EXANIMATIO - Die Angst von gluecklich (Der letzte Schritt: Teil I) ================================================================================ Kapitel 5: Eine Nacht im August ------------------------------- Als Benny wieder zu sich kam, fluchte er. »Oh, Scheiße«, waren seine Worte, nachdem er an sich herunter gesehen und die Fesseln registriert hatte. Er biss sich auf die Unterlippe und musterte seine Umgebung. Halbdunkel. Holz. Ein winziges, verstaubtes Fenster. Er selbst saß auf einem einfachen Stuhl, Vermutlich war er in der alten Blockhütte im Wald gelandet, dem Schmerz an seinem Hinterkopf nach zu urteilen hatte ihn jemand niedergeschlagen und hierher gebracht. Mit aller Macht versuchte Benny, die aufkommende Angst zu unterdrücken. Die konnte er jetzt überhaupt nicht gebrauchen. »Hallo?«, rief er. »Richie? Sid?« »Sie sind nicht hier.« Benny zuckte zusammen; er kannte diese Stimme, und er musste sich erst gar nicht fragen, woher. Er kannte sie nur zu gut. Er schluckte trocken. »Was hast du mit ihnen gemacht?« »Oh, nichts. Sie sind wohlauf zu Hause angekommen. Sie machen sich bloß Sorgen – etwas, was du heute auch hättest tun sollen.« »Sorgen?« Bereits jetzt war Bennys Stimme nicht mehr als ein Fiepen, doch er konnte es nicht aufhalten. »Aber ich hab doch –« »Schht.« Eine Messerklinge drückte sich an seine Kehle, Benny sog scharf die Luft ein. »Lass mich ausreden. Heute war erneut ein Tag, an dem du dich beweisen konntest. Was hast du von mir gelernt, Benjamin?« Benny kniff die Augen zu. »Dass… Dass ich darauf achten muss, dass ich keine gefälschten Gefühle, vor allem keinen falschen Hass und Neid aussprechen und erst recht nicht empfinden darf«, krächzte er, sein Kopf voller grässlicher Erinnerungen. »Weil sich meine Liebsten sonst von mir abwenden.« »Fast richtig.« Die Klinge schnitt ein, hinterließ einen winzigen, blutenden Kratzer; Benny unterdrückte einen Aufschrei. »Du sagtest, du darfst es nicht. Das ist falsch. Ich stelle dich vor die Wahl, Benjamin, ich stelle alle vor die Wahl. Natürlich darfst du fühlen wie du willst, fülle dich selbst ab mit falschem Trotz und falscher Wut – aber in diesem Fall musst du auch gewillt sein, die Konsequenzen zu tragen. Bist du gewillt, Junge, willst du das?« Vorsichtig, sehr vorsichtig schüttelte Benny den Kopf. »Nein«, hauchte er. »Ich will nicht sterben.« Das Messer löste sich von seinem Hals. »Angst vor dem Tod. Immerhin etwas. Deine Angst vor dem Tod. Immerhin etwas. Deine Angst vor dem selbstverschuldeten Alleinsein hast du in letzter Zeit ebenfalls sehr gut gepflegt, speziell nach dem Auftritt eurer neuen Freundin; ich war fast stolz auf dich. Und dann dieser Rückfall heute…« In Bennys Hals steckte ein dicker Kloß, mehr als ein Flüstern brachte er nicht zustande: »Was meinst du?« »Ich bin mir sicher, das weißt du. Ich rede von Alecs Tod und Lisas Verzweiflung. Beide haben dich zugegebenermaßen nicht immer sehr freundlich behandelt, doch mindestens Alec hat dafür bereits gebüßt. Doch gerade das war es, was diesen Ausrutscher heute und vor wenigen Tagen verursacht hat, nicht wahr?« Benny schweig. Er wollte um nichts in der Welt etwas Falsches sagen. »Kürzlich lasen deine Freunde und du den Artikel über Alecs kleine Strafarbeit in der Zeitung. Du gabst dich gleichgültig, sogar fast erfreut, diesen Jungen endlich vom Leibe zu haben. Dabei warst du tatsächlich zutiefst erschrocken über einen solchen Vorfall, du hattest sogar den Gedanken über meine Person im Hinterkopf. Welchen Fall hatten wir da also?« »Ich… Ich weiß ni–…« Benny sah zu Boden. »Falsche Schadenfreude.« »Sehr richtig, gut so.« Wie ein richtiger Lehrer, dachte Benny, der sich mittlerweile selbst wie ein Schüler bei einer mündlichen Überprüfung fühlte – allerdings bei einer äußerst gewaltbereiten Lehrkraft. »Kommen wir zum zweiten Vorfall, vor nicht mehr als einer Stunde. Du fühltest einiges in diesem Moment, als die arme Lisa zitternd und weinend vor euch lag, doch das war nicht das, was du nach außen trugst. Du hattest Mitleid mit ihr – das war wohl am schwierigsten zuzugeben. Gleichzeitig fühltest du dich machtlos, beinahe schuldig, weil du keine Möglichkeit sahst ihr zu helfen. Das stärkste Gefühl war die Angst. Du weißt, grundsätzlich habe ich nichts dagegen. Immerhin hattest du Angst vor mir, durchaus angebracht. Doch du hast sie nicht gezeigt, und du hattest auch nicht vor, sie später im Privaten deinen Freunden gegenüber zu zeigen. Die gesammelte Antipathie deinerseits gegen Lisa war in diesem Moment jedenfalls verschwunden. Andere Empfindungen beherrschten dein Inneres. Dennoch zeigtest du den anderen gegenüber bloß die erstere.