Blut auf dem Mond von Fellfie ================================================================================ Kapitel 2: Kapitel 2 -------------------- Teil 2/5 Blut auf dem Mond „Autsch, verdammt!“, fluchte Harry leise, als er sich zum wiederholten Male mit der Nadel in den Finger gestochen hatte. Ihm wurden vorwiegend Arbeiten aufgetragen, bei denen er sich in seinem Zimmer aufhalten konnte und bei denen nicht die Gefahr bestand, dass ihn jemand sah. Und heute stand das Flicken der Sachen seines Cousins auf dem Tagesplan. Wieder einmal. Dudley hatte überhaupt keinen Respekt vor dem materiellen Wert seiner Kleidung, denn seine Eltern kauften ihm neue, sobald seine alten Kleidungsstücke mehr als einmal repariert worden waren. Die verschlissene Kleidung wurde dann an den ungeliebten Mitbewohner der Dursleys weitergereicht- Harry. Dementsprechend behandelte Dudley seine Sachen natürlich. Ständig musste Harry Risse in den Hosen und Oberhemden nähen und Löcher stopfen. Es hing ihm zum Hals heraus. Ärgerlich musterte er die Hose in seinen Händen als wäre sie schuld daran, dass er sich heute nicht auf seine Arbeit konzentrieren konnte. Dabei lag das Problem ganz woanders. Bei einem unbekannten Mann mit betörender Stimme und nahezu magischen Händen. Es ärgerte ihn, dass er sich durch diesen Fremden so aus der Bahn werfen ließ, doch gleichzeitig freute er sich auf das Wiedersehen heute Nacht. Dieser Mann war sein erster Kontakt zur Außenwelt. Er war jemand, der ihm das Leben dort draußen zeigen konnte, ohne dass Harry Gefahr lief, jeden Fehler, den man machen konnte, wirklich machen zu müssen um zu lernen. Die Welt da draußen war neu und aufregend, der Junge wollte sie entdecken, aber ihm war klar, dass es auch Gefahren gab. Und so ungern er es sich eingestand, er wäre dankbar für jemanden, der ihn in der ersten Zeit etwas an der Hand nahm und ihn führte. Obwohl Harry nicht sicher war, ob die größte Gefahr dort draußen nicht von dem Unbekannten selbst ausging. Er kannte nicht einmal dessen Gesicht. Sein Herz schlug aufgeregt, als Harry sich fragte, ob es ihm heute vielleicht erlaubt sein würde, den anderen Mann anzuschauen. Und wenn nicht, dann würde er sich diese Freiheit einfach nehmen, entschied der Junge. Er wollte so gerne wissen, wie der Andere aussah und außerdem- ein bisschen Gerechtigkeit musste sein. Schließlich kannte der Unbekannte auch Harrys Gesicht. „Argh!“, entfuhr es ihm gereizt, als er sich erneut in den Finger stach. Frustriert schob er die Fingerkuppe zwischen die Lippen um kurz an der schmerzenden Stelle zu saugen. Heute war nicht sein Tag. Es sah ganz so aus, als würde diese einfache Näharbeit ein abendfüllendes Programm werden, aber er konnte seine Gedanken beim besten Willen nicht von dem Fremden abwenden. ooOoOoo An diesem Abend erwachte Marvolo früher als sonst. Die Sonne stand schon tief am Horizont, wie er an dem wenigen Licht, dass durch einen Spalt zwischen den schweren Vorhängen an seinem Fenster fiel, erkennen konnte, aber sie war noch nicht untergegangen. Es war ungewöhnlich für ihn, vor der gewohnten Zeit aufzuwachen, doch heute verspürte er ein seltsames Gefühl der Anspannung. Andere würden es vielleicht als Vorfreude bezeichnen, doch einen solchen Begriff gab es in Marvolos Wortschatz schon lange nicht mehr. