Sei nicht traurig! von Hoellenhund (Ein Wintermärchen) ================================================================================ Kapitel 1: Front aus Kälte -------------------------- Strahlend weiße Wogen aus Eiskristallen stürzten auf die weite Ebene hinab, verschleierten den Blick. Inmitten der aufgetürmten Puderhügel kämpften sich zwei verschwommene Gestalten ihren Weg gen Horizont. Sie schienen nicht in diese kalte Welt zu gehören, wobei sie doch in dicke Mäntel gehüllt waren – bewegten sich zu unnatürlich, verzweifelten, rasteten. „Ich kann keinen Zentimeter weiter weitergehen. Meine Glieder sind wie erfroren, ganz taub“, rief die kleinere Gestalt unter ihrer Kapuze hervor, während sie sich keuchend auf ihren Knien abstützte. Ihr Begleiter blieb einige Meter weiter vorn stehen, wandte sich langsam um. Langes schwarzes Haar wehte ihm ins Gesicht und nahm ihm die Sicht, doch in diesem Schneetreiben machte es kaum einen Unterschied. „Niemand hat dich gezwungen mich zu begleiten“, antwortete er harsch. Seufzend richtete sich die Kapuzengestalt auf und blickte gegen den undurchdringlichen Vorhang aus Schnee: „Ich fürchte, das ist nicht der rechte Weg. Wir hätten das Dorf längst erreichen sollen, schon vor Stunden. Wir haben uns verlaufen, nicht wahr? Sag es mir ruhig.“ Die gebrochene Stimme der Gestalt war so schwach, sie erreichte gerade noch den Dunkelhaarigen, bevor sie vom Wind verschluckt wurde. „Wir gehen weiter“, war dessen klare Anweisung.. Langsam kämpften sich die beiden Gestalten weiter voran, die kleinere etwas mühevoller, als die größere, in verzweifeltem Glauben die richtige Richtung ausgewählt zu haben. Doch das Glück war den beiden hold, der freudige Ausruf der Kapuzengestalt tat es kund: „Sieh nur, Lysander! Dort, am Horizont!“ Der Angesprochene strich sich das Haar aus der Stirn und spähte angestrengt durch das langsam abschwächende Schneetreiben. Schnell kam er zu dem Schluss, sein Begleiter habe Recht. Zwar war es nicht das erhoffte Dorf, das sich dort mit dunklen Türmen den Wolken entgegenstreckte, doch zumindest ein Ort, an dem man sich wärmen konnte, der einen vor dem Erfrieren wahren würde.. Ein erleichtertes Lächeln breitete sich auf dem geröteten Gesicht Lysanders aus und er reichte der kleinen Kapuzengestalt die Hand, welche diese sogleich ergriff. „Komm“, sagte er wohlwollend, „Es ist nicht mehr weit.“ Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis die beiden Gestalten das Tor des dunklen Schlosses erreicht hatten. Im Windschutz der massiven Mauern zog die kleinere Gestalt ihre Kapuze vom Kopf, unter der kurzes goldblondes Haar zum Vorschein kam. „Hoffentlich ist es in dem Schloss nicht so kalt, wie es von außen wirkt“, sagte der blonde Junge mehr zu sich selbst als zu seinem Begleiter. „Bitte sei höflich“, ermahnte Lysander ihn, während er den Türklopfer betätigte. Das laute, dumpfe Pochen ließ den Blonden unwillkürlich zusammenzucken: „Hoffentlich...“ Mit einem lauten Knarren, welches den Jungen verstummen ließ, wurde das Tor aufgezogen. Hinter ihm stand eine junge Frau mit dunkelblondem Zopf auf dem alten Parkett, in schlichtes Braun gekleidet; über ihrem Arm war ein weißes Tuch ausgebreitet. Ihre barsche Begrüßung trug zu der Vermutung bei, sie sei die Dienerin des Hauses: „Ihr wünscht?“ Der kleinere Junge tat einen fragenden Blick in Richtung Lysander, welcher sich räusperte: „Das ist Fynn“, er wies auf seinen Begleiter, „Und mich nennt man Lysander, wir kommen aus dem kleinen Dorf GoldenSun.“ Da sich die Bedienstete mit dieser Antwort nicht zufrieden zu geben schien, fuhr er fort: „Wir waren auf der Reise in das nächst größere Dorf, als wir in diesen Schneesturm gerieten. Es scheint...“ Er brach ab und warf Fynn einen kurzen Seitenblick zu,.bevor er schloss: „Es scheint als hätten wir uns verirrt; und bitten um einen Rastplatz.“ Höflich senkte er sein Haupt, erwartete die Antwort, die allerdings einige Sekunden auf sich warten ließ. „Bitte kommt herein, ich werde mich bei dem Herrn erkundigen, ob Euer Einlass seinem Willen entspricht“, sprach die kalte Stimme aus dem lieblich anmutenden Mädchenmund. Die Bedienstete trat zurück, ließ die beiden Fremden ein und entschwand durch eine der vielen Türen, die von der Eingangshalle abgingen. Fynn schüttelte seinen blonden Schopf, um die Schneeflocken, die in seinem Haar haften geblieben waren, abzuschütteln und wandte sich dann mit vorwurfsvollem Blick in den grünen Augen zu Lysander um: „Haben wir uns also doch verlaufen!