Die verlorene Seele von abgemeldet
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Kapitel 5: Fragen suchen Antworten
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Amy´s Kopf brummte und ihre Füße taten weh. Sie fühlte sich wie
ausgemergelt, kam sich richtig dünn vor. In ihrem Magen machte sich ein leeres
Gefühl breit, und ihr wurde leicht schwindlig. Sie setzte sich auf, und sah
sich um; sie befand sich in einer kleinen, leeren Kammer. Es gab hier keine
Fenster, nur eine Türe, die – worüber sich Amy wunderte – einen Spalt
breit offen stand. Sie war auch nicht gefesselt und es standen auch keine Wachen
herum, die sie daran hindern könnten, aufzustehen. Durfte sie hier etwa frei
herumlaufen und sich bewegen?
Amy stand langsam auf, ging einige Schritte in der Kammer umher und sah sich um.
An der Wand waren Inschriften mit roter Farbe gemalt, die Amy nicht
indentifizieren konnte. Auch einige Zeichnungen waren eingraviert, eine davon
zeigte von einer großen Schlacht, eine andere von vier verschiedenen Wesen, die
wie Götter dargestellt wurden. Die Kammer selber war nicht groß – vielleicht
etwa 4 Meter auf 6 Meter, doch der Raum war völlig leer, was ihn größer
wirken ließ. Es gab nicht einmal ein Bett, deshalb musste Amy wohl lange Zeit
auf dem kalten Betongboden gelegen haben, denn ihr tat alles weh und es schien
so, als hätte sie sich erkältet. Schließlich schritt sie vorsichtig auf die
Türe zu, schaute nach draußen, doch es war keine Menschenseele zu sehen.
Langsam schob sie die Türe ganz auf und vor ihr erstreckte sich eine
Landschaft, die es sicher nur im Märchen gab. Ein langer Balkon führte an
ihrer Türe vorbei, und neben der Kammertüre befanden sich noch unzählige
weitere solcher Türen. Waren das etwa alles Kammern? War sie hier vielleicht in
einem Gefängnis, bei dem man sich frei bewegen konnte? Selbst wenn, Amy wollte
hier nicht länger verweilen, die Geschehnisse der letzten Nacht kamen ihr
wieder in den Sinn und es lief ihr kalt den Rücken herunter. Sie schauderte,
schloss die Augen und zwang sich zu einem anderen Bild in ihrem Gedächtnis.
Allmählich glaubte sie wirklich, dass sie eine Pechmarie war und der Tod alle
ihre Freunde verfolgte, bis ihr niemand mehr blieb. Fast schien es so, als wäre
es ihr Schicksal, immer allein zu sein. Doch es macht ihr nichts aus, sie war ja
schon immer allein gewesen, sie war es ja gewohnt, das redete sie sich zumindest
immer ein.
Von dem Balkon führte nun eine riesige Wendeltreppe in einen Park, oder wie
auch immer man dies beschreiben möchte. Ungefähr direkt am Ende der
Wendeltreppe, einige Meter entfernt befand sich ein schmaler Fluss, der von dem
Gebirge herunterfloss, das sich weiter hinten sehen ließ. Allerdings war Amy
dem Gebirge nun viel näher als im Wald, der Fluss mündete weiter unten im Tal,
doch das Gebäude und die kleine Wiese lagen auf einer kleinen Anhöhe. Es hatte
wohl geregnet, denn hinter dem Gebirge schien ein Regenbogen in den
erdenklichsten Farben, die es gab, das Gras war nass und auch auf der
Wendeltreppe glitzerten einige Wasserperlen, was ihr einen silbernen Schimmer
verlieh. Die Sonne stand schon tiefer, um ihr herum einige Wolken, die von den
Sonnenstrahlen rosa durchleuchtet wurden. Auch im gesamten Tal, selbst im
Gebirge schien alles rosa zu glänzen und zu scheinen. Auf dem Fluss spiegelte
sich die Sonne wieder, mit ihren gelben, orangenen, roten und rosanen Farben.
Alles in allem sah diese Landschaft einfach umwerfend aus.
Amy schritt vorsichtig die Wendeltreppe hinunter, bedacht darauf, mit ihren
nackten Füßen auf dem glatten, weißen Stein, der noch immer vom Regen nass
war, nicht auszurutschen. Sie hob sie am Geländer fest, doch viel Nutzen
brachte ihr das nicht, denn das war ebenfalls nass. Doch schließlich war sie
unten sicher angekommen, und schaute sich um. Da erblickte sie auf einmal ein
großes, rundes Becken, dass aus dem gleichen Stein gebaut war wie das Gebäude.
Sie hatte dieses von dem Balkon aus gar nicht gesehen, denn es lag etwas
darunter und man konnte es nur sehen, wenn man sich von Oben über das Geländer
lehnte, doch dann auch nur in einem bestimmten Blickwinkel. Langsam schritt Amy
zu dem Becken hinüber, es hatte Verzierungen am Rand und an dem Sockel, auf dem
es ruhte. Außerdem war es randvoll mit Wasser gefüllt. Amy sah näher hin, das
Wasser glitzerte so silbern. Dann griff sie vorsichtig mit der Hand hinein und
zuckte schnell wieder zurück. Dies hier war kein Wasser, diese Flüssigkeit
hatte sich ungewöhnlich glibbrig und schleimig angefühlt und es war
dickflüssiger als Wasser. Was konnte das nur sein?
„Wie ich sehe bist du erwacht“, hörte Amy plötzlich eine Stimme hinter
sich sprechen. Sie erschrak, drehte sich ruckartig um und blickte geradewegs in
das Gesicht der schwarzen Hexe. Doch sie sah mit einem Mal gar nicht mehr so
furchterregend aus wie in der Nacht zuvor. Ihr schwarzes Haar dagegen wirkte
umso länger, ihre Gesichtszüge etwas weicher, das grausame Leuchten in ihren
Augen war erloschen, vielmehr sahen ihre grauen Augen völlig ausdruckslos aus
und ihr langer, schwarzer Mantel hatte sie auch abgelegt. Stattdessen trug sie
ein enganliegendes, schwarzes Gewand, das ab dem Knie unten zu einem
durchsichtigen, langen Rock endete. Auch die Kälte, die sie ausstrahlte war
schwächer geworden, doch trotzdem fröstelte Amy leicht. Oder tat sie das nur,
weil eine Wolke sich vor die Sonne geschoben hatte und ein leichter Windstoß
ihr entgegenwehte?
Die schwarze Hexe schmunzelte leicht und ging langsam auf Amy zu, wobei sie
jeden Schritt betonte.
„Drei Tage warst du bewusstlos, dass ist wirklich beachtlich, andere vor dir
lagen mindestens fünf Tage im Tiefschlaf“
Was meinte sie mit „andere vor dir“? Wie viele waren ihr wohl schon zum
Opfer gefallen und bewusstlos geworden? War das hier wirklich eine Art
Gefängnis? Tausend Fragen durchschwirrten Amy´s Kopf. Dann blieb die schwarze
Hexe stehen.
„Mach dir doch nicht so viele Gedanken. Würde ich dir irgendetwas anhaben
wollen, so hätte ich das schon längst getan.“
Amy war überracht, konnte sie etwa Gedanken lesen?
„Ja, kann ich. Allerdings sollte man diese Fähigkeit nie zu leichtfertig
einsetzen.“
„Warum hast du das Dorf angegriffen? Warum hast du die Elfen umgebracht? Und
warum hast du mich verschont?“. Jetzt schritt die schwarze Hexe langsam an Amy
vorbei und blieb ihr gegenüber auf der andere Seite des Beckens stehen.
„Du bist ganz schön neugierig.“
„Warum hast du sie umgebracht?“, Amy´s Worte waren fast nur noch ein
Flüstern und sie versuchte die Tränen zu unterdrücken.
„Es liegt in meiner Natur zu töten, so wie es in deiner Natur liegt zu
lieben.“
„Ist das alles?“
Die schwarze Hexe seufzte: „Ich bin ein Schattenwesen. Ich selbst töte
niemanden, nur meine Wächter tun dies.“
„Aber du befielst es ihnen!“, in Amy machte sich allmählich eine Wut
breit.
„Richtig. Aber sie haben sich mir freiwillig angeschlossen, da sie erhoffen,
meine Macht zu erlangen. Dadurch tun sie das, was ich sage. Ich musste die Elfen
auslöschen, weil ich keine Zeugen wollte, die mir dabei zusehen, wohin ich dich
bringe. Wie ich schon sagte, es liegt in meiner Natur zu töten, dies ist meine
Bestimmung, würde ich sie leugnen, wer weiß, was dann mit mir geschehen
würde.“
„Warum hast du mich hierher gebracht? Und woher kennst du meinen Namen?“
„Es herrschen schwere Zeiten. Hier kennt jedes höhere Wesen deinen Namen,
jeder hat auf dich gewartet. Doch du bist zur falschen Zeit am falschen Ort
aufgetaucht. Somit steht das Schicksal unvorhersehbar in den Sternen. Niemand
weiß, ob Atlanera untergehen wird oder es erneut eine Schlacht bewältigen
kann.“
„Aber was habe ich damit zu tun?“
„Das sollte dir jemand anders sagen, ich bin nicht dafür vorgesehen.“
Amy runzelte die Stirn.