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sich das letzte Mal ernsthaft auf etwas gefreut hatte. Das musste in seiner Kindheit gewesen sein und die lag nun schon ein paar hundert Jahre zurück. Doch diese Nacht versprach etwas Besonderes zu werden. So wie auch an die letzte, würde er sich noch lange an sie erinnern, denn sie stach aus dem gewohnten Alltag heraus. Er wusste nicht genau, was es war, doch das Menschenkind zog ihn geradezu magisch an. Der Junge war eine Herausforderung. Noch war er tapsig wie ein neugeborener Welpe, schien von der Welt keine rechte Ahnung zu haben, doch schon in kurzer Zeit könnte ihm der Knabe nahezu ebenbürtig sein. Zwar fehlte dem Kind jede Bildung, doch sein Mut und sein Stolz waren unübertroffen. Deswegen hatte Marvolo ihn in der vergangenen Nacht am Leben gelassen. Er war gespannt, zu sehen, wie sich der Junge unter seiner Führung entwickeln würde. Ob er wirklich so herausragend war, wie der Vampirfürst annahm. Wie hatte es ihn befriedigt, als er keine Kennzeichnung am Hals von Harry gefunden hatte. Dieses Menschenkind gehört niemandem außer sich selbst und Marvolo würde alles daran setzen, es zu besitzen. Es dazu zu bringen, sich ihm aus eigenem Antrieb anzuschließen. Allerdings war die Frage, woher dieser seltsame Junge so plötzlich geklommen war, immer noch unbeantwortet. Die Antwort darauf interessierte den Vampirfürsten brennend. Vom Himmel konnte er ja schwerlich gefallen sein, aber er hatte auch kein Gepäck dabei gehabt, das darauf schließen ließ, dass er eine längere Wanderung hinter sich gebracht hatte. Das war alles höchst mysteriös. Entschlossen, heute Antworten zu bekommen, stand Marvolo auf. ooOoOoo Die Nacht war einsam und still, als Harry schließlich am Ufer des Sees stand und wartete. Weit entfernt ertönte der leise Ruf eines Käuzchens auf der Jagd, dann war es wieder ruhig und der Junge trat unbehaglich von einem Bein auf das andere. Sie hatten keine Zeit ausgemacht, deshalb war er so schnell gekommen wie er konnte. Es war ihm so schwer gefallen, zu warten, nachdem das laute Schnarchen seines Onkels erklungen war, aber er hatte sicher sein müssen, dass alle Familienmitglieder schliefen, bevor er sich hinausschlich. War er zu spät? Oder einfach nur wesentlich zu früh? Wie lange hatte der Fremde wohl vor, ihn warten zu lassen? Irgendwie kam sich Harry sehr dumm vor, denn zeugte sein frühes Erscheinen nicht zu sehr von seiner Begierde, den Anderen wiederzusehen? Kurzentschlossen zog Harry sich aus und watete langsam ins Wasser. Es sollte nicht so aussehen, als erwarte er die Ankunft des Älteren sehnsüchtig und als wäre er nicht fähig, vorher irgendetwas zu tun. Er war zum Schwimmen hergekommen, also würde er das auch tun. Seine Schwimmbewegungen waren immer noch so unbeholfen wie am ersten Tag, dennoch genoss Harry das Gefühl, wieder im Wasser zu sein. So wie der Wind flüsternde Stimmen zu tragen schien, verbarg auch das leise Plätschern des Wassers Geschichten, die erzählt werden wollten. Wie die raschelnden Blätter berichteten ihm auch die kleinen Wellen, die er durch sein Paddeln erzeugte, Erstaunliches über die Dinge unterhalb der Wasseroberfläche. Über Fische, so groß, wie er selbst, Lebewesen so winzig, dass er sie kaum mit dem bloßen Auge erkennen könnte, Wasserpflanzen, die sich aufwärtsstrebend im Wasser bewegten, als würde sie tanzen, die kleineren Fischen Zuflucht und Schutz vor größeren Räubern des Wassers und auch der Lüfte boten, alltägliches aus dem Leben der Bewohner dieses Gewässers noch aus einer Zeit, in der es hier keine Menschen gegeben hatte. Gefesselt lauschte der Junge, während er träge auf der Stelle paddelte, und