EXANIMATIO - Die Angst von gluecklich (Der letzte Schritt: Teil I) ================================================================================ Kapitel 9: Kriegsplanung ------------------------ Gedankenverloren strich Sid der Katze vor ihr auf dem Teppich über den Kopf. Ihr Blick ruhte starr auf der verschlossenen Zimmertür ihres Bruders, ihre Hand bewegte sich wie von allein über das Fell des schnurrenden Tieres. Immer stärker wurde das Verlangen, in Lucs Zimmer zu stürmen, seine Freundin einfach hinauszuschubsen und ihm alles zu erklären, ihn in Sicherheit zu bringen, irgendwie zu beschützen, ihm diese ganze Geschichte mit Tamias und Angst und schwarzem Wasser um die Ohren zu hauen und ihn dann irgendwo zu verschanzen, nur um alles in der Welt nicht enden zu lassen wie ihre Mutter, um alles in der Welt nicht – »Sid?« Nur widerwillig löste sie den Blick von der Türklinke, sah hinauf zu Benny und Richie, die blass und müde auf der obersten Treppenstufe standen. Es war der Morgen nach Charles Jarvis’ Tod, Richie hatte soeben an der Tür geklingelt und da Sid kaum zum Laufen fähig war, hatte Benny geöffnet. »’tschuldigung«, nuschelte sie. »Kommt… Kommt rein… Hi, Richie.« »Tag«, murmelte Richie. Er und Benny ließen sich Sid gegenüber auf dem Boden ihres Zimmers nieder, schweigend. Einmal setzte Sid an etwas zu sagen, holte Luft, schloss den Mund jedoch im selben Moment wieder. Es war Benny, der schließlich das Wort erhob. »Hast du das in der Zeitung gelesen, Rich?« »Von der Angsttherapeutin, die angegriffen wurde?« »Sicher.« »Ja, hab ich gelesen. Du meinst, das war Tamias?« Benny zuckte düster mit den Mundwinkeln. »Wer denn sonst?« »Aber er hat die Frau nicht getötet«, sagte Sid leise. »Er spielt immer mehr…« Mit einem Blick zu Sid beschlossen die Jungen, das Thema Angriff auf Lena N., Therapeutin zu beenden. »Du machst dir Sorgen um deinen Bruder, hm?«, fragte Benny vorsichtig. Sid seufzte. »Er… Er hat mir schon meine Mutter genommen… Ich hätte nicht … gedacht, dass er so weit geht… Ich war irgendwie der Überzeugung, er … lässt es bei einem Familienmitglied und… Ich weiß nicht… Und bringt dann uns um…« Noch immer etwas geistesabwesend blickte sie zu Richie. »Hast du uns eigentlich verstanden am Telefon?« »Ja, hab ich. Benny hat gesehen, wie Luc in einer schwarzen Pfütze versunken ist, nachdem ein kleiner Tamias von seiner großen Schwester angeschossen wurde, auf dem Boden standen Wörter und Stimmen haben gesagt, dass er Angst haben soll.« Richie musterte sie stirnrunzelnd, versuchte ihren Blick zu streifen, doch sie wich offenbar jeder Berührung aus, kraulte stumm ihre Katze. »Er wird uns nicht umbringen, Sid. Verstehst du? Der Typ kriegt uns nicht.« »Wäre ja noch schöner«, fügte Benny hinzu. »Wir sollten uns jetzt schleunigst etwas ausdenken, wie wir ihn aufhalten können. Und dann lässt er auch deinen Bruder in Frieden.« »Ich weiß nicht…«, murmelte Sid dünn. »Er spaziert ständig einfach so in irgendwelche Häuser, ohne dass… Das psychologische Institut ist doch auch immer perfekt bewacht und trotzdem ist er an diese Ärztin rangekommen.« »Das ist es doch gerade«, sagte Benny sofort. »Wir wissen, dass er so was kann. Also können wir uns dementsprechend vorbereiten. Ich denke mal, die wichtigsten seiner Fähigkeiten kennen wir. Nämlich metzeln, quatschen und zu den unpassendsten Augenblicken irgendwo auftauchen. Das können wir uns doch mit Sicherheit zunutze machen. Also markier hier bloß nicht die Pessimistin, Sid. Darin warst du noch nie gut.« Sids Mundwinkel zuckten in einem winzigen Anflug von Lächeln. »Aber es ist riskant. Egal was wir unternehmen, wir können dabei draufgehen.« »Und wenn wir nichts unternehmen, werden wir draufgehen.« Benny blieb energisch. »Also bitte, was ist dir lieber?