste nicht, wem er in diesem Moment dankbarer sein sollte. Marvolo, weil er ihm den Ring gegeben hatte, oder Bellatrix, weil sie bemerkt hatte, dass er ihn verloren hatte. Malfoys kalte, grauen Augen fixierten Harry. „Wo hast du den Ring her? Hast du ihn gestohlen?“ Bellatrix lachte. „Bitte, Lucius. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ein so gewöhnlicher Mensch unseren Lord bestehlen könnte.“ Ihre schwarzen Augen musterten Harry. „Ich glaube eher, dass er ihn gefunden hat. Stimmt das?“ Harrys Mund war plötzlich staubtrocken. Natürlich, er hatte gewusst, dass Marvolo adliger Herkunft war und der Vampir hatte ihm selbst einmal gesagt, dass ihm kein anderer das Wasser reichen konnte. Aber dass Marvolo der Herr dieses Schlosses war, von dem Harry schon so viel gehört hatte, das hätte sich der Junge nie träumen lassen. Wie betäubt schüttelte er den Kopf. „Nicht? Wo hast du ihn dann her? Mach den Mund auf Junge!“, herrschte Belatrix ihn an. Der herrische Ton verfehlte seine Wirkung nicht bei Harry, der es gewohnt war, Befehle zu befolgen. „Er hat ihn mir gegeben.“ Einen Moment herrschte erstauntes Schweigen, dann schnaubte Crabbe: „Der Bengel lügt.“ „Ich lüge nicht!“, empörte sich Harry sofort. „Warum sollte unser Lord einem Menschen so ein kostbares Familienerbstück anvertrauen?“, wollte Malfoy wissen und sein Ton verriet, dass auch er Harry nicht glaubte. „Er hat ihn mir gegeben und mir gesagt, dass ich hinauf zum Schloss kommen soll, wenn ich in Schwierigkeiten bin. Wenn ich diesen Ring vorzeige, dann wird mich jemand zu ihm bringen.“ Erneut ungläubiges Schnauben. „Vermutlich ist der Ring eine Fälschung“, warf Goyle ein. Bellatrix warf ihm einen hässlichen Blick zu. „Glaubst du, ich erkenne den Ring nicht, den ich so oft an der Hand seiner Lordschaft gesehen habe?“, fauchte sie und Goyle schien in sich zusammenzuschrumpfen. Nachdem sie Harry lange nachdenklich angesehen hatte, fragte sie: „Wie hieß der Mann, der dir den Ring gab?“ „Marvolo“, antwortete Harry und wieder richteten sich alle Augenpaare ungläubig auf ihn. „Diesen Namen kann er nicht kennen, wenn er dem Lord nicht tatsächlich begegnet ist“, sagte Malfoy langsam, aber Harry wagte noch nicht aufzuatmen. „Und was machen wir jetzt mit ihm?“, fragte Rodolphus nach langer Stille. „Was schon? Wir bringen den Jungen zu ihm. So hat er es offensichtlich gewollt.“ „Aber... es ist mitten am Tage. Sicher schläft er noch. Du weißt, wie er reagiert, wenn man ihn weckt.“ „Habe ich gesagt, dass ich ihn wecken will?“, gab Bellatrix ungehalten zurück und ihr Mann sah sie skeptisch an. „Du willst den Jungen in seine Gemächer lassen, während er schläft?“ „Was soll er denn machen, in Luzifers Namen? Dem Lord mit bloßen Händen das Herz herausreißen? Himmel, sieh ihn dir doch an. Der Bengel kann kaum auf sich selbst aufpassen, wie soll er da eine Gefahr für andere darstellen?“ Das war keine sehr schmeichelhafte Beurteilung seiner selbst, fand Harry und schmollte ein wenig. Das Schlimmste daran war, dass sie Recht hatte. „Komm, Berry.“ Sie gestikulierte in seine Richtung. Der Junge blinzelte. „Harry“, korrigierte er sie dann, als er begriff, dass sie ihn gemeint hatte, doch sie zuckte nur mit den Schultern, verließ den Raum und erwartete ganz offensichtlich, dass er ihr folgte. Eilig lief er ihr hinterher und achtete darauf, dicht hinter ihr zu bleiben, als sie ihn durch das Labyrinth der Schlossgänge führte. Sie war eine schöne Frau, stellte Harry fest. Sie hatte eine schlanke, weibliche Figur, geheimnisvolle, schwarze Augen und schwere Augenlider, die ihr eine verruchte, sinnliche Aura gaben. Ihr dichtes, schwarzes Haar fiel ihr ein weichen Wellen bis weit über die Schulter und ihre Stimme war angenehm tief und rauchig. Außerdem schien sie Marvolo treu ergeben zu sein. Und obwohl der Junge wusste, dass er kein Recht dazu hatte, verspürte er einen heftigen Stich der Eifersucht, als er daran dachte, dass der Vampirfürst ständig von solch schönen Frauen umgeben war. Und während er noch dabei war, sich dafür zu schelten, war sie schon stehen geblieben und um ein Haar wäre er in sie hineingerannt. Ihre hochgezogene Augenbraue sagte ihm, dass das nicht unbemerkt geblieben war und er lief rot an. „Das ist sein Schlafgemach“, sagte sie und deutete auf eine schwere Tür aus dunklem, glänzendem Kirschholz. Harry nickte und war plötzlich wieder nervös, als er die Klinke hinunter drücke und die Tür lautlos öffnete. Noch einmal warf er einen unsicheren Blick zurück, doch als sie ihm zunickte, trat er schließlich ein und schloss die Tür wieder leise hinter sich. Wie zu erwarten waren die Fenster auch hier durch schwere Vorhänge verdeckt, sodass es im Zimmer beinahe völlig dunkel war, und so brauchten Harrys Augen ein wenig Zeit, bis er etwas von seiner Umgebung erkennen konnte. Marvolos Schlafgemach war beeindruckend, so viel konnte der Junge selbst in dieser Finsternis erkennen. Allein dieser Raum stellte das gesamte Haus der Dursleys in den Schatten und die hohe Decke verstärkte Eindruck von Größe. Zu seiner Rechten befand sich direkt auf seiner Höhe noch eine geschlossene Tür, die offensichtlich in einen angrenzenden Raum führte und auf Höhe der Fenster befand sich etwas, das wie eine Sitzecke aussah. Eine Sitzecke in einem Schlafzimmer! Zu seiner Linken stand das Himmelbett. Kaum zu übersehen und von gewaltigem Ausmaß. Drei erwachsene Männer hätten bequem darin Platz gefunden, ohne sich beim Schlafen in die Quere zu kommen. Daneben befand sich eine weitere, geschlossene Tür. Unsicher schlich Harry etwas näher. Die Bettvorhänge waren zugezogen und einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, Marvolo zu wecken, um Bescheid zu geben, dass er da war. Doch dann erinnerte er sich daran, dass Bellatrix‘ Mann angedeutet hatte, dass der Lord nicht gut darauf zu sprechen war, geweckt zu werden. Und da Harry Marvolo keinesfalls verärgern wollte, zog er sich leise auf die Couch der Sitzecke zurück und beschloss ebenfalls noch ein Nickerchen zu halten, bis Marvolo von alleine erwachte. Die Ereignisse des Tages hatten ihn erschöpft und trotz aller Aufregung fiel es ihm Dank der bleiernen Müdigkeit nicht schwer, in einen tiefen Schlaf zu sinken. - wird fortgesetzt- Aww, so wenig Marvolo. Aber das wird sich im nächsten Kapitel ändern, versprochen ^.~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)