„Für was bist du dann vorgesehen?“
Die schwarze Hexe sagte nichts, und Amy glaubte schon, sie hätte ihre Frage
nicht gehört, doch dann ging sie zwischen den Säulen, die den Balkon hielten,
durch ein kleines Tor in das Gebäude und kam nach wenigen Minuten mit einem
Fläschchen wieder, dass eine gelbe Flüssigkeit enthielt. Sie öffnete die
Flasche, trat an das Becken heran und ließ von der gelben Flüssigkeit drei
Tropfen in das Becken gleiten. Das Silber und Gelb vermischte sich.
„Sieh in das Becken“, sagte die schwarze Hexe und trat zurück.
Amy machte einen Schritt voran, beugte sich über das Becken, doch sie konnte
nichts erkennen. Sie wollte schon wieder zurück treten und sagen, dass sie
nichts Besonderes sah, als plötzlich ein Gesicht erschien. Amy indentifizierte
dies als ihr eigenes und allmählich wurde ihre ganze Statur sichtbar. Dann
schreckte sie zurück: Ihr Gesicht veränderte sich auf einmal vollkommen. Ihr
Teenagerspeck war weg, ihr Gesicht schien etwas markanter, ihr Augen leuchteten
in einem stechendem Gelb, ihre Zähne waren länger als sonst und scharf.
Besonders ihre Forderzähne fielen auf. Ihre Haare waren schwarz, darüber
einige blonde Strähnen und sie fielen ihr bis über die Schulter, ins Gesicht
und in die Augen. Ihre Augen selbst waren schwarz umrandet, als hätte sie zu
viel Kajal benutzt und ihre Augenlider waren blutrot. Sie hatte immer noch das
Kleid an, dass ihr Sartena gegeben hatte. Doch etwas ließ sie nicht mehr los:
Es waren die riesigen, schwarzen Flügel auf ihrem Rücken. Amy erkannte sich
nicht wieder.
„Bin das etwa ich?“, raunte sie. Das war doch unmöglich! Wo waren ihre
einst so tiefbraunen Augen, ihre braunen Haare, woher kamen diese Flügel und
wieso sahen ihre Augen so furchtbar aus?
„Auch du hast dich verändert, als du in diese Welt gekommen bist.“
„Aber wieso habe ich mich derart verändert?“
Amy trat wieder von dem Becken zurück, sie wollte ihr eigenes Spiegelbild nicht
mehr sehen.
„Nun was meinst du? Wie fühlst du dich, wenn du dieses Spiegelbild siehst? Du
willst es nicht sehen, hab ich Recht?“ Amy nickte unsicher.
„Konntest du es denn früher sehen, als du normal aussahst? Sei ehrlich zu dir
selbst.“, fragte die schwarze Hexe und sah Amy durchdringlich an.
„Nun ja... nein, eigentlich fand ich mich nie besonders hübsch. Aber jetzt
wünschte ich, ich hätte man früheres Aussehen wieder.“
„Genau hier liegt das Problem.“
„Ich verstehe nicht ganz.“
Die schwarze Hexe schmunzelte leicht und schaute Amy mit einem
„Du-musst-noch-viel-lernen“-Blick an.
„Wo liegt das Problem?“
Die scharze Hexe schwieg, drehte sich um und es schien zuerst so, als wolle sie
Amy zurücklassen und die große Wendeltreppe hinaufschreiten, als sie sich
nochmal umdrehte.
„Folge mir.“
Mit diesen Worten stieg sie die Wendeltreppe hinauf, wobei die Regentropfen auf
den Stufen und dem Geländer, mit jedem Schritt wo die Hexe machte, gefrierten.
Unsicher folgte Amy ihr, wobei sie sich nicht ganz sicher war, ob sie ihr trauen
konnte oder nicht. Vorsichtig setzte sie Fuß vor Fuß und klammerte sich am
Geländer fest, um nicht auszurutschen. Als sie oben angekommen waren, brannten
Amy´s nackten Füße von der vereisten Treppe. Die schwarze Hexe deutete Amy,
ihr zu folgen und ging den langen Balkon entlang bis zu der letzten Türe. Sie
öffnete diese und ließ Amy eintreten. Sie befanden sich in einer riesigen
Eingangshalle und Amy staunte über die Eisskulpturen und den Eisboden.
Überhaupt war hier alles aus Eis, alles glänzte, schimmerte und Amy sah
dutzendfach ihr Spiegelbild. Dann fiel ihr Blick nach Oben an die Decke, doch
verwunderlicherweise war da gar keine Decke, sondern über ihr erstreckte sich
der offene Sternenhimmel. Doch nicht allein nur Sterne waren zu sehen, auch
Lichter in den verschiedensten Farben und Amy fragte sich, ob dies wohl den
Polarlichtern glich.
Fünf Türen waren auf der rechten Seite, auf der linken dagegen keine einzige,
ungefähr in der Mitte des Raumes führte eine breite Eistreppe nach oben auf
eine Galerie. Dort gab es noch vier weitere Türen.
Dieser Raum wirkte so majestätisch und magisch, dass Amy´s Augen sich gar
nicht mehr davon trennen wollten. Amy trat vorsichtig an die zwei Eisskulpturen,
zwei Raubkatzen, die am Treppenanfang rechts und links standen. Vorsichtig hob
sie ihre Hand und streckte sie nach den Statuen aus. Sie waren nur kühl, aber
nicht zu kalt. Die schwarze Hexe dagegen räusperte sich, und wieder schien es
so, als würde sich ein kleines Schmunzeln auf ihrem Gesicht offenbaren, doch
konnte man dies nie genau sagen. Unter dem Blick der Hexe zog Amy ihre Hand
schnell zurück.
„Du bist wirklich sehr neugierig“, sagte die Hexe freundlich, aber bestimmt.
Dann steuerte sie auf die breite Eistreppe zu und während sie hinaufging
erklärte sie Amy, was es mit den Eisskulpturen auf sich hatte.
„Sie sind Abbilder meiner einst treuesten Gefährten. Leider sind sie in einer
Schlacht vor rund 50 Jahren verschollen. Ich weiß nicht, ob sie nur irgendwo
untergetaucht sind und noch leben oder ob sie in der Schlacht gefallen sind. Als
Zeichen ihrer Treue und ihrer Feundschaft ließ ich jeweils eine Statue von
ihnen machen. Ich wünschte, sie würden eines Tages plötzlich auftauchen und
wieder an meiner Seite stehen, doch wer vermag schon zu sagen, was die Zeit
einem bringt?“
Amy schwieg. Die Hexe hatte Recht und 50 Jahre waren eine bedenkliche Zeit. Amy
fiel es schwer, sich vorzustellen, dass die Hexe, deren Aussehen einem Alter von
20 entsprach, wirklich schon über 50 Jahre alt sein sollte.
Endlich waren sie auch an dieser Treppe oben angelangt und die schwarze Hexe
öffnete eine der Türen.
Auch dieser Raum war mit einem Eisboden ausgestattet. Eine Reihe von Fenstern,
die vom Boden bis zur Decke reichten, befanden sich auf der gegenüberliegenden
Seite vom Eingang. Riesige, blaue Vorhänge schmückten die Fenster, zwei blaue
Sessel und ein Sofa zierten sich dazu, ein großes Regal mit einer Buchauswahl,
die Amy ihr ganzes Leben bisher noch nicht gesehen hatte, stand an der rechten
Wand des Zimmers. Ein offener Kamin lächelte einem von der linken Seite aus zu,
in dem allerdings nicht etwa eine normale Flamme loderte, sondern eine eisblaue,
darüber waren Bilder von kunstvolle Zeichnungen, die von Schlachten und anderen
Fabelwesen zeigten. Auf der anderen Seite hängte ein Selbstportrait von der
schwarzen Hexe, die elegant auf einem großen, silbernen Stuhl saß. Sie hatte
einen kleinen Spiegel in der Hand und der Rahmen des Bildes war ebenfalls
silber, mit kunstvollen Verzierungen bedeckt. Sobald sie das Zimmer betraten,
gingen automatisch die silbernen Kronleuchter an und erhellten den Raum.
Draußen begann es schon zu dämmern. Die schwarze Hexe deutete Amy, sich in
einen der Sessel zu setzen, während sie hinüber zu den Fenstern ging und die
Vorhänge zuzog.
Auf einmal klopte es an der Tür und ein Mädchen, etwa zwei Jahre jünger als
Amy, kam mit einem kleinen Speisewagen herein. Sie deckte den Tisch mit zwei
Tassen, goss darin Tee ein, stellte eine Schüssel mit Früchten und eine
weitere mit Gebäck hin, während sie den Blick immer gesenkt hielt. Sie hatte
ein weißes Kleid an, ihre Haare waren nach hinten gebunden und in ihrem Haar
steckte eine wunderschöne Blume.
„Danke, Sathira, du kannst dich nun ausruhen“, sagte die schwarze Hexe
freundlich. Das Mädchen nickte schüchtern, nahm den Speisewagen wieder mit und
schloss die Türe leise hinter sich zu. Amy fragte sich, ob das Mädchen wohl in
den Diensten der schwarzen Hexe stand, und wenn, wie lange sie wohl schon für
sie arbeitete.
Die schwarze Hexe setzte sich Amy gegenüber.
„Nimm dir ruhig, es ist genügend da, ich denke, du wirst sicher hungrig
sein.“
Amy schwieg, griff sich einen Keks und biss hinein. Die schwarze Hexe schien
wieder zu schmunzeln, nahm ihre Tasse in die Hand und trank einen Schluck.