« »Falscher Hass«, murmelte Benny automatisch. »Ganz genau. Was soll man nach solchen Aussagen von dir denken? Du wirktest kalt, verbittert, fast rachsüchtig und sadistisch. Noch sind deine Freunde vielleicht bloß irritiert, doch bald wenden sie sich ab, möglicherweise kommen neue, die dich dann allerdings für jemanden halten, der du nicht bist. Möchtest du das, Benjamin, solch ein Leben?« »Nein!«, sagte Benny sofort. »Nein, natürlich nicht, natürlich will ich das nicht. Es war ein Versehen, ich habe kurzzeitig nicht darauf geachtet, weil dieser … Vorfall, der … Tod … mich etwas aus der Bahn gebracht hat. Es tut mir leid, ich… Ich war etwas unaufmerksam…« Benny spürte, wie Angst in Form von Übelkeit seinen Rachen hinaufschlich, mit Mühe hielt er sein Mittagessen zurück. »Bitte… Gnade…« »Selbstverständlich… Sieh es als Verwarnung.« Ein scharfer Schmerz raste durch sein Gesicht, als das Messer einen tiefen Schnitt in seiner Wange hinterließ. Gleich darauf lösten sich die Fesseln. »Als Verwarnung und als Hinweis. Lisa hatte heute sehr recht, als sie euch darum bat, aufzupassen. Achte auf dich selbst, Benjamin.« Mit weichen Knien stand Benny auf, er fürchtete geradewegs der Länge nach umzukippen, als er zur Tür wankte. Er wagte einen flüchtigen Blick über die Schulter, zu seinem (Lehrer) Entführer, dann stolperte er hinaus in den von letzten Sonnenstrahlen durchzogenen Wald. Noch am selben Abend rief Benny bei Richie und Sid an. Zwar war seine Mutter dagegen, doch nachdem er seine Wunden hatte versorgen lassen, packte er flüchtig einige Sachen und verließ das Haus. An der Tür der Wilcoxes klingelte er Sturm. »Komm schon, Sid, mach auf«, murmelte er. »Aufmachen, du Schlafmütze, verdammt, mach schon!« Er stieß gerade einen äußert anzüglichen Fluch aus, als sich die Tür öffnete. »Sorry, wir haben nicht gleich… Benny!« Matt grinste er. »Nabend auch…« Richie tauchte hinter Sid auf, er rief »Scheiße verdammte, du Trottel!« und zog ihn am Ärmel ins Haus. »Wo in aller Welt warst du?« Schmunzelnd schloss Sid die Tür. »Lass ihn doch erst mal Luft holen. Kommt, wir gehen in mein Zimmer und dann kann die Trantüte uns alles erzählen.« Neben Sids Bett setzten sie sich im Dreieck auf den Boden. Richie deutete auf Bennys klammerverpflasterte Wange. »Was hast’n da gemacht? …Am Hals ist ja auch was.« Benny nickte langsam. »Ich bin hinter euch her gefahren, und… Na ja… Ich wurde abgefangen.« Die Gesichter seiner Freunde verdunkelten sich. »Von wem?«, fragte Sid leise. »Doch nicht von Alecs… Von diesem Wahnsinnigen, oder?« »Hm…« Benny seufzte. »Doch, ich schätze, er war es. Pass auf, Sid, ich werd’ dir jetzt wohl etwas erzählen, was vorerst nicht sonderlich glaubwürdig wirken mag.« Richie verzog das Gesicht, scheinbar sehr unzufrieden. »Benny… Bist du sicher, dass … das hierher gehört?« »Richie glaubt mir nicht«, sagte Benny bloß. »Ich versuch ja, dir zu glauben, aber Dämonen existieren eben nicht!« »Ähm… Moment.« Sid hob beschwichtigend die Hände; sie war sichtbar verwirrt. »Ich möchte nur mal gerade darauf hinweisen, dass ich nicht die leiseste Ahnung habe, wovon ihr da redet.« »Benny glaubt, dass sich vor ein paar Jahren ein Dämon in seinem Kopf eingenistet hat.« »Darauf wollte ich gar nicht hinaus, jetzt halt doch mal den Mund und lass mich erzählen!« »Jungs, wenn ihr euch jetzt streitet, werf ich euch hochkant wieder hier raus.« »Sorry«, machten die beiden einstimmig, Richie setzte hinzu: »Es klingt nur jedes Mal so hanebüchen.« »Ich glaub daran und wir werden sehen, was die davon hält«, sagte Benny. »Also, Sid, zuhören. Das, was Richie da erzählen wollte, das war vor acht Jahren. Da kam mein kleiner Bruder auf die Welt und … na ja, das hat für mich eben einiges verändert, meines Erachtens nicht zum Positiven. Ich wurde also ziemlich schnell ziemlich neidisch auf meinen Bruder. ’n paar Monate später ist mein Vater abgehauen, das weißt du ja schon. Einfach so, ohne sich zu verabschieden. Und von da an hatte ich riesige Schuldgefühle, ich hab mir ewig lange eingebildet, es sei meine Schuld gewesen, ich sei meinem Vater mit meiner Eifersucht so sehr auf’n Sack gegangen, dass er nichts mehr mit uns allen zu tun haben wollte.