fasziniert ließ er sich weiter und weiter aus der ihm bekannten Welt entführen und schreckte erst auf, als es plötzlich eine Störung im Fluss der Wellen gab. Der Rhythmus kam ins Stocken und die Stimmen verstummten. Harry fuhr herum und fand sich nur eine halbe Armlänge von einem blutroten Augenpaar entfernt, dass ihn mit solch einer aufwühlenden Intensität musterte, dass Harry zunächst davor zurückschreckte. „Sei gegrüßt, Harry“, sagte die bereits vertraute Stimme und Harrys Herz machte einen Satz, als er begriff, dass er nun auch endlich das Gesicht dazu sah. Sein Gegenüber schien wenig älter zu sein als er selbst, aber er sah unbeschreiblich gut aus mit seinen glatten, dunklen Haaren, die ihm ein wenig ins Gesichts hingen, mit seiner reinen, schneeweißen Haut, der geraden Nase, den anmutig geschwungenen, roten Lippen. Und die Augen... die blutroten Augen... Harry bekam eine Gänsehaut und fand sich nicht in der Lage, seinen Blick zu lösen. Auch nicht als der Andere langsam auf ihn zuschwamm und ihn mit gleichmäßigen, eleganten Bewegungen umkreiste, die mit seinem Hundepaddeln überhaupt nicht vergleichbar waren. Sein Körper glitt durch das silbrig-schwarze Wasser als wäre er Teil davon. „Du hast so abwesend gewirkt, als würdest du träumen. Hast du leise Stimmen gehört, die dir von unerforschten Welten und fremdartigen Lebensformen erzählten? Du solltest dich nicht zu sehr in diesen alten Geschichten verlieren, Harry, das ist nicht gut.“ Der Junge fand es seltsam, dass der Andere genau zu wissen schien, was ihn gerade so gefesselt hatte. Erlebten das andere Menschen auch? Dann war es kein Wunder, dass die Kinder des Dorfes so wild darauf waren, baden zu gehen. Doch schon wieder schien sein Gegenüber genau zu wissen, was er dachte, denn er schüttelte den Kopf. „Nein, Harry. Diese Gabe besitzen nicht viele. In der Tat ist sie... einzigartig.“ Die roten Augen ruhten wieder auf ihm, dieses Mal taxierend, als würde ihr Besitzer einzuschätzen versuchen, was Harry noch alles beherrschte und ob er eine Bedrohung darstellte. Unbehaglich wand sich der Junge. „Wer seid Ihr? Wie soll ich Euch nennen?“ Sein Gegenüber blieb einen Moment stumm, schien die Alternativen abzuwägen. Dann sagte er. „Nenne mich Marvolo.“ Harry räusperte sich. „In Ordnung... Marvolo... Ihr wolltet mir beibringen, wie man richtig schwimmt, nicht wahr?“ „Ja richtig... fangen wir an. Die Nacht ist nicht mehr ganz so jung.“ Einen Moment lang ruhte der abschätzende Blick noch auf ihm, dann wandte sich Marvolo anderen Dingen zu. Harry bemühte sich, den Anweisungen zu lauschen und alles genau zu befolgen, doch es war anstrengend und bald war er erschöpft. Doch wie sich herausstellte, war schwimmen viel einfacher als Harry angenommen hatte. Es brauchte nur einige wenige Hilfestellungen und schon bald bewegte sich Harry wesentlich sicherer durch das nasse Element, doch da es so ungewohnt für ihn war, fühlte er sich schon bald erschöpft. Mit dem Nachlassen seiner Kräfte schwand auch seine Fähigkeit, sich zu konzentrieren, rapide. Immer wieder schweiften seine Gedanken ab zu den seltsamen Stimmen, die er gehört hatte und zu den Bildern, die sie mit ihren Geschichten in seinen Kopf gesetzt hatten. Er seufzte und wünschte sich, dass er einfach für ein paar Stunden in diese andere abenteuerliche Welt abtauchen, sie selbst erkunden könnte. Es war eigentlich nicht schwer. Er musste nur aufhören, sich zu bewegen und tief ausatmen. Sein Körper sank dann von ganz alleine