“ Dieser zuckte die Achseln, ohne zurückzublicken. Eine tiefe Stille legte sich über die Eingangshalle des Schlosses, die aus Marmor gefertigt und bis auf einige Türen und alte Gemälde völlig leer war; eine Stille, die auch das Herz der beiden Gäste zu erfüllen schien. Ein eisiger Schauder fuhr Fynn über den Rücken, als sich endlich an den Wänden widerhallende Schritte nährten. Eine Tür wurde aufgestoßen; im Rahmen stand erneut die Dienerin. „Der Herr wünscht, Euch zum Essen zu laden“, rief sie durch die Halle, „Bitte die Herren mir zu folgen.“ Und genauso schnell wie sei erschienen war, verschwand sie auch wieder. Fynn und Lysander hatten Mühe ihr zu folgen, mussten sie doch zunächst die ganze Eingangshalle durchqueren. An die Eingangshalle schloss ein zwielichtiger Gang an, in dem nichts mehr von dem Mädchen in der ausschließlich praktisch gearbeiteten Kleidung zu sehen war. Irritiert blieben die beiden Gäste stehen; blickten sich um – doch da erschien die Bedienstete schon wieder aus einem der abzweigenden Gänge. Sie war nicht angetan von den zurückgebliebenen Gästen, ihr kalter Blick und ihre gerunzelte Stirn verrieten es, und als sie die Beiden erblickte, bog sie schon erneut um die Ecke. Nach einem komplizierten Weg durch die alten Gemäuer des Gebäudes schien man nun endlich am Ziel zu sein. Zumindest klopfte das Mädchen höflich an eine Flügeltür, bevor sie diese aufstieß. Der Raum, welcher sich hinter der Tür verbarg, glich in seiner Schlichtheit dem Gang, an den er mündete. Karge marmorne Wände, das einzige Mobiliar eine lange Tafel – wohl aus Mahagoni gefertigt – und ein Dutzend passender Stühle mit hohen Lehnen. Ganz am anderen Ende des Raumes saß ein mittelalter Mann am Tisch, in Schwarz gekleidet und den Kopf auf die Hände gestützt. Sein silbernes Haar verschleierte ihm die Sicht und er hob nicht einmal den Kopf, als die Bedienstete den Raum betrat. „Setzt Euch“, wies das blonde Mädchen Fynn und Lysander an. Ein kurzer Blickwechsel zwischen den beiden Jungen erfolgte, bevor sie zögerlich den Raum betraten und sich dem silberhaarigen Mann gegenüber niederließen; Lysander als erster, Fynn zurückhaltend, ihm folgend. „Ich werde noch zwei Gedecke bringen“, sagte die Bedienstete wohl eher zu dem Mann als zu Fynn oder Lysander, ruckte kurz mit dem Kopf und verließ eilig den Raum, die Tür hinter sich schließend. Eine unangenehme Stille senkte sich über den weißen Raum. Da der fremde Mann, der hier Schlossherr zu sein schien, nach einigen Sekunden immer noch keine Notiz von seinen Gästen genommen hatte, räusperte sich Lysander. Langsam hob der Mann den Kopf und richtete sich zu voller Größe auf, während er weiterhin stumm seinen Gästen entgegen starrte. Seine wunderlich blauen Augen schienen verschleiert, als wäre er mit den Gedanken in einer anderen Welt. „Es ist sehr großzügig von Euch uns Einlass zu gewähren“, ergriff nun Fynn das Wort. Überrascht von der jähen Selbstsicherheit seines Freundes, blickte Lysander ihm verdutzt entgegen. Ein gleichgültiges Schulterzucken war die Antwort. Zur Überraschung der beiden schüttelte der silberhaarige Mann nur den Kopf: „Nein, nicht doch. Ich weiß, wieso ihr hier seid und ich muss gestehen, es ist meine Schuld.“ „Ihr wisst...?“, entfuhr es Lysander erstaunt. Dieses Mal nickte der Mann, ein trauriges Lächeln auf den Lippen: „Die goldenen Vögel sind nicht gekommen.