« »Ist doch Quatsch«, murmelte Sid. Benny nickte. »Ist mir später ja auch noch aufgefallen. Mein Vater ist offensichtlich einfach ein Arschloch. Jedenfalls hab ich in dieser Zeit ab und zu so ’ne Stimme gehört, und das ist der Punkt, an dem Richie mich für irre hält. Kann auch sein, dass es so ’ne Art mieses Gewissen war – seine Theorie –, aber für mich gehörte diese Stimme absolut nicht in meinen Kopf. Ständig hat sie mir eingeredet, ich sei schuld und all das. Und ich habe den Verdacht – ich weiß es ja selbst nicht sicher –, dass das eine Art Angstdämon ist. Von so einem hab ich mal gelesen, seitdem bin ich der Meinung, dass es Sinn ergeben könnte.« »Okay«, sagte Sid langsam; sie sah nachdenklich aus dem Fenster in die Dunkelheit. »Und… Was hat das mit heute Abend zu tun?« »Wenn meine Theorie stimmt, dann hat mich genau dieser Dämon vorhin abgefangen und verschleppt.« »Benny!«, rief Richie, der offenbar sehr mit seiner Fassung zu kämpfen hatte. »Jetzt halt aber mal den Ball flach! Das war ein ganz normaler Irrer und du solltest eigentlich die Polizei verständigen, statt uns hier was von deinem Angstdämon zu erzählen!« Benny runzelte die Stirn. »Mann, beruhig dich doch. Es bringt mir nichts, zur Polizei zu gehen, weil ich den Typen nicht gesehen hab. Und er hat die ganze Zeit mit mir geredet, über genau das, was die Stimme damals auch immer zu mir gesagt hat – woher hätte er das wissen sollen? Von Lisa hat er auch gesprochen und Lisa selbst hat uns ebenfalls irgendwas Wirres von Angst vorgefaselt. Meinst du nicht, man könnte mir wenigstens theoretisch Recht in meiner Hypothese geben?« Richie blickte schweigend zu Sid, die mittlerweile beinahe apathisch wirkte. »Hey«, machte er leise. Einen Moment lang reagierte sie nicht. Dann begann sie heiser zu sprechen: »Ich habe auch so eine Stimme gehört… Und sie hatte auch ihren Spaß an meiner Angst… das war nach dem… der… Nach der Ermordung … meiner Mutter… Ich… Ich hatte solche Schuldgefühle, weil ich mich am Abend zuvor so sehr mit ihr gestritten habe… Seitdem … hab ich Angst … etwas Falsches zu sagen… Angst, deshalb Dinge in Gang zu setzen, die ich gar nicht will.« Langsam drehte sie den Kopf zu ihren Freunden, die sie beide betroffen anstarrten. »Das… Ist das … ein Zusammenhang?« Schweigen. Richie fuhr sich mit beiden Händen erst übers Gesicht, dann durch die zerzausten Haare. Benny zuckte flüchtig mit den Schultern. Er musste an den Inhalt seiner Verwarnung denken. Seine Freunde… Würden sie ihn wirklich verlassen, wenn ihm so etwas nun wieder öfter passierte? Schließlich wurmte ihn der Gedanke zu sehr; er rieb sich die Augen und seufzte tief. »Leute…«, begann er. »Ich muss euch was fragen. Wegen Alec und Lisa. Ich … hab mich ja irgendwie nicht so benommen, wie ich mich gefühlt hab, ich klang wohl etwas abweisender und härter als ich eigentlich war. Das … ist doch nicht schlimm für euch, oder?« Die beiden sahen ihn sichtlich verwundert an. »Ähm«, machte Richie; »Mh-mh«, setzte Sid hinzu. »Ist doch kein Ding, wir alle überspielen manchmal Gefühle. Da brauchst du keine… keine Angst zu haben – ist es wegen dieses Typen?« Benny lächelte schwach. »Jaah… Ist es wohl…« »Jetzt geht’s aber langsam zu weit«, sagte Richie. »Mach dir mal keinen Kopf, einer reicht doch. Und in dem ist auch nur Mist. Ich schlage vor, als Zeichen unserer waaahnsinnig poetischen Freundschaft belagern wir heute Nacht Sids Zimmer.« »Hehe, abgemacht«, grinste Benny. Sid verschränkte die Arme hinterm Kopf und blickte an die Decke. »Achtet gar nicht auf mich«, flötete sie. Benny und Richie warfen sich einen kurzen Blick zu, nickten, grölten »Doch!« und stürzten sich zwecks Kitzelattacke auf sie. Es war ein sonniger Freitagnachmittag, Richie und Kay genossen den letzten Tag ihrer Sommerferien damit, auf der Mauer vor dem neuen Park zu sitzen und vorübergehende Gleichaltrige – gern auch Jüngere – zu schikanieren. Kay hob den Kopf und nickte in die Richtung des Waldes. »Sieh mal, da kommt Silvie.« Silvie war ihr liebstes Opfer, denn Silvie hatte keine Freunde, die sie verteidigen konnten. Ihre Mutter war körperbehindert, ein weiterer Punkt um sich über sie lustig zu machen. Außerdem standen Silvies Locken ihr in alle Richtungen vom Kopf ab, sie hatte ständig Schnupfen und Pickel und unter ihrer Nase wuchsen kleine dunkle Härchen; ihre Zähne waren schief und gelb und sie trug ständig die viel zu großen, abgetragenen Pullover ihres Bruders. Für die beiden Jungen war sie der perfekte Zeitvertreib. »Wirklich schade, dass wir nach den Ferien nicht mehr mit ihr in einer Klasse sind«, bemerkte Richie. »Jep«, nickte Kay. »Aber endlich aus dieser blöden Grundschule rauszukommen ist auch schon mal was. Gymnasium, wir kommen!