nach unten. Die kleinen Wellen schlugen über seinem Kopf zusammen und das seidige Wasser umhüllte ihn nun vollständig. Harry öffnete die Augen und blickte nach oben, wo er durch die sich bewegende Oberfläche den Mond sehen konnte. ‚Schön…’ Er fühlte, wie Ruhe und Frieden ihn erfüllten und schloss die Augen wieder, um vollständig zu entspannen. Ja, das war sein Element. Hier fühlte er sich wohl. Hier wollte er bleiben. Dann veränderte sich die Strömung. Das Wasser, das eben noch ruhig und streichelnd an seiner Haut vorbei geglitten war, bildete unruhige Wirbel und schien vor etwas hinter ihm zurückzuweichen. ‚Jemand kommt…’ Doch er kam nicht mehr dazu zu reagieren, denn kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht, legten sich zwei starke Arme um ihn und zogen ihn mit unwiderstehlicher Kraft nach oben. Harry wehrte sich, er wollte dieses Reich der Ruhe nicht verlassen, doch es war vergebens. Als sein Kopf jedoch die Wasseroberfläche durchbrach, war es, als wäre er aus einem Traum erwacht. Plötzlich spürte er, wie nahe er dem Ertrinken gewesen war. Seine Lungen brannten und hastig schnappte er nach Luft, sodass ihm schwindlig wurde und er wieder untergegangen wäre, hätten ihn die Arme von seinem Retter nicht immer noch fest umschlungen. Nun wehrte er sich nicht länger gegen den Griff, sondern klammerte sich mit aller Kraft an die Arme, die ihn hielten. „Du dummes Kind!“, fauchte es ungehalten von hinten. „Deshalb habe ich dir gesagt, du sollst dich nicht zu sehr in diesen Geschichten verlieren. Du kannst nicht unter Wasser überleben.“ „Das hatte ich vergessen“, keuchte Harry und drehte den Kopf, um Marvolo in die Zorn funkelnden Augen zu blicken. „Entschuldigt. Ich wollte Euch keine Mühe machen.“ Der Sturm der Wut in den roten Augen legte sich nach einigen Augenblicken langsam und der Junge lehnte sich zurück an der schlanken Körper des anderen, in dem so viel mehr Kraft steckte, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Auch das fühlte sich gut an, entschied Harry. Der feste Körper in seinem Rücken, die starken Arme um seinen Oberkörper. Sicherheit. Geborgenheit. „Du bist erschöpft. Wir sollten Schluss machen für heute. Schaffst du es alleine bis ans Ufer?“, fragte die samtige Stimme des Älteren und Harry öffnete die Augen um über die Schulter hinweg den Blick des anderen zu suchen. Der Ausdruck in den blutroten Augen war undeutbar und doch ließ er Harry einen wohligen Schauer den Rücken hinab rieseln. Gerne hätte der Junge noch etwas weiter an dem Größeren gelehnt, aber er wollte diesem nicht schon wieder Umstände bereiten. Also nickte er und obwohl ihm der Weg zurück zum Ufer unendlich lang erschien, kämpfte er sich solange voran, bis er wieder den weichen, sandigen Boden unter den Füßen spürte und erleichtert aufatmend verließ er das Wasser. Wieder gewohnt trockenes Land unter den Füßen stolperte er die wenigen Schritte auf seine Sachen zu und fragte, sich, warum seine Gliedmaßen ihm so bleiern vorkamen. Es war erstaunlich, wie sich die Wahrnehmung veränderte, wenn man sich eine Weile im Wasser aufhielt. Jetzt, da seine Beine wieder sein gesamtes Körpergewicht tragen mussten, kam er sich selbst ungewohnt schwer vor. Er griff gerade nach seinen Sachen, als ihn etwas am Kopf traf. Verdutzt griff der Junge danach und stellte fest, dass es sich um ein Handtuch handelte. „Trockne dich ab, bevor du dich erkältest“, kam die Anweisung von hinten und Harry befolgte sich dankbar und ohne zu fragen. Er