« »Wisst ihr, ich hab davon geträumt«, sagte Richie auf einmal. Er hob den Kopf, erwiderte die perplexen Blicke seiner Freunde. »Ist schon ein paar Tage her, aber ich hab’s irgendwie total verpeilt durch das alles… Aber ich hab in einer Nacht davon geträumt, wie wir ihn loswerden.« »Und?«, machte Benny ungeduldig. »Sag schon, wie haben wir’s angestellt? Auf Träume müssen wir doch in letzter Zeit immer zählen.« »Ich weiß, nur… Wie gesagt… Es ging unter, zwischen all diesen … Vorfällen.« Sichtlich unzufrieden mit seiner momentanen Lage rieb sich Richie mit der Handfläche über den Nacken. »Also, na ja. Wir haben ihn umgebracht.« Sid nickte leicht. »Scheint mir die einzig vernünftige Lösung«, murmelte sie. »Du hast ihn abgelenkt«, fuhr Richie fort. »Dann hab ich ihn niedergeschlagen und wir alle drei haben ihn zusammen … geköpft. Haben ihm den Kopf abgeschlagen. Im Traum wussten wir irgendwie, dass das die einzige Möglichkeit war, ihn tot zu kriegen… Fast… Na ja, fast wie bei einem Vampir.« »Lass mich raten«, sagte Benny leise, »es war die Axt meines Vaters.« Richie sah auf. »Ich weiß es nicht. Kann aber gut sein. Wüsste jetzt auch nicht, wo wir sonst eine herbekommen würden. Schon … merkwürdiges Zusammentreffen von Tatsachen. Tamias’ Kopf und die Axt deines Vaters.« »Ja, schon. Aber das ist bei dem Kerl ja immer so. Wo haben wir ihn gefunden?« Mit einem tiefen Seufzen schloss Richie die Augen. »Im Wald… In der alten Blockhütte… Im Sperrgebiet, wisst ihr.« »Womit wir bei meinem Traum wären«, nuschelte Sid. »Unheimlich, wie das zusammenhängt.« Stirnrunzelnd wiegte Benny den Kopf hin und her. »Dein Traum war aber ja wohl ziemlich klar von ihm gelenkt, Sid. Oder? Tamias muss ja irgendwie dafür gesorgt haben, dass du das träumst. Was, wenn das mit Richies Traum auch so war? Wenn er will, dass wir das machen?« Richie zog die Schultern hoch. »Die eigentliche Frage ist doch, ob wir einen anderen Ausweg haben. Das oder uns von ihm umbringen lassen. Oder fällt irgendjemandem noch etwas Anderes ein, wie wir ihn zur Strecke bringen könnten? Kann sein, dass mein Traum manipuliert war, aber es ist irgendwie tatsächlich das einzige, was wir tun können.« »Wir… Wir müssen es versuchen…« Sid sprach leiser denn je, ihr Verstand klebte zäh an ihrer ermordeten Mutter, an ihrem gefährdeten Bruder. Es fiel ihr schwer, zu denken. »Wir haben praktisch eine Anleitung… Und wenn er sie uns wirklich selbst gegeben hat, dann … wird er wohl erwarten, dass wir das Ganze verbauen… Aber das muss ja nicht sein, vielleicht schaffen wir es ja…« Benny rang sich ein Lächeln ab. »So gefällt mir das besser, endlich bist du optimistisch.« »Ich halte eigentlich nicht viel von Rache«, entgegnete Sid im Flüsterton. »Aber das hier muss sein…« »Auge um Auge«, sagte Richie fest. »Für deine Mutter, für deinen Bruder, für Christina und für meinen Onkel.« »Für uns, nicht zu vergessen.« Benny hatte die Brauen leicht gehoben, musterte seine Freunde. »Wir würden damit nicht nur rächen. Wir würden unsere eigenen Leben retten. Und ich wette, von Notwehr halten wir alle mehr als von Rache.« »Balsam fürs Gewissen«, lächelte Richie. »Recht hast du.« »Dann planen wir jetzt also einen Mord…« Unerwartet füllten sich Sids Augen mit Tränen, als sie es aussprach. Ihr Vater rief zum späten Frühstück. Es war ein bizarres Gefühl, an diesem Tisch zu sitzen, mit James, Shannon, Luc und dessen Freundin, und still an einem Anschlag zu feilen. Die Vorstellung, einen solchen selbst zu überleben, schien unrealistisch… töricht. Doch als Sid den Blick hob, ihren geliebten Bruder musterte, mit dem sie sich immer so außerordentlich gut vertragen hatte, in die Gesichter ihrer Freunde blickte, die nun auch so viel verloren hatten, die tiefen Furchen im Antlitz ihres Vaters betrachtete, die sich dort seinem Tod seiner Frau eingeschlichen hatten, da wurde ihr wieder klar gemacht, dass es nur diese eine Möglichkeit gab, wenn sie nicht alles aufgeben wollte. Das Essen verlief still, niemand wollte etwas Falsches sagen, in Angst Benny oder Richie in ihren Verlusten zu verletzen, unwissend, dass jene längst mit anderen Gedanken beschäftigt waren. Nachdem sie ihre Teller in die Spülmaschine geschoben hatten, standen sie unschlüssig in der Küche. Es regnete. »Meine Mutter will nicht mehr, dass ich so oft draußen bin«, murmelte Richie. »Zu unsicher.