« »Silvie geht dann bestimmt auf die Sonderschule«, grinste Richie. Kay lachte. »Sonderschule!«, rief er. »Hörst du, Silvie? Du kommst auf die Sonderschule, du Missgeburt!« Doch Silvie beachtete sie nicht. Sie kehrte ihnen den Rücken und verfolgte weiterhin ihren Weg. Das veranlasste die beiden Jungen, von der Mauer zu rutschen und ihr nachzusetzen, Kay packte von hinten ihre Oberarme und Richie sprintete vor sie. Feixend stemmte er die Hände in die Seiten; über ihren Kopf hinweg sah er zu Kay. »In den Wald?« Kay nickte. »In den Wald.« Gemeinsam zerrten sie das Mädchen, das sich schon gar nicht mehr wehrte, zu den anliegenden Bäumen. Richie blickte ab und zu über die Schulter, dass ihr auch ja niemand zu Hilfe kam, doch die Leute waren mal wieder zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Kay drehte Silvies Arme auf den Rücken und hielt sie schließlich triumphierend an den Handgelenken fest. »Oh, das ist so feige«, konnte Silvie noch sagen, da traf sie bereits der erste Schlag durch Richies Faust ins Gesicht. »Halt die Klappe, Missgeburt«, sagte Kay schroff und trat ihr in den Rücken. Richie holte zum nächsten Schlag aus, visierte ihren Magen an, da merkte er plötzlich, wie sich seine Umwelt veränderte. Langsam ließ Richie die Faust sinken und sah sich um. Er war noch immer im Wald, zweifelsohne. Doch der Park war nun viel weiter entfernt, Silvie war verschwunden und Kay konnte er ebenfalls nirgends mehr entdecken. »Hä?«, machte er. »Hallo? Kay, du Arsch! Wo seid ihr hin? Findest du das lustig?« Suchend drehte er sich um die eigene Achse. »Mann, das stinkt. Komm raus, Alter!« »Du bist allein.« Richie fuhr zusammen. Diese Stimme kannte er nicht, sie machte ihm Angst. Sie war kalt und (gnaden)gefühllos. »Kay?«, rief er, etwas brüchiger. »Wer ist da?« »Niemand ist da. Nur du … und dein Verbrechen.« »Mein… Was? Wer ist da, was soll das?« Ein Mann trat in sein Blickfeld, scheinbar aus dem Nichts. »Dies ist eine Demonstration, Richard.« »Woher… Ich heiße gar nicht Richard!« Der Mann lachte. »Aber natürlich tust du das. Leugnen ist nicht gut… Und noch dazu zwecklos, wie man so schön sagt.« Unschlüssig tat Richie einen Schritt zurück. »Was wollen Sie von mir?« »Nun, wie ich bereits versuchte zu erklären: Es ist eine Demonstration. Ich möchte dir hiermit etwas zeigen. Zwei Dinge, um genau zu sein. Ich möchte dir zunächst zeigen, wie es sich anfühlt, allein zu sein, und dies schließlich noch um eine Stufe erhöhen: Ich werde dir den Tod zeigen.« Richie schluckte. Auf der Suche nach vernünftigen Erwachsenen blickte er sich um, sah über beide Schultern, doch nirgends war jemand zu sehen. »Dir wird niemand helfen«, sagte der Mann, in einem furchtbar sachlichen Ton. »Hätte jemand der kleinen Silvie geholfen? Vermutlich nicht. Merke dir gut, wie sich das anfühlt.« Richie schwieg. Kay hatte ihn immer gewarnt, wenn ihn jemand darauf ansprach, sollte er es auf gar keinen Fall zugeben. Richie runzelte die Stirn; ein unangenehm flaues Gefühl begann sich in seinem Magen breit zu machen, als er vorsichtig zur Frage ansetzte: »Wissen Sie, wo mein Freund Kay ist?« Der Mann grinste, als habe er darauf gewartet. Mit einer ausladenden Handbewegung wies er auf einen Baum, der, rechts von Richie, bisher im Schatten gestanden hatte und nun in gespenstisches grünes Licht getaucht wurde. Richie fiepte, er taumelte einige Schritte rückwärts, dann vorwärts, fiel vor dem Baum auf die Knie. Kay hing vor ihm, die Arme baumelten leblos von seinen mit Messern durchbohrten und offenbar gebrochenen Schultern, sein Gesicht war übersät mit Schnitten und sein gesamter Körper blutüberströmt. »Kay! Was… Wer… Oh Gott…«, wimmerte Richie. Der Mann war neben ihn getreten. »Möchtest du wissen, was mit ihm passiert ist?«, fragte er leise. Richie sprang auf, hektisch stolperte er zurück, bis er mit dem Rücken gegen einen Baum stieß. »Du hast ihn umgebracht«, hauchte er. »Lass… Lass mich in Ruhe! Lass mich in Ruhe, geh weg, ich – Hilfe!« Erneut lachte der Mann, so kalt und grausam, dass Richie ein unangenehmer Schauer über den Rücken lief. Langsam ging er auf ihn zu. »Dir wird niemand zu Hilfe kommen, Richard, im Gegenteil.