“ Nun wandte sich Lysander verwirrt an Fynn, der seinen Blick nicht minder verwirrt erwiderte. Dieser Mann sprach in Rätseln. „Aber ich habe mich noch nicht vorgestellt, mein Name ist Silencius“, er neigte den Kopf leicht zur rechten Seite. Immer noch wirkte sein Blick fern und in seiner Stimme schwang Trauer, schon seit er zu sprechen begonnen hatte. „Ich hoffe wirklich, sie treffen bald ein. Ich weiß, wie es um euer Dorf bestellt ist; wie es um alle Dörfer bestellt ist, sowie die Tiere. Der Winter rafft sie dahin“, sprach Silencius weiter und seufzte. Wieder wechselten Fynn und Lysander Blicke. Er hatte vollkommen Recht; waren sie doch ausgezogen um im Nachbardorf um Vorräte und Brennmaterialien zu bitten. War es doch wirklich der Winter, die kalte Zeit, die dieses Jahr ungewöhnlich lange andauerte und auf die sie nicht vorbereitet gewesen waren. Doch bevor einer der beiden etwas fragen konnte, wurde die Flügeltür erneut aufgestoßen und die Bedienstete trat herein, zwei Gedecke auf dem Tablett, welche sie vor den beiden Gästen auslegte. „Vielen Dank, Lorena“, wehte die leise Stimme Silencius' zum anderen Tischende hinüber. „Es wird sofort serviert“, war die Antwort der Dienerin, bevor sie den Raum erneut verließ. Durch diese kleine Störung schien der Gesprächsfaden zerschnitten und das Ende verloren. Weder Fynn noch Lysander wussten, wie sie ihn erneut ergreifen konnten, und so wiegten auch sie sich – genau wie Silencius -. in Schweigen, bis das Essen serviert und verzehrt war. Die beiden hatten schon lange kein so köstliches Mahl mehr zu sich genommen; die Vorräte ihres Dorfes waren fast zur Gänze aufgebraucht, nur noch Gerste war übrig geblieben. Doch hier wurden Kartoffeln serviert, Gemüse und sogar ein gebratenes Huhn. So kam es, dass beide Gäste nach dem Essen erschöpft in ihre Stühle zurücksanken. „Ich hoffe es hat gemundet“, sagte Silencius leise. Er wirkte auf Fynn noch trauriger als zuvor. Doch wieso nur? Während er den silberhaarigen Mann betrachtete, schreckte er auf. Da stand ein kleines Mädchen schräg hinter Silencius' Stuhl. Wie war es so schnell dort hingelangt, wieso hatte er es nicht bemerkt? Doch schon einen Lidschlag später war es verschwunden, ohne jegliche Spur. Verdutzt wandte sich Fynn an seinen Begleiter. „Hast du es gesehen?“, flüsterte er. „Was meinst du?“, fragte Lysander mit gerunzelter Stirn zurück. Doch Fynn schüttelte nur den Kopf: „Ist schon gut, ich scheine mich geirrt zu haben." Noch einige Sekunden starrte er dem Gastgeber entgegen, konnte jedoch nichts Ungewöhnliches feststellen und gab schließlich auf; gerade als die Bedienstete Lorena erneut den Raum betrat. „Lorena, sei so nett und führe unsere Gäste auf ihre Zimmer“, wies Silencius sie an. Als hätte diese Anweisung Fynn und Lysander gegolten, standen die beiden auf und folgten der Bediensteten aus dem Zimmer. „Wünsche eine angenehme Nacht“, wehte ihnen noch die Stimme des Schlossherren nach, bis die Flügeltür hinter ihnen ins Schloss fiel. Kapitel 2: Die verlorenen Feuersteine ------------------------------------- Eiligen Schrittes führte die Bedienstete Lorena die Gäste den steinernen Korridor entlang auf eine Treppe zu, die mit rotem Samt bekleidet war. Diese weckte in Fynn ein gewisses Gefühl der Häuslichkeit und mit diesem Gefühl sollte er Recht behalten, denn kaum war die kleine Gruppe am oberen Treppenabsatz angelangt, schloss Lorena schon zwei Zimmer auf. „Getrennte Zimmer?“, fragte Lysander etwas verdutzt. Lorena nickte nur und legte ihm und Fynn je einen Schlüssel in die offene Hand, schweigend, bevor sie die Treppe erneut hinabstieg. „Nun... Dann werde ich erst einmal meinen Mantel ablegen“, lächelte Fynn und verschwand in seinem Zimmer. Das Gästezimmer war, wie auch der Rest des Schlosses, nur spärlich möbliert; ein großes Bett stand in der Mitte des Raumes, am Fenster ein kleines Pult aus dem selben teuren Holz gefertigt, wie die Möbel im Speisesaal; ein passender Stuhl dazu. Ausgenommen dessen schmückten den Raum ein Dutzend weißer Kerzen, die noch nicht entzündet waren. Fynn legte seinen durchnässten Mantel ab, den er schon seit seiner Ankunft getragen hatte, und suchte den Raum mit Blicken nach Feuersteinen ab, mit denen er die Kerzen hätte entzünden können - doch er wurde nicht fündig. Als der ohnehin schon düstere Himmel nun kaum mehr von der Sonne erhellt wurde, entschied er Lysander nach Feuersteinen zu fragen. Zwei Mal klopfte er an der Tür seines Freundes, bevor er, ohne eine Antwort abzuwarten, den Raum betrat. Lysander saß auf seinem Bett, die Kerzen an den Wänden waren schon entzündet worden. Fynn meinte kurz ein freudiges Glühen in seinen dunklen Augen erblickt zu haben, erklärte es sich jedoch schon im nächsten Augenblick mit einer Spiegelung des Lichtscheins. „In meinem Zimmer sind keine Feuersteine, also fragte ich mich, ob du welche hast“, sagte Fynn erklärend, „Und wie ich sehe, hatte ich Recht.