« Benny nickte leicht. »Meine auch. Ich werd den Park vermissen.« »Wir werden ihn ja nicht vermissen müssen, wenn wir den Kerl so schnell wie möglich köpfen«, sagte Sid dumpf. Sie blickte über die Schulter, ihr Vater unterhielt sich leise mit Luc und seiner Freundin, Shannon war bereits zurück in seinem Zimmer. »Kommt, gehen wir wieder hoch. Wir brauchen Planung.« Mit einem Nicken folgten die Jungen Sid in ihr Zimmer, Benny blickte einige Momente lang aus dem Fenster, bevor er sich wieder ihnen zuwandte. »Wenn wir ins Sperrgebiet wollen, müssen wir nachts los.« Richie überkam ein Schaudern, als er sich setzte. »Warum denn unbedingt?«, murrte er. »Weil es nachts nicht bewacht wird.« Seufzend ließ Benny sich zwischen ihm und Sid nieder. »Dazu sind die zu feige. Bis zur Ausgangssperre stehen da noch Aufseher rum, aber sobald’s dunkel wird, verziehen die sich zum Waldrand. Da stehen aber auch nicht überall welche, an denen kommen wir vorbei.« Sid runzelte die Stirn, legte den Kopf schief. »Woher weißt du denn so was?« »Das stand letztens in der Zeitung, glaube ich«, sagte Richie langsam. »Da hat sich jemand über die Unsicherheit im Waldstück aufgeregt.« Benny nickte. »Und dieser Jemand ist ein Freund meiner Mutter. Wird wegen der Polizei hier immer pampig, will aber selbst nichts unternehmen. Wenn wir uns also nach der Ausgangssperre rausschleichen und es geschickt anstellen, kommen wir da locker rein.« Richie zog eine Augenbraue hoch. »Mit einer Axt«, sagte er skeptisch. »Na ja.« Benny zuckte mit den Schultern. »Sid und ich sind keine eins sechzig groß. Und es wird dunkel sein. Das fällt nicht auf, wenn diese Typen jemanden auf der Straße hören, denken die doch eh, dass die sich das einbilden, das sind alles Weicheier, die bloß irgendwie Geld verdienen wollen. An denen kommen wir vorbei.« »Denk ich auch«, sagte Sid nachdenklich. »Das ist mit Sicherheit zu schaffen. Geht sowieso nicht anders. Wir sollten eher versuchen, uns was für die wahre Handlung auszudenken. Was war das mit der Axt deines Vaters, Benny?« Etwas düster drehte Benny den Kopf erneut zum verregneten Fenster. »Die Axt auf unserem Dachboden ist das einzige, was mein Vater zurückgelassen hat, als er abgehauen ist. Wir wussten nie, warum. Vielleicht hat er’s ja gewusst… Vielleicht hat der Wichser gewusst, dass ich die mal brauchen würde.« Bennys Mundwinkel zuckten zu einem furchtbar sarkastischen Schmunzeln. »Um einen Dämon zu köpfen.« »Bist du dir denn eigentlich sicher, dass du das schaffst? Ihn umbringen?« Mit weit gehobenen Brauen sah Benny Richie an, als sei diese Frage das Anmaßendste, das er in den letzten Tagen gehört hatte. »Richie… Das ist der Kerl, der sich an Christina vergriffen hat. Und an Charles. Und an Sids Mutter. Und an Luc, wenn wir nichts machen. Und bald auch an uns, verdammt noch mal – natürlich schaff ich das. Der Typ ist nicht mal ein normaler Mensch. Du hast es vorhin selbst gesagt –« »Auge um Auge«, wiederholte Richie und nickte. »Alles klar.« »Dann auf ihn«, murmelte Sid. Benny grinste. »Lauter.« Sid hob den Blick, sah in sein blasses Gesicht, durch das sich dieses unwahrscheinliche Grinsen zog, musterte die wenigen Pickel, die durch die Fransen schwarz gefärbten Haares zu erkennen waren, sah zu seinem schwarzen Hemd, den schwarzen Halbfingerhandschuhen, der schwarzen Hose – und begann zu lachen. Es war so unreal, dass sie nach dem Tod ihrer Mutter, nach der furchtbaren Zeit in der Schule, nach dem stressigen Umzug solche Freunde gefunden hatte, auf solches Verständnis gestoßen war, so viele Gemeinsamkeiten hatte entdecken können; es war so unreal, wieder mit Tamias zu tun zu haben, fast täglich mit Übernatürlichem konfrontiert zu werden, sich selbst und diese unfassbar guten Freunde in unmittelbarer Gefahr zu sehen; es war so unreal, dass sie lachte. Doch sie konnte nicht aufhören. Es war als Kichern in ihrer Kehle aufgestiegen, als Benny sie zu einem lauteren Schlachtruf aufgefordert hatte, nun wollte es unweigerlich als Lachen hinaus. »Auf ihn!