„Nun, du hast dich vorher gefragt, was es mit deinem jetzigen Aussehen auf
sich hat.“
Amy nahm ebenfalls einen Schluck Tee, und er tat gut, nach dem ganzen Eis und
der Kälte.
„Ich verstehe nicht, wieso ich mich derart verändert habe! Ich sehe irgendwie
mitleidend und völlig...“
„...fertig und deprimiert aus. Ich weiß“, die schwarze Hexe suchte nach
Amy´s Blickkontakt und als sie diesen gefunden hatte, fuhr sie schließlich
fort: „Lass es mich so erklären: Du hast in deiner Vergangenheit viel Schmerz
empfunden, du hast eine verletzte Seele, du bist immer mehr kaputt gegangen, bis
du dir irgendwann selbst Schmerzen zugefügt hast.“
„Ich weiß nicht, was du meinst“, rief Amy überrascht.
„Ich rede von den Narben an deinem Unterarm.“
Amy zuckte zusammen. Woher wusste die schwarze Hexe davon? Sie konnte die Narben
nicht sehen, denn das Kleid überdeckte Amy´s Unterarm.
„Fünf Jahre sind eine lange Zeit, obwohl es manchen nicht lange vorkommt. Hab
ich nicht Recht, wenn ich sage, dass du dir immer noch die Schuld gibst an dem
Unfall deines Bruders und an seinem Tod? Gibst du dir nicht immer noch die
Schuld daran, dass deine Eltern sich nicht bei dir melden und dich und deinen
Bruder im Stich gelassen haben? Gibst du dir nicht die Schuld daran, dass du
deinen Freund Dylan nicht aufgehalten hast, weswegen er ermordet wurde? Du gibst
dir doch selbst die Schuld daran, dass die Elfen, deren Wölfe und die kleine
Fee tot sind, weil du meinst, du hättest etwas unternehmen können, obwohl du
nicht in der Lage dazu warst?“
Amy senkte den Blick und eine Minute des Schweigens entstand. Dann stand die
schwarze Hexe auf, ging zum Fenster, zog den Vorhang ein Stück zurück und
blickte nach draußen.
„Du kannst Dinge, die passiert sind, nicht wieder rückgängig machen. Du
kannst die Zeit nicht aufhalten, ebensowenig kannst du alles verhindern, was
geschieht. An dem Unfall deines Bruders warst weder du Schuld noch sonst
irgendwer, du warst noch klein, du wusstest nicht, was richtig oder falsch war.
Du bist auch nicht Schuld daran, dass dein Bruder tot ist oder dass deine Eltern
nicht bei dir leben und sich nicht um dich kümmern. Sie haben dich im Stich
gelassen, nicht du sie. Außerdem habe ich die Elfen und die Wölfe umgebracht,
und nicht du. Wenn jemand bestraft werden sollte, dann ich. Nur ich und meine
Wächter tragen die Schuld daran.“ Die schwarze Hexe machte eine Pause, doch
Amy schwieg. Sie hatte noch nie jemandem zuvor von ihren Schuldgefühlen
erzählt, niemand hatte je mit ihr darüber geredet und ihr gesagt, sie wäre
nicht Schuld. Amy hätte nie gedacht, dass es ihr so gut tun würde, einmal mit
jemandem über ihre Vergangenheit zu reden, auch wenn Amy nur zuhörte, und
nicht wusste, was sie sagen sollte. Allmählich verstand sie, warum sie dieses
Aussehen in dieser Welt angenommen hatte.
„So lange du immer noch glaubst, du bist an allem Schuld, wirst du dieses
Aussehen haben. Denn in dieser Welt zeigt dein Aussehen deine innersten,
tiefsten und ehrlichsten Gefühle. Einzig und allein deine Flügel kann ich dir
abnehmen, alles andere allerdings hängt von dir ab. Es wird sich nicht von
Heute auf Morgen ändern, du musst an dir arbeiten, bis du wieder dein
Selbstbewusstsein erlangt hast.“
Die schwarze Hexe zog den Vorhang wieder zu, drehte sich um und setzte sich
wieder hin.
Amy blickte immer noch auf ihre Teetasse. Die schwarze Hexe hob überrascht die
Augenbrauen.
„Nun? Ich hätte jetzt erwartet, dass du mich mit Fragen löcherst.“
Amy hob langsam den Blick.
„Woher weißt du das alles?“
Die schwarze Hexe schien wieder zu schmunzeln.
„Ich weiß alles über deine Vergangenheit, Amy. Jedes einzelne Detail. Von
deiner Geburt an bis jetzt. Und woher ich das weiß? Nun ja, man könnte sagen,
ich habe es vielmehr gesehen.“
„Dann ist es also wahr, was sie sagen? Du bist eine Hexe?“
„Diesen Namen hab ich mir wohl in den letzten Jahren angeeignet“, sagte sie
nachdenklich, „ich glaube, kaum jemand kennt noch meinen wahren Namen:
Shaidala. Schwarze Hexe werde ich wohl genannt, weil ich vielleicht viel mit
Magie zu tun habe und schon viele Wesen getötet habe, vielleicht auch zu viele,
wer weiß. Aber du kannst mich ruhig Shaidala nennen, das wäre mir ehrlich
gesagt auch lieber als „schwarze Hexe“, das klingt so düster.“
„Verstehe..“, sagte Amy, doch dann verfiel sie wieder in Schweigen. Shaidala
hingegen trank ihren Tee aus und nahm eine der tischtennisball-großen Erdbeeren
und stopfte sich diese in den Mund.
„Du hast doch gesagt, du bist ein Schattenwesen und es läge in deiner Natur
zu töten. Aber wieso hast du mich dann nicht getötet?“
Shaidala schluckte ihren letzten Bissen hinunter, ehe sie antwortete:
„Es wäre mir wohl nicht gelungen, dich zu töten. Sobald ich dich berühren
würde, würde meine Haut verbrennen und ich würde in Flammen aufgehen. Das
wollte ich nicht riskieren, außerdem bist du eine wichtige Person für
Atlanera. So jedenfalls steht es in der Prophezeiung.“
„Was denn für eine wichtige Person?“
„Das sollte dir lieber jemand anders erklären, ich weiß nicht allzu viel
darüber. Nur so viel: In der Prophezeiung steht, dass du diejenige sein wirst,
die Atlanera vor dem Untergang bewahrt.“
Amy fragte sich, was sie wohl ausrichten konnte. Wieso gerade ich? Ich bin doch
nur ein gewöhnliches Mädchen, dass eben mit den Problemen ihres eigenen Lebens
fertig werden muss! Was soll ich denn nur hier tun? Was wird mir bevorstehen?
„Du wirst die Antwort schon bald haben, nur Geduld. Allerdings sehe ich, dass
du noch mehr Fragen auf dem Herzen hast.“
„Wie kann es sein, dass es eine andere Welt gibt außer der Erde?“
„Ist das wirklich die Frage, die du stellen willst? Überlege gut.“
Amy runzelte die Stirn: „ Träume ich etwa nur?“
Shaidala schien wieder zu schmunzeln.
„Nein“
„Bin ich tot?“
„Gegenfrage: Würde Gott dich mitten in eine Schlacht schicken, wenn du
sterben würdest?“
„Gibt es denn einen Gott?“
„Glaubst du denn, dass es dich wirklich gibt?“
„Wieso auch nicht?“ Amy verstand nicht, worauf die Wahrsagerin hinauswollte,
sie war doch aus Fleisch und Knochen.
„Dein Körper existiert, das ist richtig. Aber wer sagt uns, ob es eine Seele
gibt? Wer kann uns sagen, ob wir wirklich existieren oder selbst nur ein
Trugbild sind?“
„Ich verstehe immer noch nicht.“
„Was würdest du sagen, wenn du eines Tages erfahren würdest, dass du gar
nicht existierst, sondern nur ein weiterer Teil eines Puzzles bist, das nur
darauf wartet, an die richtige Stelle gesetzt zu werden? Was wäre, wenn das
alles, was hier geschieht, gar nicht wirklich geschieht, sondern du tatsächlich
nur träumst? Was wäre, wenn dein ganzes bisheriges Leben auf der Erde nur ein
Scheinleben gewesen wäre, aber dein richtiges Leben erst hier beginnt? Man kann
nicht sagen, ob Gott wirklich existiert oder nicht, genauso wenig kann man
sagen, ob man selbst wirklich existiert. Du wirst zwar von den anderen gesehen
und beachtet, aber wer kann uns sagen, dass du dir das nicht einfach nur
einbildest? Weißt du nun, was ich meine?“
„Ich denke schon“, sagte Amy unsicher. Die Worte von Shaidala verwirrte
sie.
Dann entstand wieder eine Pause des Schweigens. Shaidala beobachtete Amy
interessiert, als würde sie nur darauf warten, dass sie ihre nächsten Fragen
stellte.
„Wenn es einen Gott gibt, warum lässt er dann so etwas wie Krieg zu?“
„In welche Richtung willst du jetzt diese Diskussion lenken? Wir haben nicht
viel Zeit und ich denke, du hast noch längst nicht alles gefragt, was du wissen
wolltest.“
Amy senkte den Kopf, Shaidala wusste offenbar besser als sie selbst, was
wirklich in Amy vorging, doch Amy selbst wusste nicht, welche Fragen sie stellen
sollte.