“ Lysander nickte zur Antwort, er schien nicht zum Reden aufgelegt. So trat Fynn an das einzige Fenster und betrachtete den immer dunkler werdenden grauen Himmel. Nach einer kleinen Weile begann er unvermittelt zu sprechen: „Dieser Silencius... Ich frage mich, was ihn betrübt.“ „Wieso interessiert dich das?“, fragte Lysander barsch. Der Gedanke, Fynn sorgte sich um einen anderen Mann, behagte ihm nicht. Er blickte zum Fenster hinüber, doch Fynn schien immer noch reges Interesse an dem Wolkenmeer zu haben, welches den Himmel verbarg. „Er ist ein sehr interessanter Mensch – spricht in Rätseln. Vermutlich weiß niemand, was er denkt. Findest du das nicht interessant?“, fuhr Fynn ungerührt fort. „Mein Interesse hält sich in Grenzen. Ich bin ihm für die Unterkunft sehr dankbar – zweifellos. Aber wir werden ohnehin nicht lange bleiben. Am besten wir ziehen gleich morgen weiter.“ Der Groll, der aus Lysanders Stimme sprach, weckte nun doch Fynns Neugierde und er wandte sich vom Fenster ab: „Was hast du gegen ihn? Er scheint mir sehr freundlich.“ „Der Scheint trügt immer“, war die erneut trockene Antwort. Jedoch wich Lysander Fynns Blick aus, starrte auf seine gefalteten Hände. „Ich werde herausfinden, was ihn betrübt – und wenn es sein muss bis morgen früh“, sagte Fynn fest. Er fühlte, er benahm sich wie ein trotziges Kind; doch in diesem Augenblick war er es auch. Als Lysander nicht antwortete, seufzte er, ging auf ihn zu und umarmte ihn kurz, wie er es jeden Abend tat, seit er sich entsinnen konnte. „Gute Nacht“, flüsterte er der Tradition entsprechend und wandte sich zum Gehen. Als er die Tür schon fast erreicht hatte, rief Lysander ihn noch einmal zurück: „Fynn? Wieso war es dein Wille mich auf der Reise in das Nachbardorf zu begleiten?“ Diese Frage lag Lysander auf den Lippen, seit die beiden aufgebrochen waren. Fynn war nicht groß, nicht stark und auch nie abenteuerlustig oder wagemutig gewesen. Wieso verlangte es einen solchen Menschen eine derartig harte Reise auf sich zu nehmen? „Wegen dir“, antwortete Fynn wie selbstverständlich, als hätte sein Freund eine sehr einfältige Frage gestellt. Lysanders Herz machte einen kleinen Hüpfer. Das war es also, weshalb Fynn sich den Strapazen der Reise stellte. Doch Fynn fuhr mit seiner Antwort weiter fort: „Wir waren doch nie getrennt, seit wir Kinder waren. Du bist doch wie ein Bruder für mich – ich hätte dich nie allein ziehen lassen.“ Jäh schwand Lysanders Freude. Doch ehe er noch etwas erwidern konnte, war Fynn schon mit einem erneuten „Gute Nacht“ durch die Tür verschwunden, mitsamt der Feuersteine. Lysander starre einige Sekunden lang an die kahle Wand – In ihm wirbelte ein Strom von Gefühlen, den er nicht zu ordnen vermochte. Er war also ein Freund für Fynn- ein großer Bruder, der ihn vor Leid bewahrte und an dem er sich festhalten konnte – doch an wem sollte sich Lysander halten? Langsam erhob er sich und löschte die Kerzen, eine nach der anderen. Der Rauch vernebelte die Luft, doch wagte er es nicht das Fenster zu öffnen; fürchtete er doch die Kälte würde einen Weg hinein finden, würde durch das geöffnete Fenster kriechen wie eisiger Rauch. So legte er sich nieder und zog die Decke bis zum Hals hinauf – Ein großer Bruder. Ja... Vielleicht war er das wirklich. Schaudernd vor Kälte erwachte Fynn. Um ihn herum herrschte noch tiefe Nacht und einen Moment lang fragte er sich, was ihn geweckt hatte – doch als er nun erneut fröstelte, fiel es ihm wieder ein. Verwundert stand er auf und trat ans Fenster; es stand offen. Wie seltsam, er war sich ganz sicher, das Fenster geschlossen zu haben, bevor er zu Bett ging. Leise fluchend schlug er nun das Fenster zu, durch das die eisige Kälte über das Zimmer herfiel. Durch den seltsamen Umstand verspürte er das Bedürfnis nach Licht – er wollte alles klar erkennen, jeden Winkel durchschauen; war ihm die Situation doch nicht ganz geheuer. Reflexartig griff er nach den Feuersteinen, die er nach dem Entzünden der Kerzen auf sein Pult gelegt hatte - doch da waren keine Steine. Nun