« Nun stand der Mann unmittelbar vor ihm und beugte sich einige Zentimeter hinunter zu seinem Gesicht. »Du wirst dich mit Sicherheit nicht sträuben, mir einen kleinen Gefallen zu tun, oder?« Richie zögerte einen Moment, schüttelte dann jedoch ängstlich den Kopf. »Gut. Dann schließe nun bitte deine Augen.« »W-Was?« »Deine Augen. Du musst sie schließen, damit ich dir etwas zeigen kann.« Noch einmal sah Richie ihm in das blasse Gesicht, dann atmete er tief ein und kniff beide Augen fest zu. Einige Sekunden lang verharrte er in dieser Position, die Arme angewinkelt und fest gegen seinen Brustkorb gepresst, sämtliche Muskeln seines Körpers bis aufs Äußerste angespannt, den Biss auf der Unterlippe bis Blut über sein Kinn lief – bis: »In Ordnung. Du kannst die Augen wieder öffnen, Richard.« Richie tat wie ihm geheißen – und stockte. Keuchend wagte er, wieder auszuatmen. Der fremde Mann war verschwunden, ebenso der Wald. Richie befand sich auf dem Hof seiner Grundschule. In einem weiten Kreis standen Schüler aus seiner und der Parallelklasse um ihn herum – abgesehen von Silvie sein eigentlicher Freundeskreis. Doch was taten sie? Manche zeigten mit dem Finger auf ihn, andere schnitten böswillige Grimassen, sie alle lachten. »Was…«, setzte Richie an, doch die Stimme des Mannes, die diesmal eindeutig in seinem Kopf sprach, unterbrach ihn: So fühlt sich das an, Richard. Präge es dir gut ein. »Was passiert denn hier?«, fragte Richie flüsternd, der sich verzweifelt um die eigene Achse drehte, nur um in immer mehr feixende Gesichter zu sehen. Sie lachen über dich. Warum? Du weißt es nicht und sie werden sich irgendwelche merkwürdigen Erklärungen ausgedacht haben. Deine Eltern. Deine Haarfarbe. Deine Sommersprossen. Deine Vier im letzten Mathetest. Irgendetwas wird sich schon finden, um dich zu schikanieren. Denn du hast niemanden, der dir helfen wird. Und nun gib gut acht. Kay trat aus den Schülern hervor, in Richie bildete sich ein Funken Erleichterung, bis er das Grinsen auf seinem Gesicht sah, das er sonst bloß von ihren gemeinsamen Aktionen kannte. »Kay…«, murmelte er – und schon erfolgte der erste Schlag mitten in seine Magengrube. Richie keuchte auf, Überraschung und Schmerz ließen seinen Atem stocken, er taumelte zwei Schritte rückwärts. Fassungslos sah er sich um. Die Menge johlte und jubelte, forderte Kay sogar zu weiteren Schlägen auf. Als Kay den nächsten Treffer geradewegs gegen seine Nase landete, war es Silvie, die am lautesten brüllte. Richie schrie, schützend hob er die Arme vor sein Gesicht, wollte zurückschlagen, doch der ohrenbetäubende Applaus seiner Mitschüler lähmte seine Glieder. Er kassierte weitere Schläge, spürte Erbrechen in seinem Hals und Blut in seinem Gesicht, sackte auf die Knie. Hast du genug? Richie hob die zitternden Hände und presste sie gegen seine pochenden Schläfen. Tränen rollten über seine Wangen, was Kay dazu brachte, ihm nochmals ins Gesicht zu treten. Richie heulte auf, Asphalt brannte in seinen Augen. »Bitte…«, wimmerte er. »Mach, dass es aufhört, bitte…« Erst musst du verstanden haben, was es bedeutet, gedemütigt zu werden. Sie alle erfreuen sich deines Leidens, Richard. Merke dir gut, wie sich das anfühlt. Hatten all deine Opfer eine solche Behandlung verdient? Ein Tritt traf Richies Rücken. »Nein!«, fiepte er. »Das tut mir leid, das war nicht richtig! Bitte… Hol mich hier raus…« In diesem Moment wurde es still um ihn. Auch der Schmerz in Bauch und Gesicht verflog. Vorsichtig hob Richie den Kopf. Wohltuend kühle Luft schlug ihm entgegen – er war wieder im Wald. Der Fremde, dessen schneidende Stimme ihn bis eben noch auf dem Schulhof begleitet hatte, stand nun wieder vor ihm. Auch Kay hing noch am Baum einige Meter entfernt. Der Mann folgte seinem Blick dorthin. »Das führt uns bereits zur nächsten Demonstration«, sagte er leise. »Ich vermute, du bist zu jung, um das schon komplett verstehen zu können, doch Menschen, die lange Zeit das mitmachen müssen, was du gerade erfahren hast, neigen später zu außerordentlichen Taten. Sie lechzen nach Rache. Kommt es hart auf hart, gehen manche von ihnen so weit, ihre früheren Peiniger zu töten, sind danach oft so niedergeschlagen, dass sie sich selbst gleich mit in den Tod stürzen. Die Erwachsenen nennen das gern Amok. Oft aber … nehme auch ich mir das Recht heraus, Menschen wie dich und deinen Freund zu bestrafen. Natürlich möchtest du nicht, dass es soweit kommt, nicht wahr?