„Du hast gesagt, du könntest mir meine Flügel abnehmen. Kann ich denn mit
diesen Flügeln auch fliegen?“
„Du könntest fliegen, allerdings wird es einige Wochen dauern, bis du richtig
gut fliegen könntest. Außerdem ist es nicht gut, wenn jeder deine Flügel
sieht, dein Aussehen ist auch ohne deine Schwingen viel zu riskant.“
„Wieso?“
„Nun ja, zum ersten würde dich jeder erkennen. Zum zweiten: Was glaubst du,
stellen schwarze Flügel am ehesten dar?“
„Ich weiß es nicht..“
„Natürlich weißt du es“, unterbrach Shaidala Amy, „denk nur einmal gut
nach. Welche Wesen haben schwarze Flügel?“
„Vielleicht.. gefallene Engel..?“, fragte Amy unsicher.
„Richtig. Und wodurch fallen Engel?“
„Ich weiß nicht sicher.. wenn sie Gott verraten haben?“
Shaidala nickte.
„Aber ich habe Gott doch gar nicht verraten.“
„Wobei wir wieder bei der Diskussion von vorhin wären. Du hast gefragt, ob es
einen Gott gibt. Du gleichst einem gefallenen Engel, allerdings weiß man auch
nicht, ob es wirklich Engel gibt. Selbst hier nicht, wo es so viele Fabelwesen
gibt, aber du bist unter anderem der lebende Beweis dafür. Daher scheint es,
als hättest du Gott verraten, da du ein Engel bist, müsste es theoretisch auch
einen Gott geben.“
„Das heißt also, es gibt Gott und ich habe ihn verraten?“
„Somit wären wir nun beim zweiten Punkt angelangt, so langsam scheinst du
auch die richtigen Fragen zu stellen. Nun ja, die Theorie, dass es Engel gibt,
wäre zum Teil schon einmal bestätigt. Aber die Tatsache, dass Engel nur
fallen, wenn sie Gott verraten haben, ist noch längst nicht bewiesen. Du
beispielsweise hast nicht Gott verraten, sondern jemand anderen.“
Amy erschrak. Wen könnte sie verraten haben? Ihre Eltern? Aber Shaidala meinte
doch, sie wäre nicht Schuld daran, dass ihre Eltern sie verlassen haben. Oder
Dylan? Er wurde doch ermordet, sie hatte damit nichts zu tun. Auch den Tod ihres
Bruders konnte sie nicht verhindern, das hatte die schwarze Hexe ja bestätigt.
Wen also könnte sie noch verraten haben?
„Wie ich sehe, steigt dein Selbstvertrauen allmählich. Ich hoffe ich kann
dich heute noch so weit bringen, dass deine Flügel gänzlich verschwinden.“,
auf Shaidala´s Gesicht breitete sich wieder ein Schmunzeln aus, aber diesmal
war es deutlich zu sehen.
„Wen hab ich verraten?“
„Oh, Amy, du musst noch einiges lernen. Vor allem das zusammensetzen von
Puzzleteilen deiner eigenen Gedanken. Den einzigen, den du verraten hast, ist
dich selbst. In eurer Welt nennt man dies - so glaube ich - Depression. Du
scheinst in ein dunkles Loch zu fallen, alles um dich herum wird schwarz und du
kommst einfach nicht mehr raus. Entweder du grabst weiter in deinem Loch herum,
bis du gänzlich von der Erde verschluckt wirst oder du schreist um Hilfe, bis
dir jemand ein Seil zuwirft. Wobei wir nun immer dem Wesentlichen näher kommen,
und wie ich vorhin schon erwähnte; ich kann dir zwar ein Seil zuwerfen, aber
herausklettern aus deinem Loch musst du selbst.“
„Aber was kann ich tun, dass ich mein Selbstvertrauen wieder erlange?“
„Genau auf diese Frage habe ich die ganze Zeit gewartet, wobei du dir schon
fast selbst die Antwort gegeben hast. Um dein Selbstvertrauen wieder zu
erlangen, zählt im ersten Moment nur eines: Der Wille dazu! Hast du den, so
fällt dir einiges schon mal viel leichter. Dann solltest du niemals aufgeben,
diesen Spruch, den man ja so oft hört und schon beinahe nicht mehr hören kann.
Ein weiteres wichtiges Argument ist, dass du alles was du jemals in deiner
Vergangenheit erlebt hast, verarbeiten musst. Ich denke, ich liege richtig, wenn
ich sage, dass du so etwas noch nie gemacht hast und deine Sorgen immerzu mit
dir rumschleppst.“
„Und.. wie kann ich alles verarbeiten?“
„Rede mit irgendjemand darüber, ich würde mich ja anbieten, aber leider
haben wir nicht allzu viel Zeit, dann könntest du alles aufschreiben, das würd
ich dir am Anfang empfehlen und als letztes könntest du deinen Schmerz einfach
hinausschreien. Du wirst sehen, das alles würde helfen, solang du es ernsthaft
versuchst und daran glaubst.“
„Wieso haben wir nicht allzu viel Zeit?“
„Mitglieder der schwarzen Dämmerung. Sie sind hierher auf dem Weg, noch
versuchen meine Wächter sie abzuwehren, aber lange wird meine Armee wohl nicht
durchhalten.“
„Was ist wenn wir die Mitglieder des roten Aufgangs um Hilfe bitten?“
Shaidala entwischte ein kurzes Lachen, dann stand sie auf, holte eine Kerze von
einem der Regale und stellte sie vor sich auf den Tisch.
„Ich bin ein Schattenwesen, was meinst du, wieviele Mitglieder ich schon
umgebracht habe? Sie würden mir niemals helfen, sie würden mich festnehmen.
Außerdem möchte ich nicht, dass sie meinen Aufenthaltsort erfahren, nur meine
Wächter und Dienerinnen wissen diesen.“
Shaidala setzte sich wieder hin, faltete die Hände wie zu einem Gebet, schloss
die Augen und murmelte leise etwas vor sich hin, dass Amy nicht verstehen
konnte. Dann entzündete sich das eisblaue Feuer im Kamin auf einmal und auf der
Kerze brennte eine ganz normale Flamme.
„Was wäre wenn dich einer deiner Wächter oder Diener verraten würde?“
„Demjenigen wäre ein schnelles Ende gesetzt; sie müssen einen Schwur mir
gegenüber ablegen. Aber genug davon, wie ich sehe schwirrt eine weitere
wichtige Frage in deinen Gedanken umher.“
Shaidala stand auf, nahm die Kerze, ging zu dem Kamin hinüber und zündete
damit das Holz im Kamin an, es dauerte nicht lange, bis das Feuer sich
ausgebreitet hatte und der Kamin einen hellen Schein wiedergab.
„Wieso kommen die Mitglieder der schwarzen Dämmerung hierher? Was wollen
sie?“
„Sie wollen dich. Wie ich schon sagte, du bist eine mächtige Person, und so
wie ich vermute, wollen sie dich um deine Macht berauben. Unter anderem wollen
sie auch meine Macht, aber ich könnte mich ihnen vielleicht stellen. Du
allerdings hast noch nicht genug Fähigkeiten erlernt, sodass du dich wehren
könntest, genau deshalb haben wir auch nicht viel Zeit, da du wieder so schnell
wie möglich von hier verschwinden musst.“
„Aber woher wisssen sie, dass ich hier bin?“
„Sie hören es durch den Wind und durch den Regen“, Shaidala stand vor dem
Feuer und winkte Amy zu sich her, „wie so viele andere haben sie diese
Elemente in ihren Bann gezogen und benutzen sie als Spione. Nun gut, sieh ins
Feuer, aber schau nicht zu tief hinein.“ Amy trat interessiert und vorsichtig
an den Kamin heran und sah ins Feuer, doch zunächst konnte sie nichts erkennen.
Die Flammen tänzelten umher und gaben zischende Geräusche von sich, als sich
auf einmal die Flammen sammelten und sich zu einer einzigen, riesigen Flamme
verwandelte. Amy trat einen Schritt zurück, um von den ausspuckenden Funken
nicht getroffen zu werden. Wie durch Zauberhand schien die Flamme plötzlich
über dem Holz zu schweben und Amy trat wieder näher hin, blieb aber trotzdem
noch in einem sicheren Abstand von dem Feuer stehen. Die Flamme verwandelte sich
erneut und ganz langsam wurde aus ihr eine Runde Scheibe des Feuers, die über
dem Holz schwebte. Wie ein leerer Teller ruhte sie dort, kleine Flammen
züngelten um sie herum.
„Sieh in die Mitte der Scheibe“, flüsterte Shaidala geheimnisvoll und
leise, aber laut genug, dass Amy es verstehen konnte. Vorsichtig senkte Amy
ihren Kopf über die Scheibe und ihr Blick näherte sich der Mitte des Feuers.
Plötzlich zischelte das Feuer und ein kleine Flamme sprang hoch, sie hätte
Amy´s Gesicht fast in Brand gesteckt, doch um haaresbreite hielt sie inne und
verkleinerte sich so rasch wieder, wie sie sich entfacht hatte. Amy´s Gesicht
war heiß und sie wollte sich wieder zurückziehen, doch sie konnte ihren Blick
nicht mehr von dem Feuer abwenden, fast als würde ein Bann sie daran
festkleben. Mit allergrößten Kräften versuchte sie sich loszureißen, doch es
wollte ihr nicht gelangen.