zur Gänze verunsichert zog sich Fynn seinen Mantel über, der inzwischen nicht mehr durchnässt, sondern nur noch feucht und klamm war, und öffnete seine Zimmertür; langsam und vorsichtig. Durch den Türschlitz spähte er auf den Gang hinaus, der im Zwielicht dalag, doch konnte er nichts Ungewöhnliches ausmachen. So schob er nun die Tür zur Gänze auf und trat auf den Flur hinaus. Verwundert bemerkte er, dass in einem Zimmer, an den Gang mündend, noch Licht schien; er konnte es durch den Spalt unter der Tür hervorglimmen sehen. Um erneut um Feuersteine zu bitten, klopfte Fynn an besagter Tür. Er war sich bewusst wie unhöflich er war, doch seine Entschlossenheit denjenigen zu finden, der sein Fenster mitten in der Nacht aufgestoßen hatte, war stärker. Als, nach einer geschlagenen Minute, niemand antwortete, drückte Fynn die Tür einfach auf. Der Raum hinter der Tür war seinem Zimmer ähnlich eingerichtet und an den Wänden waren tatsächlich die Kerzen entzündet worden. Als Fynn den Raum betrat, blieb er jäh stehen. Ein kleines rothaariges Mädchen von höchstens acht Jahren saß auf dem Bett und ließ die Beine baumeln. Er wusste, er hatte es schon einmal gesehen, dieses Mädchen; und zwar hinter Silencius' Platz im Speisesaal. „W...wer bist du?“, stotterte Fynn und wich einen Schritt zurück. „Geh nicht“, sagte das kleine Mädchen, „Aydin, Aydin nennt man mich.“ Die Stimme des Mädchens jagte Fynn einen Schauder über den Rücken; sie klang fern – leise, aber doch sehr klar und auf eine eigene Weise unwirklich. Jäh war sich Fynn nicht mehr sicher, ob er wirklich wach war oder noch träumte. Er griff nach dem Stuhl, der neben der Tür stand – jedoch ohne das Mädchen auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen – und ließ sich auf ihm nieder: „Ich sah dich heute Abend hinter Silencius' Stuhl.“ Aydin nickte. Dann begann sie erneut zu sprechen: „Denk bitte nicht, er sei böse. Er ist nicht immer so, er ist sehr nett.“ „Natürlich halte ich ihn nicht für böse. Er ist nur – traurig. Du scheinst den Grund dafür zu kennen“, gab Fynn zurück. Aydin antwortete nicht, sodass Fynn den Blick durch das Zimmer schweifen ließ. Zwei Paar Feuersteine auf dem Bett neben dem Mädchen fielen ihm ins Auge. „Moment“, begann er langsam, „Sind das meine Feuersteine?“ Das Mädchen wandte den Kopf zu den Steinen um und griff danach, als wollte es verhindern, dass Fynn sie ihm wegnahm: „Verzeih.“ Nach einigen Sekunden des Schweigens fuhr sie fort: „Finster ist's in den Nächten. Und selten die Möglichkeit unbemerkt an Feuersteine zu gelangen.“ Fynn lächelte sie aufmunternd an: „Du kannst sie behalten, ich werde morgen um Neue bitten.“ Schüchtern lächelte Aydin zurück und schob sich die Feuersteine in die Hosentasche. „Warst du es, der mein Fenster öffnete?“, wollte Fynn von ihr wissen. Ein leises, schauriges Kichern drang an seine Ohren: „Hoffte, du würdest mich suchen; habe selten Gesellschaft.“ „Aber so sag mir doch: was ist es; was bedrückt Silencius?“, fragte Fynn neuen Mutes. Doch Aydin schüttelte nur den Kopf: „Zeit zu Gehen.“ Und vor Fynns Augen verschwammen die Konturen des Mädchens, wurden unscharf, verliefen mit der Umgebung und schließlich war es verschwunden. Die Kerzen erloschen und das Schloss lag in tiefem Schlaf da; in stiller Übereinkunft die Geschehnisse zu verwischen. Kapitel 3: Die goldenen Vögel ----------------------------- Am Morgen wurde Lysander durch ein lautes Pochen an seiner Zimmertür aus dem Schlaf gerissen. „Das Frühstück steht bereit“, dröhnte eine harsche Frauenstimme, die nur Lorena zuzuordnen war. Lysander setzte sich auf und stützte den Kopf in die Hände. Kam es ihm doch vor, als hätte er die gesamte Nacht kein Auge zugetan. Geträumt hatte er; geträumt von einer grauen und einsamen Welt, in der es keinerlei Freude gab. Nun, da er darüber nachdachte, kam es ihm zudem so vor, als hätte sich jemand in der Nacht in sein Zimmer geschlichen. Irritiert blickte er zum Fenster hinüber – es war verriegelt. Draußen war es bereits hell und Schneewogen wirbelten vor dem Fenster umher, sodass man außer weißen Schleiern nichts zu erkennen vermochte. Langsam, sehr langsam stand Lysander auf, kleidete sich an und bändigte sein langes Haar mit einer Bürste, die für ihn bereit lag. Als er nun gleich darauf auf den Flur hinaustrat, wohl in der Absicht sich zum Speisesaal zu begeben, traf er auf Fynn, welcher bereits auf dem Weg nach unten war. Sobald Lysanders Zimmertür ins Schloss fiel, wandte er sich um: „Guten Morgen.