« Richie gab sich Mühe, all das zu verstehen, obgleich in seinem Kopf momentan ein heilloses Durcheinander herrschte. Er schüttelte den Kopf. »Das dachte ich mir. Nun, du hast die Chance, es zu verhindern. Ich werde dir übers Wochenende Zeit geben, über all das gründlich nachzudenken. Wie du weißt, wirst du ab Montag eine neue Klasse besuchen. Dort wirst du dich entscheiden müssen zwischen einem Fortfahren wie bisher oder einer Veränderung deines Lebens. Tust du das Richtige, so werde ich dich verschonen. Und nun werde ich dir das Gefühl zeigen, dem du nicht entgehen wirst, sollte ich dich doch bei einer falschen Tat erwischen.« Als es dunkel wurde, schrie Richie. Schweißgebadet saß er aufrecht auf der Matratze, die sie vor wenigen Stunden in Sids Zimmer geschleppt hatten. Trotz seines Schreis waren sie und Benny nicht aufgewacht. Besser so…, dachte er seufzend. Ich will ihnen nicht erklären müssen, dass auch mir diese Angstdämon-Theorie nicht ganz fern liegt. Benny wird sicher gekränkt sein, wenn er davon erfährt. Immerhin hast du ihm diese Zweifel nur vorgespielt. Und wird Sid dir noch vertrauen, wenn sie von deiner Schlägervergangenheit erfährt? »Ruhe«, murmelte Richie. »Sie sind meine Freunde, natürlich vertrauen sie mir.« Die Frage ist, ob das so bleibt… Leise fluchend richtete er sich auf und tappte durch das dunkle Treppenhaus. »Hör auf mit den Selbstgesprächen«, befahl er dem Spiegel im Flur. »Der Psycho ist Bennys Rolle.« In der Küche war es stockfinster, vom Kühlschrank her ertönte ein dumpfes, regelmäßiges Ächzen, manche Bodenplatten wackelten und knacken, wenn Richie auf sie trat. Vorsichtig sah er über die Schulter. Nichts. Er war (nicht) allein in der Küche. Mach dich doch nicht lächerlich, dachte Richie mahnend. Deine Angst im Dunkeln ist doch Jahre her. Wer (ER) sollte schon hier sein? Er atmete tief durch, ignorierte das hektische Klopfen seines Herzens und griff in den Küchenschrank. Im gleichen Moment erklang hinter ihm ein langgezogenes Stöhnen, mit einem Glas in der Hand wirbelte Richie herum, tastete mit den Augen Küche und Diele ab, beruhigte mühsam seinen Atem. Unser Peter Poltergeist, würde Sid jetzt grinsen. »Ganz ruhig, Pete«, murmelte Richie. »Ich will nur etwas trinken, ja?« Seine müden Beine trugen ihn zur Spüle, dank seines Traumes und der nächtlichen Atmosphäre stand sein Magen kopf. Als er den Hahn aufdrehte, stockte er. Das Wasser sah anders aus als sonst. »Ist ja dunkel«, murmelte er dumpf. »Keine Sorge, alter Paranoia-Krüppel.« Mit vollem Glas trat er ans Fenster und versuche, im kaum existenten Mondlicht etwas zu erkennen. Noch immer schien das Wasser dunkel und dickflüssig, Richie hob es zu seinem Gesicht und roch vorsichtig daran. Den Geruch kannte er, nur woher? Er trank einen Schluck – und spie ihn augenblicklich zurück ins Becken. Mit unbeachteter Wucht knallte er das Glas auf die Spüle; hastig durchquerte er die Küche und betätigte den Lichtschalter – seine Vermutung bestätigte sich. »Hab doch gewusst, dass du nicht ganz sauber bist, Sid«, nuschelte er sarkastisch. Er drehte um und stürmte die Treppe hinauf. Bis er seine Freunde geweckt, ihnen etwas widerstrebend von seinem Traum erzählt, Benny in seinem triumphalen Maulen unterbrochen und mit Sid in die Küche geführt hatte, dämmerte es bereits. Schweigend standen die drei vor der blutbefleckten Spüle, bereits seit Minuten musterten sie das Glas mit der bekannten roten Flüssigkeit. Irgendwann streckte Sid einen Arm aus, stellte den Wasserhahn an. Klares, kühles Wasser floss ins Becken und wusch die roten Spritzer davon. »Das«, sagte sie leise, »ist gruselig.« Benny lachte leise. »Jaah… Schon. Richie, irgendwelche Interpretationsansätze? Was will uns wer mitteilen?« Seufzend rieb Richie seine Augen. »Ich wisst ja, ich bin nach dieser Wald-Sache nach Hause gerannt und durfte feststellen, dass Kay noch lebte. Aber immer, wenn ich ihn gesehen hab, klebte überall Blut an ihm – hab ich mir jedenfalls eingebildet. Dem folgte, dass ich eine ganze Weile lang ’ne richtige Angst vor Blut hatte. Aber wenn man sich mit Benny anfreundet, muss sich so was zwangsläufig legen. Ich schätze mal, dieser Irre will die Vergangenheit nicht ruhen lassen.« Einen Moment lang war es still, Benny wiegte den Kopf erst auf die eine, dann auf die andere Seite; stirnrunzelnd blickte er in das noch immer rot gefüllte Glas. »Ich war deine Chance, richtig?