„Jetzt gibt es kein Zurück mehr“, hörte sie Shaidala mit einem
unheimlichen Unterton in ihr Ohr flüstern. „Sieh dir genau an, was du jetzt
siehst.“
Die Flammenscheibe begann sich mit einem Mal gegen den Uhrzeigersinn zu drehen,
erst langsam, dann wurde sie immer schneller und schneller, Amy wurde fast
schlecht beim Zuschauen. Auf einmal hielt die Scheibe an und ganz langsam
erschien ein Ort, zuerst kaum erkennbar, doch dann sah Amy, dass es ein
Schlafzimmer war.
Ein großes Himmelbett stand in dem Raum, von dem ein großer, weißer Schleier
herunterhing. Kopfkissen und Bettdecke schimmerten in einem weichen Rosa. Neben
dem Bett stand ein kleines Nachtkästchen, auf dem zwei eingerahmte Fotos
standen. Gegenüber von dem Bett war ein großer Schrank, daneben in der Ecke
stand ein kleiner Tisch, mit einem Spiegel darüber und einem Stuhl. Irgendwie
kam Amy das gesamte Zimmer vertraut vor. Dann wandelte sich das Blickfeld auf
die gegenüberliegende Seite des Zimmers, und Amy sah ein Mädchen an der Wand
lehnen. Sie hörte eine Person atmen, und es schien als würde die
Flammenscheibe das Zimmer aus eben der Person sehen, die nun langsam auf das
Mädchen zutrat. Es hatte dunkelbraune, fast schwarze Haare, sowie auch braune
Augen. Sie hatte eine schlichte Jeans und ein T-Shirt an. Als die Person näher
auf das Mädchen zuging, blieb Amy fast die Luft in der Kehle stecken. Auf
einmal wurde ihr bewusst, dass es ihr Zimmer war! Das Mädchen war niemand
geringeres als sie selbst! Sie kannte diese Szene, und kannte somit auch die
Worte, welche die Person, aus deren Sicht sie dies alles sah, aussprechen
würde.
„Verdammt, Amy! Du weißt genau, dass es nicht besser wird! Nichts wird wieder
so wie vorher sein!“
Das Mädchen zuckte zusammen, als eine Faust neben ihr in der Wand einschlug und
eine Delle hinterließ.
„Beruhig dich doch. Du kannst es schaffen, wenn du willst.“
„Ich kann nicht mehr, versteh das doch...“
„... wenn du es doch nur versuchen würdest.“
Wieder wurde seine Stimme lauter und das Mädchen kauerte sich noch mehr an die
Wand.
„Du kannst mich nicht dazu überreden, erst recht nicht dazu zwingen! Also
lass es! Nur weil dein Bruder daran zugrunde gegangen ist, brauchst du nicht zu
meinen, es bei mir wieder gutmachen zu wollen!”
Eine Träne lief über das Gesicht des Mädchen, und als der Junge dies sah, war
er etwas bestürzt und bereute offensichtlich, was er gesagt hatte. Er trat
näher an Amy heran, seine Hand lehnte ausgestreckt gegen die Wand direkt neben
Amy´s Kopf, sodass sie nicht weglaufen könnte. Mit der anderen Hand wischte er
ihre Träne weg.
„Nein... weine nicht, es tut mir leid. Was ich gesagt habe.. ich habe es nicht
so gemeint, bitte verzeih mir...Amy... bitte weine nicht“, seine Worte klangen
nun wieder sanft und eine Beruhigung schwang in seiner Stimme mit. Tatsächlich
hörte Amy auf zu weinen.
„Heißt das, du willst das gleiche tun wie mein Bruder?.“
Er zuckte zusammen und sah ihr in die haselnussbraunen, tiefen Augen. Fast
hätte er sich darin verloren, wie so oft, doch er wendete seinen Blick ab, sah
zu Boden und flüsterte ein kaum hörbares „Nein“.
„Warum hasst du mich? Ich will dir doch nur helfen! Du bist der einzige den
ich noch habe und nun fängst auch du mich an zu hassen.“
„Was redest du denn da? Ich hasse dich doch nicht. Ich weiß ja, dass du mir
helfen willst, und ich bin dir auch dankbar, aber es ist zu spät. Ich komme
nicht mehr los davon, ich brauche es, versteh das doch. Ohne würde ich zu
Grunde gehen. Aber ich hasse dich doch nicht... im Gegenteil“
Erneut wurden ihre Augen feucht, doch als sie in seine Augen blickte, beruhigte
sie sich und ihre Tränen hielten sich zurück.
„Was meinst du mit „im Gegenteil“?“
Verwunderung machte sich auf ihrem Gesicht breit, zugleich aber auch
Verzweiflung.
„Hier ist ein Brief für dich“, sagte er, anstatt Amy zu antworten. Er
reichte ihr den Brief, den sie mit zitternder Hand entgegennahm, ehe er
fortfuhr: „Amy, ich muss dir noch etwas sagen bevor ich gehe... aber wenn ich
gehe, bitte halte mich nicht auf, es muss so sein.“
„Dylan, ich...“
Doch der Junge legte ihr einen Finger auf die Lippen und sie verstummte. Er
suchte ihren Blick, und als er ihn gefunden hatte, sah er sie durchdringend an,
und sagte „Ich halte es eigentlich schon lange vor dir geheim. Ich liebe dich,
Amy. Nicht nur wie eine kleine Schwester, sondern da ist mehr. Ich hab mich in
dich verliebt.“
Erneut wollte das Mädchen etwas sagen, doch er legte ihr wieder den Finger auf
die Lippen. „Sag nichts... ich muss jetzt gehen. Mach´s gut, kleine Lady.
Pass auf dich auf.“ Dann näherte er sich ihrem Gesicht, strich sanft eine
Haarsträhne weg, und berührte mit seinen Lippen ihre. In diesem Moment
verspürten beide eine innere Wärme, und es war als wäre der letzte Funken von
Liebe entsprungen, um sich schließlich zu einer lodernden Flamme zu entfachen.
Langsam trennten sich ihre Lippen wieder, das letzte, was der Junge von Amy sah,
war die Träne, die erneut Zuflucht suchte. Schließlich drehte er sich um und
ging zur Tür, die Treppen hinunter. Schweren Schrittens und schlechten
Gewissens ließ er das Mädchen zurück, dass mit dem Rücken zur Wand auf den
Boden sank, auf den Brief in ihrer Hand blickte und weinte.
>br>
Dann änderte sich das Bild in der Flammenscheibe und es wurde eine lange,
dunkle Gasse abgebildet. Man konnte nicht viel erkennen, aber Amy wusste, dass
es immer noch aus der Sicht von Dylan war. Sie kannte diese Gasse, sie war sie
nur zu oft entlanggelaufen, und immer wieder musste man dort aufpassen, nicht
überfallen zu werden. Mit schweren Schritten lief Dylan diese Gasse entlang,
und jeder Schritt hallte von den dicht stehenden, hohen Häusern wider. Doch
anstatt die Gasse durchzulaufen, wie er es sonst auch tat, bog er nach rechts ab
und ging in eines der Häuser hinein. Vielmehr war dies ein Lagerhaus, es war
völlig leergeräumt. Spärliches Licht viel durch die wenigen, dafür aber
beschmutzten Fensterscheiben. Man konnte den Staub förmlich in der Luft
schweben sehen. Nun steuerte Dylan auf eine Treppe zu, hielt sich am Geländer
fest und schleppte sich hinauf. Doch nicht etwa in den 1. Stock, sondern auf das
Dach hinauf. Oben angelangt wartete er, schaute mit trägem Blick über die
Stadt, bis ihn von hinten jemand grob an der Schulter packte und ihn herum
zerrte. Ein Windstoß wehte die langen, schwarz-grauen Haare des Mannes zurück
und sein Gesicht wurde erkennbar. Zwei unterschiedlich farbene Augen, ein
eisblaues und ein giftgrünes, blitzten auf und zuckten, als sie Dylan ins
Gesicht sahen.
„Da bist du ja“, sagte er und seine Stimme klang genauso vergiftet und
eiskalt wie seine Augen aussahen. Ein kalter Schauder lief Amy den Rücken
hinunter.
Immer noch krallte seine Hand sich in die Schulter von Dylan fest und seine
Finger bohrten sich tief in seine Haut.
Der Mann trug einen langen, schwarzen Mantel, und darunter eine schwarze Hose
sowie auch ein schwarzes Hemd. Seine grausamen Augen blickten immer noch auf
Dylan hinunter.
„Weißt du was...“, nahm der Mann das Wort wieder auf. „Du weißt etwas zu
viel über uns. Deswegen...“, er verstummte kurz, und zog etwas aus seiner
Manteltasche, doch Amy und sowohl auch Dylan konnten nicht erkennen, was er war.
„Deswegen wird dem jetzt auch ein Ende gesetzt. Oder besser gesagt... DIR!“
Auf einmal stürmte der Mann mit dem, was er in der Hand hielt, auf Dylan los,
der sich gerade noch von dem Griff des Mannes losreißen und leicht geduckt mit
zwei großen Sprüngen nach hinten ausweichen konnte. Jetzt konnte man auch
erkennen, was der Gegenstand war: Ein Messer! Es hatte Dylan nur um haaresbreite
verfehlt. Plötzlich sprang der Mann mit einem kräftigen Satz in die Luft und
es schien, als könne er schweben, denn er verharrte einige Sekunden in der
Luft, bis er schließlich von oben kopfüber, das Messer vor sich ausgestreckt
auf Dylan zuschoss.