“ Ein kurzes Kopfrucken war Lysanders Antwort. „Wir werden gleich nach dem Frühstück aufbrechen“, teilte er Fynn mit. Der Angesprochene hob eine Augenbraue: „Du scheinst noch nicht aus dem Fenster gesehen zu haben. Der Schneesturm hat wieder eingesetzt – wenn wir jetzt weitergehen, werden wir uns erneut verirren: Und dieses Mal wird uns das Glück nicht so hold sein.“ „Wir sollten nicht hier sein, dies ist kein gewöhnlicher Ort, das spüre ich. Zudem riskieren wir den Untergang unseres Dorfes; die Menschen haben weder Feuerholz noch Nahrung“, gab Lysander grob zurück, während er Fynn auf der Treppe überholte. In Wahrheit war dies nicht der einzige Grund, der Lysander zu einem schnellen Aufbruch trieb. Tatsächlich spürte er in diesem Schloss eine seltsame Anwesenheit, die ihm nicht geheuer war – doch noch ungeheurer erschien ihm der Schlossherr. Nicht nur sein Gebaren, nein, vor allem der Einfluss, den er auf seinen Freund Fynn auszuüben schien. „Wenn wir tot sind, nutzt das unserem Dorf auch nicht“, antwortete Fynn schon etwas energischer. Dieses törichte Verhalten war er von seinem Begleiter nicht gewohnt und es begann seine Nerven zu strapazieren. „Nun gut. Wir brechen sofort auf, wenn der Schneesturm sich gelegt hat“, setzte Lysander mit tonloser Stimme fest und wies Fynn den Weg zum Speisesaal. Am frühen Nachmittag schlenderte Fynn durch die ewig gleichen Gänge des Schlosses. Bedingt durch die Jahreszeit war es draußen bereits dämmrig und an den Wänden waren die ersten Kerzen entzündet worden. Fynn blickte in jeden Raum, an dem er vorbei kam – er war auf der Suche nach jemandem, doch gab er sich alle Mühe sein Tun wie einen gewöhnlichen Erkundungsgang aussehen zu lassen. Ein Zimmer, das Fynn noch nie gesehen hatte, besaß keine Tür. Es war lediglich durch einen runden Bogen vom Gang abgetrennt und als Fynn wie zufällig hineinblickte, entdeckte er die gesuchte Person. Silencius saß in eine Art dunkelblauen Morgenmantel gekleidet vor einem Schachbrett und schien gegen sich selbst zu spielen. In seinem Rücken loderte ein fröhliches Feuer hinter dem Kamingitter. Er hob den Kopf, als Fynn wie angewurzelt stehen blieb. „Komm her, mein Junge, setz dich“, sagte er ruhig und wies auf den leeren Sessel sich gegenüber auf der anderen Seite des Schachbretts. Fynn tat wie geheißen und blickte dem Schlossherrn anschließend verwundert in die durchdringend blauen Augen; was erhoffte er sich davon? „Mach doch bitte deinen Zug für Schwarz.“ Fynn nickte leicht irritiert und verschaffte sich einen groben Überblick über die Situation der schwarzen Spieler. Beide Mannschaften hatten nicht mehr viele Figuren im Spiel, es sah recht ausgeglichen aus. Fynn fiel ein schwarzer Springer ins Auge, der günstig stand und mit dem er seinen Zug vollführte, um den weißen König ins Schach zu setzen. Ein triumphierendes Lächeln breitete sich auf Silencius' Gesicht aus. Rasch griff er nach seinem weißen Turm, schlug den schwarzen Springer und setzte im selben Zuge den schwarzen König schachmatt. Zufrieden lehnte er sich zurück und faltete die Hände: „So, mein Junge. Was führt dich zu mir?“ Jäh fühlte sich Fynn, als sei es ihm nicht gestattet zu Silencius aufzublicken; als stünde er tatsächlich als Springer dem ehrwürdigen weißen König gegenüber. Den Blick auf seine Finger fixiert antwortete er: „Fragen. Ich habe so viele Fragen, die ich Euch stellen möchte; nichts ergibt einen Sinn für mich.“ Silencius lächelte auf Fynn hinab, es schien ein mitleidiges Lächeln zu sein: „Nun denn: Stelle deine Frage. Eine einzige will ich dir beantworten, warst du mir doch ein guter Gegner in meinem Spiel.“ Immer noch wagte es Fynn nicht aufzublicken. Einige Sekunden lang überlegte er, welche der Fragen, die ihm im Kopf herumschwirrten, wohl die wichtigste sei. Dann fragte er: „Bei unserm ersten gemeinsamen Mahl am vorigen Abend… Ihr habt von goldenen Vögeln gesprochen, die nicht gekommen seien. Was meintet Ihr damit?