«, johlte sie, reckte eine Faust gen Zimmerdecke und ließ sich auf den Rücken fallen. Da stimmten Richie und Benny mit ein, der eigentliche Ernst dieser Lage war so bizarr, ja so abartig, dass keiner von ihnen an sich halten konnte. Sids Lachen flaute als erstes ab. Sie hatte Tränen in den Augen, hatte die Arme um ihren schmerzenden Bauch geschlungen, in ihren Wangen machte sich ein stechendes Ziehen bemerkbar, doch sie konnte nicht aufhören zu grinsen. Auch Richie und Benny kamen langsam zu unterdrücktem Kichern und Glucksen. Richie schniefte, stemmte die Unterarme auf den Boden und richtete sich ein Stück auf. Mit offenbar verwirrter Belustigung musterte er seine rötlich angelaufenen Freunde, die sich noch immer schüttelten vor lachen. Er räusperte sich. »Was war das denn jetzt?« Auch er konnte seine Mundwinkel nicht auf ihrem Weg in die Höhe aufhalten. Erneut begann Sid zu kichern. »Ich hab keine Ahnung«, verkündete sie zwischen zwei erstickten Atemzügen, wollte noch etwas hinzufügen, doch Benny fiel ihr ins Wort. »Was auch immer dein Vater uns da ins Essen gemischt hat…« Hustend und schwerfällig setzte Benny sich auf, lehnte sich rücklings an eine Wand, versuchte ernst zu blicken und scheiterte kläglich. »…Ich will mehr davon.« Sid machte keine Anstalten ihre Position zu ändern, sie grinste über beide Ohren und sah zur Zimmerdecke. »Dann musst du aber auch Zaster ranbringen. Das war jetzt mal eine kostenlose Geschmacksprobe, aber mehr rückt mein Vater der Dealer mit Sicherheit nicht raus, wenn du nicht bezahlst.« Richie gab ein langgezogenes »Ah« von sich. »Das sind also diese lustigen bunten Pillen, die du im Park immer dabei hast! Und ich dachte, das seien Smarties.« »Sind’s auch«, nickte Sid und schluckte eine erneute Lachsalve herunter. »Aber mit anderer Füllung.« »Ich glaube, ich sollte deinen Dealerpapa mal bei der Polizei verpetzten.« Bennys Stimme klang ruhig, doch sein Gesicht strahlte noch immer vor Amüsement. »Wehe dir!«, rief Sid sofort. »Dann, dann, dann, dann… Dann hetz ich dir Tamias auf den Hals!« Nur wenige Sekundenbruchteile lang war es still in ihrem Zimmer, man wog ab, ob man über einen solchen Satz lachen konnte – und entschied sich schließlich für ja: In diesem Moment war alles lustig. Wieder also brachen sie in haltloses Gelächter aus, und diesmal konnte Sid nicht mehr aufhören. Sie drehte sich auf die Seite, strampelte mit den Beinen, japste nach Luft. Sie wusste nicht mehr, was so lustig war, doch der Drang zu lachen war stärker als der Gedanke an Logik. Sie gab ein Seufzen von sich, verschluckte sich, hustete – und brachte sich damit erneut zum Kichern. Richie und Benny musterten sie grinsend. »Wenn das so weiter geht, müssen wir sie gleich reanimieren«, murmelte Richie. Benny verschränkte die Arme. »Also, ich kann so was ja nicht. Aber warst das nicht du, der Mund-zu-Mund-Beatmung gelernt hat?« »Sicherlich.« »Na, dann haben wir ja ihren Retter. Hast du dir die Zähne geputzt, Richie?« »Nö…« Aus einem tränengefüllten Augenwinkel nahm Sid wahr, wie Richie sich zu ihr beugte - »Bloß nicht!«, rief sie unter Kichern. »Ist ja schon gut… Ich werd mich wieder einkriegen.« Schniefend und ihre Lachtränen wegwischend setzte sie sich auf, gluckste. »Kein Grund, mich gleich vergewaltigen zu wollen.« Bennys Grinsen verbreiterte sich. »Wie wär’s mal mit einer Herzmassage?« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)