„Stirb!“, doch Dylan konnte wieder ausweichen. Erneut war das Messer direkt
an ihm vorbeigezischt. Dann ging er in die Hocke, das andere Bein streckte er
aus, mit der Hand packte er gleichzeitig den Arm des Mannes, verdrehte diesen
und brachte den Mann schließlich zur Strecke, der mit einem dumpfen Knall zu
Boden fiel. Dylan wusste, das war seine Chance. Er rappelte sich auf und wollte
in Richtung Treppe rennen. Er hatte sie schon fast erreicht, doch auf einmal
erschien direkt vor ihm eine Gestalt und versperrte ihm den Weg. Bei näherem
Hinsehen erkannte Dylan, dass es der Mann war, er drehte sich blitzartig um, zu
der Stelle bei der er den Mann vorher niedergelegt hatte, doch die Stelle war
leer. Es schien ihm unbegreiflich, wie der Mann so schnell aufstehen und Dylan
überholen konnte. Dies war selbst für einen Erwachsenen unmöglich zu
schaffen! Es musste also Magie im Spiel gewesen sein. Das Messer allerdings lag
noch am gleichen Platz wie vorher, dass dem Mann, als er auf den Boden knallte,
aus der Hand geflogen und etwa vier Meter von ihm entfernt weg geschlittert war.
Als sich Dylan nach dem Messer umschaute und es schließlich einige Meter von
ihm entfernt lag, wusste er, dass er gerade ein entscheidender Fehler gemacht
hatte. Etwa im selben Augenblick kam der Mann mit schnellen Schritten auf ihn
zugerannt, und bevor sich Dylan wieder richtig umdrehen konnte, klammerte sich
eine Hand des Mannes auch schon um seinen Hals. Er hob Dylan in die Luft und sah
ihn durchdringend an.
„Wag noch einmal, mich zu überlisten, und es werden nur noch deine Eingeweide
von dir übrig sein!“, die Stimme klang drohend und furchterregend, eiskalt
und rau. Doch Dylan verzog das Gesicht kein bisschen, er zuckte weder mit den
Wimpern noch sonst etwas änderte sich an seinem Blick. Das allerdings gefiel
dem Mann ganz und gar nicht und verstärkte seinen Griff um Dylan´s Hals. Noch
immer blieb der Junge regungslos. Immer stärker und stärker wurde sein Griff,
und Dylan war des Todes näher als er jemals war, doch er würde dem Mann keine
Schwäche zeigen, er würde nicht um das Leben winseln, so wie er es von ihm
erwartete. Allmählich ging die Geduld des Mannes mit Dylan zu Ende und in
seinem Gesicht war nur Zorn und Abscheu. Er sah Dylan an als wäre er ein
kleines, ekelhaftes Insekt, das er jeden Moment zertreten wollte. Dann zog er
Dylan ganz nah zu sich her, und flüsterte in sein Ohr: „Deine Stunde hat
geschlagen! Ich werde dich so lange quälen, bis du um das Leben flehst und wie
ein Hund winselst. Du hast meine Geduld lange genug auf die Probe gestellt.
Außerdem hast du deiner kleinen Freundin ja schon Lebewohl gesagt“, ein
grausames, gefühlsloses Lächeln schwenkte in seiner Stimme mit, und ehe Dylan
sich fragen konnte, woher der Mann von dem Gespräch mit Amy wusste, stieß ihn
der Mann weg, als wäre Dylan ein Kadaver eines Kleintieres. Zehn Meter flog er
nach hinten, bevor er schmerzvoll und mit voller Wucht auf dem Boden aufstieß.
Rings um ihn herum riss der Boden ein und hinterließ viele Spalten. Dylan
stockte der Atem, der Aufprall auf den Rücken hatte ihm fast das Leben aus den
Lungen gesaugt. Mindestens 20 Sekunde lang spürte er nichts mehr von seinem
Körper und drohte zu ersticken. Er hechelte und rang nach Luft und allmählich
füllten sich seine Lungen wider. Allerdings war ihm bewusst, dass er sich wohl
die Wirbelsäule gebrochen hatte. Alles mögliche tat ihm weh.. vom Kopf bis zum
Steißbein. Seine Hosen waren aufgeschürft, die Beine hatten Schrammen. An
seinem Kopf blutete er, er hatte sich sicherlich mehrere Rippen gebrochen. Woher
nahm der Mann nur diese Kraft her?
Dylan überkam ein Gefühl der Beklommenheit, seine Sicht ließ nach und es
schien erst so, als würde er ohnmächtig werden, doch er riss sich zusammen. Er
wollte sich aufrichten, doch bevor er den Versuch unternehmen konnte, spührte
er ein großes Gewicht auf seiner Hand. Der schwarze Stiefel von dem Mann kannte
er nur allzu gut. Er trat kräftig zu, und diesmal konnte Dylan nicht anders,
als das Gesicht zu verzerren, es zerquetschte ihm die Hand. Die Fingerknochen
knacksten einer nach dem anderen und Dylan war sich sicher, dass nun auch seine
Finger gebrochen waren.
„Lass das mal besser bleiben. Sag lieber Lebewohl zu mir.“
Der Mann stand nun mit dem anderen Fuß auf Dylans anderer Hand, damit dieser
sich überhaupt nicht mehr bewegen konnte. Dasselbe Spiel auch dabei: Ein Finger
nach dem anderen wurde gebrochen. Nun konnte Dylan nicht mehr anders, ihm
entfuhr ein Schrei. Höllische Schmerzen machten sich breit, alles tat ihm weh.
Der Mann beugte sich nun wieder über ihn, er hatte das Messer wieder in der
Hand. Er ließ es beinahe liebevoll an Dylan´s Hals entlangschrammen, man sah
ihm an, dass ihn dies ein absolutes Vergnügen bereitete.
„Noch irgendwelche letzten Worte, Schattenjäger?“
„Fahr zur Hölle!“
Dann ließ der Mann des Messer von Dylan´s Hals gleiten, erhob die Hand und
stach zu. Blut spritzte, Dylan´s Augen weiteten sich voller Schmerz, dann war
Stille. Aus Freude, aus purem Vergnügen stach der Mann noch weitere 6 Mal zu,
obwohl Dylan sich nicht mehr regte. Endlich ließ der Mann von Dylan ab, drehte
sich um und ging vergnügt, da er nun seinen Drang zum Töten gestillt hatte und
seine Wut abgeklungen war, weg von dem Gebäude, weg von dem Blut, weg von der
Tat und ließ die Leiche von Dylan zurück.
Amy riss sich von der Flammenscheibe zurück, stolperte nach hinten und flog auf
den Boden. Sie war erschöpft und müde. Sie war entsetzt und wünschte, sie
hätte dies nicht gesehen. Sie spürte Schmerzen, als ob sie mit Dylan
mitgefühlt hätte. Sie wollte die Bilder in ihrem Kopf los werden, fasste sich
mit den Händen an den Kopf, grub ihre Finger in ihre Haare und schrie. Sie
tobte und wälzte sich auf dem Boden. Shaidala stand daneben, und schien darauf
zu warten, dass sich Amy beruhigte. Die Flammenscheibe hingegen verwandelte sich
wieder in normale Flammen zurück und das Feuer loderte wieder im Kamin, als
wäre zuvor nichts geschehen. Allmählich beruhigte sich Amy wieder, doch die
Wut brodelte in ihrem Bauch. Ihr Herz raste und ihr wurde mit einem Mal bewusst,
wie sehr sie Dylan vermisste. Ihr wurde auch bewusst, dass er dies wohlmöglich
alles vorausgesehen und gewusst hatte. Er hatte gewusst dass er sterben würde
und trotzdem war er in dieses Gebäude gegangen, auf das Dach hinauf. Warum?
Warum nur, Dylan?
Amy war verwirrt, entkräftigt, sie fühlte sich schwach und es war, als klebe
das Blut von Dylan an ihren Händen. Sie fühlte sich, als hätte sie und nicht
der Mann ihren Freund umgebracht Amy stütze sich auf, taumelte zu dem Sessel
hinüber und lass sich hinuntersinken. Shaidala setzte sich ihr wieder gegnüber
und schaute sie an.
„Ich weiß wie du dich fühlst, ich war auch entsetzt als ich dies sah. Aber
ich musste es dir zeigen. Du hattest ein Recht darauf, es zu erfahren.“
„Wie konnte man mich nur verdächtigen? Wie konnte man nur glauben, ich wäre
imstande so etwas meinem besten Freund anzutun?“, ihre Stimme zitterte und es
wog eine Schwäche mit.
„Diese „Polizisten“, wie ihr sie in eurer Welt nennt, waren keine
richtigen Polizisten. Sie waren mit Sicherheit Handlanger des Mannes, der deinen
Freund umgebracht hat.“
„Wer ist dieser Mann?“, keuchte Amy.