hatte nicht gewagt, eines der Handtücher aus dem Haus mitzunehmen aus Angst, man könnte später vielleicht Spuren daran entdecken, die ihn verraten würden. So musste er wenigstens nicht klatschnass in seine Sachen schlüpfen. Er war kaum angezogen, da verrieten ihm die Geräusche hinter ihm, dass Marvolo bereits dabei war, den Ort des Geschehens zu verlassen. Harry beeilte sich, ihm zu folgen, doch er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass jedes Geräusch, das der Andere verursachte Absicht war. Dass jedes raschelnde Blatt und jeder knackende Zweig unter seinen Füßen wohl geplant war. Schließlich hatte er selbst ja schon mitbekommen, dass sich der Ältere auch völlig lautlos und vor allem übermenschlich schnell bewegen konnte. Sie waren erste wenige Schritte den Waldweg, der zum See führte, hinunter gegangen, als ein leises Schnauben Harrys Blick auf ein pechschwarzes Pferd lenkte, das am Wegesrand angebunden war. „Oh“, entfuhr es ihm leise. Er selbst hätte das Tier übersehen, denn mit seiner Fellfarbe verschmolz es nahezu vollständig mit dem dunklen Wald und er war voll und ganz auf den Rücken von Marvolo fixiert gewesen. Natürlich kannte er Pferde, auch im Dorf hielt man sie, doch die schweren Arbeitstiere waren nicht mit diesem kraftvollen und eleganten Hengst zu vergleichen. Das war kein Tier, das zur Arbeit gedacht war, sondern das dem Zeitvertreib eines wohlhabenden Mannes diente. Wem, das klärte sich auch schon einige Sekunden später, als Marvolo zielstrebig auf das Pferd zusteuerte und mit einem sanften Nasenstupser begrüßt wurde. Harry klappte der Unterkiefer herunter und einen Moment musterte er den Anderen verblüfft, bevor er sich einen Narren schalt. Dass er es nicht mit einem Bauer zu tun hatte, hätte er sich auch alleine denken können. Allein die ausgefeilte Sprache, der jeglicher ländlicher Dialekt fehlte, und die aristokratische Haltung verrieten Marvolo als einen Adligen. Doch warum gab sich jemand so Hochgestelltes mit jemandem wie ihm ab? „Komm ein Stück näher“, lockte der Ältere ihn mit sanfter Stimme. „Du fürchtest dich doch nicht vor Pferden, oder?“ „Nein“, antwortete Harry wahrheitsgemäß und trat nahe zu Marvolo heran. Und ehe er wusste, wie ihm geschah, fand er sich mit dem Rücken gegen einen Baum gedrückt, Marvolos Körper eng an ihn gepresst. Rasch biss er sich auf die Lippe, um den Laut der Überraschung und der Erregung im Keim zu ersticken. Nein, er würde sich nicht noch einmal wie Spielzeug behandeln lassen. „Was-“, setzte er ärgerlich an, doch der Zeigefinger, der sich unter sein Kinn legte und es sanft anhob, ließ er verstummen. „Wovor fürchtest du dich dann? Vor Werwölfen? Vampiren?“ Harry schüttelte den Kopf. „Nein, nein natürlich nicht.” Der Ton seiner Stimme klang nun fast zärtlich und ein wenig amüsiert. Der Ältere lehnte sich näher und schnupperte an seinen Haaren. „Du riechst nicht nach Knoblauch. Isst du keinen?“ Wieder schüttelte Harry den Kopf. „Ich bin allergisch gegen Knoblauch. Als ich noch sehr jung war, gab man mir einmal Knoblauch und ich wäre beinahe daran gestorben. Seitdem hat es niemand mehr versucht.