“ Erneut lächelte Silencius, doch dieses Mal, weil er froh über Fynns Wahl war. Langsam stand er auf und trat an ein Fenster heran, wobei er seinem Gast den Rücken zuwandte; den Blick fest auf die wirbelnden Schneeflocken gerichtet, als würden sie ihm eine Geschichte erzählen. Nun endlich wagte es Fynn den Kopf zu heben und blickte auf Silencius' Rücken, über den sein Silberhaar hinabfiel, während er zu erzählen begann: „Einst, da die Welt noch jung war, lebten vier mächtige Magier auf der Erde. Sie untereinander waren die einzigen, die sich verstanden, die einzig guten Gesprächspartner. Macht besaßen sie, mehr Macht, als es sich die meisten Menschen nur erträumen konnten, doch ihr Sein fand keine Erfüllung; schien keinen Sinn zu haben. Den verzweifelten Magiern erschien ein heller Bote, mitten in einer finsteren Nacht, der freundlich zu ihnen sprach: ‚Ihr Magier, ihr. Tag um Tag und Nacht um Nacht reihen sich aneinander – ihr, die ihr so viel Macht besitzt, spürt die Trostlosigkeit dieser Abfolge, fühlt, es kann mehr geben. Da ihr wisst und erleben wollt, möchte ich euch ein Geschenk machen. Ich gebe euch vier Zeiten, jedem eine andere, die von nun an das Jahr gliedern sollen. Dir, Winter, übertrage ich die finstere und kalte Zeit, dir, Frühling, die Zeit der sprießenden Blüten. Du, Sommer, sollst die warme und helle Zeit erhalten und zuletzt du, Herbst, dir schenke ich die feuchte Zeit der Ernte. Mit eurer Macht sollt ihr diese Zeiten einleiten und über sie herrschen, um den Menschen und Tieren, als auch den Pflanzen mehr Abwechslung zu schenken.’ Von diesem Tage an, wurde jeder der Magier an einen geheimen Ort gebunden, unfähig ihn zu verlassen, zu Einsamkeit verdammt. Winter leitete seine Zeit des Jahres ein, indem er tiefe Trostlosigkeit und Trauer empfand. Dieses Gefühl, welches die dunkle Zeit in sich barg, verhinderte, das Überhand Gewinnen der nächsten Zeit: Frühlings Zeit. Frühling leitete ihre Zeit des Jahres ein, indem sie goldene Vögel über das Land fliegen ließ, die den Schnee zum Schmelzen und die Blumen zum Blühen brachten. Doch diese Vögel konnten nur fliegen, wenn Winter nicht mehr in tiefer Dunkelheit versank – denn sie waren aus Lebensfreude gemacht - wodurch Winters Zeit Bestand hatte, bis sich sein Seelenzustand verbessert hatte.“ Silencius riss den Blick von den tanzenden Schneeflocken los und wandte sich zu Fynn um, der Blick erneut traurig und fern, wie bei ihrer ersten Begegnung. „Du weißt nun“, sagte er leise und senkte den Blick, „Doch ich frage mich, ob du auch verstehst.“ Noch verstand Fynn nicht, doch wollte er es auch nicht zugeben. Ohne weiter auf die indirekte Frage einzugehen, verabschiedete er sich höflich und machte sich auf den Weg zurück in sein Zimmer. Die goldenen Vögel sind noch nicht gekommen – also war der Frühling noch nicht angebrochen. Doch das war Fynn auch schon vor dieser Geschichte klar gewesen. Er hatte das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein; er musste nur weiter denken. Warum war der Frühling immer noch nicht angebrochen? Die Vögel waren aus Lebensfreude gefertigt, sie konnten nicht fliegen, wenn Winters Zustand sich nicht verbesserte. Natürlich, dieses Jahr musste der Magier, der für die kalte Jahreszeit zuständig war, noch immer tief betrübt sein. Doch wer war dieser Magier und wo konnte man ihn finden, wenn die vier Magier der Jahreszeiten doch über die Welt verteilt waren? Und entsprach diese alte Geschichte überhaupt der Wahrheit? Vielleicht bildete sie auch nur eine Metapher für die Umstände der Jahreszeiten. Ja, so musste es sein, wer glaubte schließlich an Magier…? Doch an dieser Stelle wurde Fynn aus seinen Gedanken gerissen, da er auf jemanden aufprallte. „Verzeihung“, sagte er bedauernd und rieb sich die Stirn. Erst jetzt blickte er auf und bemerkte, mit wem er kollidiert war: „Lysander!“ „Ich habe dich gesucht, wo bist du gewesen?“, wollte der Leidtragende wissen und rieb sich das Haar aus der Stirn. „Ich habe mich ein wenig im Schloss umgesehen.