„Ich weiß es nicht. Ich kenne ihn nicht, obwohl er mir doch in gewisser Weise
vertraut vorkommt.“ Amy blickte auf den Boden, ihr wollten die Bilder einfach
nicht aus dem Kopf gehen. Betretens Schweigen brach ein, als Shaidala Amy die
Schale voll Obst hinüber schob:
„Hier, iss etwas Obst, dann wird es dir besser gehen.“
Beklommen griff sie nach einem Apfel und biss hinein. Tausend Fragen
durchschwirrten ihren Kopf. Wer war der Mann? Was hatte er mit Dylan zu tun?
Woher wusste Dylan, dass er sterben würde? Wieso ist er dorthin gegangen,
obwohl er doch wusste, dass er es nicht überleben würde? Wieso war der Mann so
stark und besaß Magie? Wieso, wieso nur hatte er Dylan umgebracht? Und wieso
hatte er Dylan „Schattenjäger“ genannt?
„Du hast viele Fragen, wie ich sehe. Leider kann ich dir keine einzige
beantworten.“
Amy schwieg, dann kam ihr etwas in den Sinn. Wenn Shaidala ihre Fragen nicht
beantworten konnte, dann musste Amy eben selbst nach Antworten suchen. Ja, sie
wusste zwar noch nicht wie, aber sie würde herausfinden, wer der Mann war. Und
dann würde sie sich rächen, obgleich sie wusste, dass sie keine Chance gegen
den Mann hätte. Doch der Schmerz und die Wut in ihr ließen sie nur an eines
denken: Rache!
Sobald sie diesen Gedanken erfasst hatte, glaubte sie zu spüren, wie eine Last
von ihren Schultern genommen wurde. Sie fühlte sich mit einem Mal viel leichter
und befreiter. Plötzlich kitzelte etwas an ihrem Nacken. Sie drehte sich um und
sah noch, wie etwas von dem Sessel auf den Boden glitt. Sie beugte sich hinab
und hob es auf: Es war eine rabenschwarze Feder von einem Flügel!
Leichter Nebel umhüllte das Ödland, das vor Les Northás lag. Regen und Matsch
vermischte sich mit Blut, das Schlachtfeld war besät mit Leichen und doch waren
noch Tausende von Kriegern am Leben. Die Wächter von Shaidala kämpften bis an
ihr bitteres Ende, doch viele waren schon gefallen und somit in der Unterzahl im
Gegensatz zu der schwarzen Dämmerung. Es war eine blutrünstige, schwere
Schlacht. Der Wolkenhimmel verfinsterte sich, zuerst begann es zu dämmern, doch
dann dauerte es nicht mehr lange, bis nur noch die Sterne und der Mond Licht
spendeten. In dem Getümmel konnte man kaum erkennen, wer nun zu den Anhängern
von Shaidala gehörten und wer Mitglied der schwarzen Dämmerung war, denn
allesamt waren sie schwarz gekleidet. Es war eine Schlacht zwischen
Schattenwesen und lange Zeit schien es so, als wären sie sich ebenbürtig und
als würde die Schlacht endlos dauern, doch schon bald merkte man, dass
Shaidala´s Wächter immer mehr zurückgedrängt wurden. Die Schlacht tobte
solange, bis einer der treuesten Wächter und Oberbefehlshaber die anderen zum
Rückzug zusammenrief. Es waren so viele von der schwarzen Dämmerung, dass
Angreifen nicht mehr viel brachte, also suchten sie Schutz hinter den Gemauern
von Les Northás, verteidigten sich durch die Schießscharten und versuchten
sich, so gut es ging, zu erholen. Doch lange würden sie sich nicht ausruhen
können, denn es dauerte nicht lange, bis einige Männer der schwarzen
Dämmerung Seiler über die Mauer, die Les Northa´s umgab geschwungen hatten.
Die Haken an den Enden der Seile blieben ganz oben, wo die Mauer endete hängen
und somit konnten die Männer mit einer Leichtigkeit daran hochklettern. Dabei
schien es fast so, als würden sie zum größten Teil an der Mauer
entlangschweben. Doch nicht nur das machte den Wächtern zu schaffen, die
schwarze Dämmerung hatte es fertig gebracht, große, schwere Leitern
herzutransportieren, die sie ebenfalls an die Mauer lehnten, daran
hochkletterten und Les Northás stürmten. Sie legten schwere Steine in Karren
und schossen diese zu den Mauern hoch, die in sich zusammenfielen wie Staub.
Viele Wächter wurden davon getroffen, gingen unter den Mauern unter, brachen
sich dabei alle Knochen oder wurden mit Pfeilen gelöchert. Andere widerum
wurden erstochen und abgemetzelt, bis nur noch Fetzen von ihnen übrig waren. Es
kam selten vor, das Schattenwesen gegeneinander kämpften, aber wenn, dann
konnte man davon ausgehen, dass es eine brutale und schreckliche Schlacht werden
würde.
Lange konnten die Wächter allerdings Les Northás nicht mehr halten, also blieb
ihnen nichts anderes übrig, als rechtzeitig Shaidala zu informieren, sodass Amy
genügend Zeit blieb zu flüchten. Der Oberbefehlshaber bekam von Shaidala den
Befehl zurück, alle Wächter zusammenzurufen, in die große Eingangshalle zu
bringen und die Tore so gut es ging von innen zu schützen. Sie wollte nicht
noch mehr Männer verlieren, und erst, wenn sie Amy in gewisser Weise zur Flucht
verholfen hatte, konnte sie zu ihren Wächtern stoßen und ihnen zur Hilfe
kommen. Bis dahin mussten die Wächter alleine klar kommen und Les Northás so
gut wie möglich schützen.
Amy starrte auf die schwarze Feder in ihrer Hand und mit einem Mal wurde ihr
klar, was passiert war.
„Wie ich sehe, hat funktioniert, was ich geplant habe“, die Stimme
gegenüber von ihr ließ Amy hochschrecken, sie hatte beinahe vergessen, dass
Shaidala ja noch mit im Raum war. „Dadurch, dass Gedanken der Rache durch
deinen Kopf schwirrten, wurde für einen kurzen Moment dein Selbstbewusstsein
gestärkt und somit haben deine Flügel sich zu eben dieser schwarzen Feder
aufgelöst. Das ist äußerst beeindruckend. Dürfte ich mir mal die Feder
ansehen?“, fragte Shaidala und nahm die Feder, die Amy ihr hinstreckte,
entgegen. Sie betrachtete die Feder sehr genau und interessiert.
„Wie ich es mir schon dachte. Diese Feder solltest du immer gut aufbewahren
und bei dir tragen. Irgendwann wird der Tag kommen, an dem du sie gebrauchen
wirst.“
Amy nahm die Feder wieder entgegen und betrachtete sie ebenfalls genau. Wozu sie
wohl diese Feder einmal brauchen würde? Sie konnte immer noch nicht richtig
glauben, dass aus eben diesen Federn ihre Flügel gemacht waren – so
kohlrabenschwarz. Auf einmal spürte Amy etwas bedrohliches, böses, das von der
Feder ausging.
„Das ist ihre Aura, die du da spürst. Sie spiegelt praktisch deine Gefühle
wider. Bist du traurig so wird die Feder schwerer werden und eine Traurigkeit
wird sie umspielen. Im Moment hast du Rachegedanken, deswegen wirkt sie so
böse. Das bedeutet aber nicht, dass du dann auch böse bist, es sind nur deine
Gefühle und Gedanken“, Amy hörte Shaidala aufmerksam zu und war fasziniert.
Diese Welt, in der sie sich befand gab so vieles Preis, was man im wahren Leben
nicht finden würde und es schien ihr hier viel besser zu gefallen als in ihrer
Welt, auch wenn sich Atlanera gerade mitten in einer schweren Schlacht befand.
Offenbar gab es hier außer den Guten und den Schlechten, auch noch jene, die
sich weder auf die eine, noch die andere Seite schlugen. Die Gutes und Böses
taten und sich doch aus der Schlacht raushielten, außer sie würden selbst in
einer solchen Situation schwelgen. Solche, wie zum Beispiel Shaidala. Gewisse
Bewunderung spürte Amy für sie, denn Shaidala war im Grunde Böse und doch tat
sie etwas Gutes, indem sie Amy half. Das war wohl äußerst selten. Am meisten
jedoch verspürte Amy Respekt und Angst vor Shaidala, denn sie war trotz allem
noch ein Schattenwesen, sie tötete, sie spielte Intrigen, sie hatte einfach ein
schwarzes Herz. Deswegen war sich Amy auch nicht sicher, ob sie Shaidala hundert
Prozent vertrauen konnte, doch ihr blieb wohl nichts anderes übrig.
Plötzlich wurde Amy aus ihren Gedanken gerissen, denn Shaidala schien auf
einmal mit sich selber zu reden.
„Gut, ich habe verstanden. Ruf die anderen Wächter zusammen und geh mit ihnen
zur Eingangshalle. Schützt das Tor so lange ihr könnt, ich muss zuerst das
Mädchen in Sicherheit wiegen und ihr zur Flucht verhelfen. Danach werde ich zu
euch stoßen und euch helfen. Passt auf, dass ihr nicht noch mehr Männer
verliert.“
Shaidala bemerkte den verwunderten Blick von Amy, die wohl denken musste,
Shaidala sei verrückt geworden.