“ „Ahh“, seufzte Marvolo und mit einer unerwartet schnellen Bewegung legten sich seine Lippen auf Harrys. Der Kuss war nicht herrisch, aber fordernd. Er war sanft, aber gleichzeitig fest genug, um ein Versprechen nach mehr zu sein. Ein Locken. Und er war unschuldig genug, um Harry nicht zu erschrecken und gleichzeitig das Verlangen nach mehr in ihm zu wecken. Die Hände des Jungen wanderten zu den kraftvollen Oberarmen des Vampirfürsten und seine Finger krallten sich in den Stoff seines Oberteils, in dem vergeblichen Versuch, die Flut von Gefühlen aufzuhalten, die ihn fortzuschwemmen drohte. Sein Bauch schien aus flüssigem Feuer zu bestehen, das sich über die Adern überall in seinem ganzen Körper verteilte. Marvolos Zunge spielte mit der seinen, schmiegte sich an sie, um sich im nächsten Moment wieder zurückzuziehen. Harrys Zehen rollten sich lustvoll ein und in stillem Genuss drängte er sich gegen den Älteren. „Dann sag mir noch eins, Harry“, hauchte Marvolo als sich seine Lippen wieder einige Millimeter von Harrys entfernt hatten und klang selbst ein klein wenig atemlos. „Wo kommst du her?“ Der Junge rang nach Atem, während sein ganzer Körper immer noch kribbelte. Fühlten sich alle Küsse so unglaublich an? Dann wollte er mehr davon! Unbewusst fuhr er sich mit der Zungenspitze über die Lippen und Marvolos Augen folgen ihr für einen Moment gebannt, bevor er wieder Harrys Blick fixierte. „Aus einem Dorf ganz in der Nähe. Es liegt am Ende des Waldweges, am Fuße des Schlosses“, antwortete der Junge und spürte, dass sich die Atmosphäre augenblicklich änderte. Hatte er etwas Falsches gesagt? Marvolo trat einen Schritt zurück. „Ich frage dich noch einmal und dieses Mal denke genau nach, bevor du antwortest: Woher kommst du?“ Dieses Mal lag ein kaum hörbares, drohendes Beben in seiner Stimme. Irritiert blickte Harry ihn an. Wieso sollte er noch einmal über seine Antwort nachdenken? Und warum schien es dem anderen so unglaubwürdig, dass er aus dem Dorf kam? Mit Nachdruck wiederholte er: „Ich komme aus dem Dorf am Fuße des Schlosses.“ Er spürte, dass Marvolo ihn an der Schulter packte und dann flog er plötzlich durch die Luft. Er landete hart auf dem steinigen Waldweg und schrammte sich die bloßen Arme auf. Verschreckt und ärgerlich rappelte er sich auf, um beim Anblick des anderen Jungen zu erstarren. Rote Augen glühten zornig in der Dunkelheit, die Oberlippe war zurückgezogen und entblößte bedrohlich lange, weiße Eckzähne, als der Vampirfürst zischte: „Lügner! Warum lügst du mich an? Was hast du zu verbergen?“ „Ich habe nicht gelogen!“, verteidigte sich der Junge und stolperte ein paar Schritte rückwärts. Das Bild, das sich ihm bot, war beängstigend. Seine Gedanken rasten. Sollte es doch Vampire geben? Sollte Marvolo tatsächlich einer von ihnen sein? Der Gedanke, einem tatsächlichen Raubtier, das Menschen jagte, gegenüber zu stehen, sprach alle seine Urängste an und löste den sofortigen Fluchtreflex aus. Er trat noch einen Schritt zurück. „Ja, fürchte dich ruhig. Denn wenn das alles ist, was du mir zu sagen hast, wirst du für die impertinente Lüge sterben, sobald ich dich zu fassen bekomme.“ Das war keine bloße Drohung, sondern ein Versprechen und Harrys Nackenhaare stellten sich auf. Rasch sah er sich nach etwas um, mit dem er sich verteidigen konnte, doch in der Hektik vermochte er nichts auszumachen. Also blieb nur noch eine Möglichkeit. Er fuhr auf dem Absatz herum und lief um sein Leben. Marvolo sah ihm zornesbebend nach, folgte ihm jedoch nicht. Es machte keinen Unterschied, wann er den Bengel erwischte. Selbst wenn er ihn heute laufen ließ, Menschen waren so langsam. Morgen Nacht würde er ihn mit Sicherheit bekommen. Und mit etwas Vorsprung machte die Jagd noch viel mehr Spaß. Der Junge war des Todes. - wird fortgesetzt- Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)