«, fragte er dann leise. »Wir kamen zeitgleich in die fünfte Klasse und am Anfang wollte niemand etwas mit mir zu tun haben. Alec und Lisa haben gleich am ersten Tag angefangen, sich über mich lustig zu machen. Und dann kamst du.« Richie nickte. »Ja, das … ist wohl so. Und, um ehrlich zu sein, ich hatte anfangs ja überlegt, da schon wieder mitzumachen – aber mit Kays Leiche im Hinterkopf war das mehr als unmöglich. Also hab ich’s gelassen und mir ist aufgefallen, dass du echt in Ordnung bist und diese komischen Trottel gar keinen Grund haben, dich so fertig zu machen.« Als niemand etwas sagte, setzte er mit fast panischem Unterton hinzu: »G-Glaub bitte nicht, dass ich mich bloß mit dir angefreundet habe, um nicht zu verrecken! Ich hab dich von Anfang an gemocht, ehrlich. Ich musste mich nur überw–« »Schon gut, Mann. Ich glaub dir ja. Ist nett zu wissen, dass ich dich vor dem Tod bewahrt habe, hehe. Jetzt, wo du Blut gesoffen hast, bist du mir doch sogar noch sympathischer.« Grinsend schüttelte Sid den Kopf. »Ihr zwei seid ja süß«, sagte sie. »Wirklich knuffige Geschichte, wie ihr zusammengefunden habt, wenn man diesen obskuren Dämon oder was auch immer mal außer Acht lässt. Fast wie Aschenputtel, nur dass der Prinz sich diesmal ins Fußvolk begibt, statt Aschi zu ihm.« Schweigen. Richie brach in Gelächter aus, Benny deutete langsam mit dem Zeigefinger auf seine eigene Brust. »Ich … bin Aschenputtel?« »Jaah«, lachte Sid, »und um Mitternacht hast du deinen gläsernen Chuck verloren.« »Mhm.« Benny nickte. »Geschwärztes Glas dann.« »Natürlich.« Richie, der sich nur wenig von seinem Lachen erholt hatte, hob das Glas hoch und räusperte sich. »Wollen wir darüber jetzt noch groß nachdenken, oder lassen wir das lieber?« »Ich würd’ vorschlagen, wir lassen uns davon jetzt nicht runterziehen oder einschüchtern oder so – scheiß drauf«, sagte Sid. »Aber vielleicht sollten wir noch mal bei Lisa vorbeischauen.« »Nicht heute«, sagte Benny prompt. »Ich will gammeln.« »Mit Vergnügen.« Richie entleerte das Glas ins Waschbecken und ließ etwas Wasser nachlaufen. »Machen wir ’nen Gammeltag, begonnen mit Blut, beendet mit Trägheit!« »Yeah.« Wenige Stunden zuvor, Richie war gerade kopfüber in den Alptraum seiner Vergangenheit gestürzt, erhielt James Wilcox einen Anruf. Der Wärter des städtischen Zoos, der sich wieder einmal frühestens aus dem Bett gequält hatte, um sich um seine Tiere zu kümmern, haspelte panisch durch die Leitung: »Kommen Sie schnell her, bitte – tut mir leid, Sie zu wecken, Doktor Wilcox, aber Sie müssen herkommen! Es ist… Bitte, kommen Sie.« »Was ist denn passiert?«, fragte James, seit Jahren der Lieblingstierarzt des Zoos, ruhig. »Ich hab keine Ahnung! Kommen Sie her! …Ich wollte sie nicht anschreien, tut mir –« »Schon gut. Ich bin unterwegs.« James legte auf, schrieb seinen Kindern einen Zettel und legte ihnen Geld für den Bäcker auf den Tisch, griff seinen Koffer und fuhr los. Im Zoo war es noch dunkel. Vor dem Dschungelhaus traf James auf Lou, den Wärter. »Also, was ist los?« »Sieh es dir an«, murmelte Lou und wies auf den Gang zu den Wildkatzen. Seine Stimme war brüchig, seine Augen blutunterlaufen, sein Arm zitterte. »Es ist… Ich weiß nicht… Wie kann so was denn passieren?« James nickte. Er verstärkte den Griff um seinen Koffer etwas und schritt voran. Das Dschungelhaus hatte für ihn schon immer etwas Sonderbares gehabt. Nicht so wie das Nachthaus, das Nachthaus sollte eine gruselige Aura für Besucher haben, aber nicht für den Tierarzt. Denn der wusste über die dort hausenden Geschöpfe ja bescheid. Beim Dschungelhaus war das für James immer etwas Anderes gewesen. Die Raubkatzen saßen vor den großen Fenstern und beobachteten ihn. Sie liefen auf und ab, je später es wurde, desto mehr glühten ihre Augen durchs Halbdunkel – hatten sie Junge, so war es am schlimmsten. Natürlich kannte James dieses Verhalten, es war nichts anderes als natürlich. Doch er wusste, sie waren mächtig. Lagen sie auf seinem Behandlungstisch, änderte sich das vollkommen, doch in diesem Gehege, inmitten von Pflanzen und Lianen, wo sie nur eine Glasscheibe von dem düsteren Gang trennte, in dem er sich befand – dort empfand er ihre Anwesenheit als nahezu beklemmend. Die Morgensonne hatte diesen Gang noch nicht erreicht, das einzige Licht spendeten ein paar schwache Lampen an der Decke. Ein seltsames Gefühl lag über den Gehegen… Fäule, Angst – Tod? James warf einen