„Keine Sorge, ich habe nicht mit mir selber geredet“, wieder einmal hatte
die Wahrsagerin die Gedanken von Amy erfasst. Es war schwer etwas vor ihr zu
verbergen. „Meine Wächter haben mir Bescheid gesagt, dass die schwarze
Dämmerung allmählich die Oberhand gewinnt und sie immer mehr in die Richtung
des Gebäudes drängen würden. Sie schießen die Schutzmauer ein, die mein
Tempel umgibt, somit habe ich ihnen erklärt, was sie zu tun haben.“
Dann stand sie auf, ging hinüber zu einem der Bücherregale, fuhr mit dem
Finger über die Einbände und suchte offenbar ein bestimmtes Buch. Sie zog ein
schweres, in Leder gebundenes Buch heraus und legte es auf den Tisch. Der dumpfe
Aufprall wirbelte Staub auf und Amy´s Blick wanderte über das Buch, auf dem
mit großen, verschlungenen, schwarzen Buchstaben „Geschichte von Atlanera –
Wie alles begann“ stand. Shaidala schlug die erste Seite auf und
durchstöberte das Inhaltsverzeichnis, dann blätterte sie weiter und als sie
die Seite gefunden hatte, sie sie suchte, riss sie diese heraus und schob sie zu
Amy hinüber. Auf der Seite war eine Karte zu sehen.
„Dies ist eine Karte von Atlanera. Es sind nicht alle Städte und Orte
eingetragen, aber zumindest mal die bedeutensten und größten“, Shaidala
deutete auf einen Ort, der hoch in den Bergen lag und von Wald umgeben war,
„das hier ist Les Northás, der Ort an dem wir uns gerade befinden. Die
schwarze Dämmerung greift uns von der westlichen Seite aus an, das heißt, hier
befindet sich auch das Tor, dass nun meine Wächter zu schützen versuchen. Du
müsstest demnach in die entgegengesetzte Richtung fliehen, also nach Osten. Ich
begleite dich, bis der Wald Gil Herua endet. Danach musst du alleine weiter
ziehen, den Berg hinunter bis ins Tal der Leblosen. Dort musst du dich vorsehen,
es lauern gefährliche Gestalten und nicht alle sind dir wohlgesinnt. Es gibt
aber keinen anderen Weg nach Osten von dem Berg hinunter. Ich würde dir
vorschlagen, dass du im Tal zügig reitest, bis du ins Landesinnere kommst,
reite bis zur Stadt Makodir, dort bist du auf jeden Fall sicher. Suche die
Gaststätte Zum stechenden Schwert auf, ich habe dort eine Unterkunft für dich
arrangiert. Hier, versuch dir einmal den Weg einzuprägen, ich hole dir schnell
etwas Besseres zum Anziehen. Dein Kleid ist zwar schön, aber leider zum Reiten
ungeeignet“, mit diesen Worten ging Shaidala eilends zur Tür hinaus und Amy
betrachtete die Karte. Der Weg war nicht schwer zu merken, doch Amy machte sich
Sorgen um das Tal der Leblosen. Zum Ersten klang es schon mal nicht gerade
einladend und es war ihr erst recht nicht geheuer, alleine dort hindurch zu
reiten. Doch es blieb ihr wohl nichts anderes übrig. Sie hätte allerdings
nicht gedacht, dass Atlanera so groß war, obwohl es doch um tausendfach kleiner
war als die Erde.
Die Türe ging wieder auf und Shaidala kam mit einigen Klamotten auf dem Arm
zurück. Sie reichte Amy einen Rock aus weichem Fell, ein enganliegendes,
ärmelloses Oberteil, dass sie vor Angriffen schützen sollte und einen Umhang,
der aber nur etwa bis über die Knie reichte. Er war aus dem gleichen Stoff wie
der Rock gemacht. Unter anderem überreichte sie ihr noch einen Gürtel, an dem
eine kleine Tasche angebracht war, Stiefel, knielange Strümpfe und einen
Köcher mit Pfeilen sowie auch einen Bogen. Shaidala ging wieder hinaus, damit
sich Amy ungestört umziehen konnte. Amy probierte die Sachen an und sie passten
ihr wie angegossen. Der Rock war weit genug, sodass sie mit ihm reiten konnte
und die Klamotten würden sie vor Kälte und Regen schützen. Amy streifte den
Gürtel um, faltete die Karte zusammen und steckte sie in die Tasche hinein.
Dann legte sie den Köcher um und nahm den Bogen in die Hand. Sie betrachtete
sich in einem Spiegel, der in der Ecke stand und gefiel sich selbst. Irgendwie
verlieh der Umhang ihr ein etwas dämonisches Aussehen, das mit dem Fransenrock
noch unterstrichen wurde. Ihr Haar fiel wild über ihre Schulter, und die
blonden Strähnen in den schwarzen Haaren fielen unheimlich auf. Ihre Augen
hatten sich etwas verändert, so glaubte Amy, doch es war kein großer
Unterschied zu vorher zu erkennen, sie waren immer noch blutrot und schwarz
umrandet. Auch ihre Zähne waren noch gewetzter und schärfer wie ganz am
Anfang. Einzig und allein ihre Flügel waren weg. Amy blickte auf ihre Hände,
ihre Fingernägel waren schwarz angemalt und länger und spitzer als sonst.
Plötzlich fiel ihr Blick auf die Stiefel, die ihr Shaidala hingestellt hatte.
Amy hatte ganz vergessen, diese anzuziehen. Sie zog noch die Kniestrümpfe an,
die über dem Sessel hingen und schlüpfte in die Stiefel. Auch diese passten
wunderbar. Amy blickte wieder zum Spiegel und schreckte auf einmal zurück. Ihre
Augen blickten kohlrabenschwarz zurück, die Pupillen waren verschwunden, es
war, als häbe sie gar keine Augen. Vor Schreck stolperte sie rückwärts,
verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Boden. Sie erhob sich und sah wieder
zum Spiegel – doch ihre Augen waren wieder normal, so wie vorher. Ihre
Pupillen waren wieder da und die Leere in ihren Augen war verschwunden. Hatte
sie sich das etwa nur eingebildet? Lieber schnell raus hier, Shaidala wartete
sicher schon und sie durften schließlich keine Zeit verlieren.
Amy ging zur Tür hinaus und sah Shaidala am Ende der Treppe warten. Unten an
der Treppe angelangt, musterte Shaidala sie und sagte: „Du siehst fabelhaft
aus. Doch nun dürfen wir keine Zeit mehr verlieren.“
Amy folgte Shaidala durch die Halle durch mehrere Räume, bis sie schließlich
zum Hinterausgang kamen und in einen Hof gelangten, in dem schon zwei gesattelte
Pferde bereitstanden. Shaidala zeigte Amy, wie sie ihren Bogen an der
Satteltasche ihres Pferdes festmachen konnte. Dann half sie Amy aufzusteigen,
doch diese hatte noch etwas Respekt vor dem Rappen.
„Aber wirklich gut reiten kann ich nicht. Ich habe nur mal einen Schnupperkurs
im Reiten gemacht, aber das ist schon ewig her“, sagte sie und nahm vorsichtig
die Zügel in die Hand.
„Du wirst das schon hinkriegen“, ermutigte sie Shaidala, die sich nun
ebenfalls in den Sattel schwang, die Zügel in die Hand nahm, mit der Zunge
schnalzte und dem Pferd die Fersen gab. Das Pferd setzte sich in Bewegung, und
Amy machte es bei ihrem Pferd gleich und es schritt gemütlich dem anderen
Rappen hinterher.
Als sie aus dem Hof herauskamen und durch das Hintertor der Mauer in den Wald
Gil Herua ritten, fragte Amy, wie die Pferde hießen. Shaidala erklärte ihr,
dass ihr eigenes Pferd Cosima und das Pferd von Amy Escalera hieß, beide waren
rabenschwarze Stuten. Amy kam mit Escalera gut zurecht und das reiten verlief
besser, als sie zunächst gedacht hätte.
Es dauerte nicht lange, bis Amy und Shaidala am Waldrand von Gil Herua ankamen
und nun hieß es, Abschied zu nehmen.
„Pass auf dich auf, Amy. Sei stets wachsam, es lauern zu viele Gefahren, denen
man begegnet, wenn man nicht auf der Hut ist. Ich möchte dir noch etwas
mitgeben“, Shaidala kramte in ihren Taschen und holte dann eine Kette heraus,
an dessen Ende ein Zahn zu hängen schien.
„Das hier ist ein Zahn von einem Dämon. Ich möchte, dass du ihn trägst, vor
allem, wenn du durch das Tal der Leblosen ziehst. Die Schattenwesen werden ihn
gewiss erkennen und Respekt vor dir haben, vielleicht nicht alle, aber es wird
dir sicherlich helfen.“
Shaidala streifte Amy die Kette um den Hals.
„Danke für alles, Shaidala. Auch wenn du ein Schattenwesen bist, glaube ich,
hast du doch einen Kern Gutes in deinem Herzen.“
„Nichts zu danken, aber nun beeil dich. Wir sehen uns bestimmt eines Tages
wieder“, und zum ersten Mal, seit Amy die Wahrsagerin kannte, lächelte sie.
Sie sagte Amy Lebewohl, gab ihrem Pferd die Fersen, trieb es an und ritt in
Windeseile zurück nach Les Northás. Amy sah ihr noch nach, bis sie zwischen
den Bäumen verschwand und sie außer Sicht war. Dann trieb Amy ihr Pferd
ebenfalls an und ritt in Richtung Osten, bereit dafür, was sie im Tal der
Leblosen erwarten würde.
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