Blick zu den Löwen hinein – und stockte. Er trat näher an die Scheibe heran, um sich zu vergewissern, dass er nicht irrte. Doch sein erster Eindruck bestätigte sich: Die Löwenfamilie lag eindeutig tot am Boden. Die Haltung der drei Jungen war noch immer verkrampft, ihre Augen weit aufgerissen. Beide Eltern waren offenbar in Kampfhaltung zu Boden gegangen, ihre Felle waren gesträubt, ihre Gesichter verzerrt. Mit den Fingerspitzen seine Schläfen massierend ging James weiter. Doch das Bild änderte sich nicht: Sämtliche Wildkatzen schienen über Nacht verstorben. Vor dem Tigergehege trat Lou an ihn heran. »Skye ist die einzige, die’s überlebt hat«, sagte er leise. James nickte. Skye, eine junge Tigerdame, streifte unruhig vor der Scheibe auf und ab. Ihre Ohren waren angelegt, der aufgebauschte Schwanz peitschte aufgeregt hin und her, in unregelmäßigen Abständen stieß sie ein leises Fauchen aus. Als sie James und Lou erblickte, stolperte sie erst einige Schritte zurück – um dann mit einem großen Satz geradewegs gegen die Scheibe zu springen. Lou schrie erschrocken auf und machte einen hastigen Schritt rückwärts; James schob bloß seine freie Hand in die Hosentasche. »Komm mit«, sagte er nach einem Moment des Nachdenkens. »Wir betäuben sie, und dann holen wir die anderen da raus. Wir brauchen Autopsien.« Nachdem James seinem Assistenten und einem Transporter bescheid gegeben und sich in die anliegende Praxis verzogen hatte, setzte Lou seinen Rundgang fort. Bis er James angerufen hatte, war er bloß bei den Dickhäutern und im Dschungelhaus gewesen, doch im restlichen Gebiet des Zoos erfüllte sich seine Befürchtung. Sie hatten in dieser Nacht über einhundert Tiere verloren. Nicht einmal die Spinnen und Ameisen waren noch am Leben. Von Zeit zu Zeit kehrten die Transporter wieder und nahmen weitere Leichen mit sich. Wenn Lou sie fragte, hatten sie keine Antwort. Die Todesursache war noch immer unklar. Seufzend ließ er sich auf einen Stein vor dem Ottergehege nieder. Seine Lieblingstiere trieben leblos an der Wasseroberfläche. »Was ist nur mit euch passiert?«, murmelte er. »Wer oder was in aller Welt war das?« Einer der Otter trieb gegen die Scheibe. Starrte ihn mit leeren Augen an. Alles um ihn herum war vollkommen still, nichts regte sich. Nur der seichte Geruch von Tod trieb langsam in seine Nase. Trüb sah Lou zurück in diese leblosen Knopfaugen. Abgesehen von Skye war der Zoo nun vollkommen leer. Was sollte er tun, was sollte er den Besuchern sagen? Er würde neue Tiere organisieren müssen – dieser Gedanke schmerzte. »Macht’s gut, Jungs«, flüsterte er und stand schwerfällig auf. Ein letztes Mal legte er die Hand an die Scheibe – da durchzuckte sie ihn. Es war etwas Unbeschreibliches, etwas, was bei jedem Wesen unterschiedlich wirkt. Lou Greens hatte in diesem Moment etwas in der Fensterscheibe gesehen, was außer ihm nie jemand gesehen hatte und nie jemand sehen würde. Es war so grausam, dass sich augenblicklich eine Gänsehaut über seinen gesamten Körper zog und so erschreckend, dass Lou direkt darauf von einem Herzstillstand heimgesucht wurde. Er hatte in das Gesicht seiner eigenen Todesangst geblickt. Nur wenige Augenblicke bevor die Angst auch für Lou tödlich gewirkt hätte, fand James ihn. Während sein Assistent sich an einer Herzmassage versuchte, rief er einen Notarzt. Erschöpft sank er auf eine Bank, Lou war im letzten Moment noch gerettet worden und nun auf dem Weg ins Krankenhaus. Seufzend ließ sich sein Assistent neben ihm nieder. »Was für ein Morgen«, murmelte er. »Jah…«, nickte James augenreibend. Mittlerweile war es fast halb sieben geworden. »Verdammt merkwürdig.« »Möchte wissen, woran die alle gestorben sind. Wenn das ein Virus ist, haben die hier ein ganz schönes Problem.« James schüttelte den Kopf. »Das ist kein Virus. Da hätten wir Anzeichen gesehen. Und das haben wir nicht.« »Wir haben überhaupt keine Anzeichen gesehen.« »Ich weiß… Mir… Mir kam es beinahe so vor, als seien sie vor Angst gestorben. Als sei ihnen allen vom einen auf den anderen Moment das Herz stehen geblieben, weil sie Angst hatten. Allein wegen diesen Gesichtsausdrücken. Ich hab das noch nie so heftig gesehen.« Sein Assistent musterte nachdenklich seine Hände. »An der Theorie ist natürlich was dran… Aber es ist … unheimlich. Ich wüsste zu gern, was hier los war.« »Ja… Ich auch«, sagte James leise. »Ich auch.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)