“, war Fynns knappe Antwort. Kurz entschlossen nahm er seinen Freund bei der Hand und zog ihn die Treppe hinauf und in sein Zimmer. „Und rate, wem ich begegnet bin“, fuhr er fort, nachdem er sich auf seinem Bett niedergelassen hatte. „Die Auswahl ist nicht sehr groß“, gab Lysander wesentlich weniger enthusiastisch zurück. Fynn nickte verständnisvoll: „Das ist wohl richtig. Ich begegnete Silencius und konnte die Chance nutzen, ihn etwas zu fragen.“ Lysander hörte nur mit halbem Ohr zu, während er aus dem Fenster blickte. Eigentlich wollte er nicht hören, was die beiden in seiner Abwesenheit besprochen haben mochten, doch wollte er nicht unhöflich sein. „Leider habe ich immer noch nicht herausgefunden, was ihn so deprimiert. Aber dafür, was er mit den „goldenen Vögeln“ meinte - Lysander? Glaubst du an Magier?“, fuhr Fynn fort, der offenbar nichts vom Desinteresse seines Freundes mitbekommen hatte. „Hm? Ach so, ja, wieso nicht. Ich habe schon allerhand Übernatürliches gespürt, wieso nicht auch Magier“, gab Lysander gelangweilt zurück „Und… Hast du schon einmal etwas Übernatürliches gesehen? Vielleicht… Einen Geist?“ „Nein. Wieso fragst du mich das alles?“ Fynn zuckte die Achseln und wandte sich ab: „Aus keinem bestimmten Grund, es interessiert mich einfach.“ Der seltsame Unterton fiel Lysander zwar auf, beunruhigte ihn allerdings nicht weiter. „Keine Angst, wenn dich ein übernatürliches Monster fressen will, beschütze ich dich“, grinste er neckisch. „Sehr lustig“, gab Fynn trocken zurück. In diesem Moment ließ ein lautes Geräusch die beiden Gäste zusammenzucken. „Was war das?“, fragte Fynn und ließ die Augen blitzschnell durch den Raum wandern. Er bemerkte kaum, dass er sich mit den Fingernägeln in seinem Bettlaken festgekrallt hatte. „Hier, die Kerze ist samt Halter von der Wand gefallen. Hat sich vermutlich im Laufe der Zeit gelockert – wer weiß, wie lange sie dort schon hängt“, beruhigte Lysander ihn und las die halb heruntergebrannte Kerze und den metallenen Halter vom Steinboden auf. Doch Fynn hatte eine ganz andere These. ‚Aydin?’, fragte er sich in Gedanken. Kapitel 4: Bittere Kälte und angenehme Wärme -------------------------------------------- In dieser Nacht vermochte Fynn kein Auge zu schließen. Aufrecht saß er in seinem Bett und wartete ; erst wenn jedes Geräusch im Schloss verstummt war, könnte er es wagen, sein Zimmer zu verlassen. Lange dauerte es, bis er sicher war, dass alle Kerzen gelöscht und alle Augen zugetan waren. Beinahe wäre er eingenickt, doch seine Neugierde hatte ihn wach gehalten. Er musste es erfahren, er hatte keine Wahl. Leise erhob er sich und drückte ein Ohr an die Zimmerwand, die an den Raum seines Freundes grenzte. Nichts war zu hören, was Fynn erleichtert aufatmen ließ: Lysander schien bereits zu schlafen. Auf leisen Sohlen schlich er zu seiner Zimmertür und drückte sie auf; bedacht darauf, ein Knarren zu vermeiden. Auf dem dunklen Flur blickte sich Fynn um; im ersten Moment hatte er schon gedacht, es würde tatsächlich nirgendwo mehr eine Kerze brennen, doch dann fiel sein Blick auf einen matten Goldschein, der unter einem Türspalt hervorglimmte. Vorsichtig trat er näher, klopfte leise und flüsterte den Namen des kleinen Mädchen, welches er auch in der Nacht zuvor in jenem Zimmer entdeckt hatte. Da er keine Antwort erhielt, drückte er die Tür einfach auf. Der helle Lichtschein in dem Raum blendete ihn, doch als er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte, entdeckte er tatsächlich Aydin, die auf einem Stuhl nahe dem Fenster saß. Ein leises Lächeln huschte über seine Lippen, während er die Tür hinter sich schloss. „Guten Abend, Aydin“, grüßte er das Mädchen, welches sich erst jetzt zu ihm umwandte. Fynn ging auf sie zu, um sich neben ihr auf dem Bett niederzulassen, doch Aydin hielt ihn zurück: „Nicht! Komm nicht näher.“ Abrupt blieb Fynn stehen, war verwirrt. Was sollte es für einen Grund geben, nicht näher zu treten? Das kleine Mädchen deutete auf einen Stuhl direkt neben der Tür; es war der selbe, auf dem sich Fynn vorige Nacht niedergelassen hatte. „Bitte setze dich dort“, sprach Aydin mit ihrer freundlichen, jedoch fernen und unwirklich klingenden Stimme. Irritiert trat Fynn einige Schritte zurück und ließ sich nieder, genau wie Aydin ihn angewiesen hatte, wodurch er sich berechtigt fühlte, das Mädchen direkt danach zu fragen: „Was ist mit dir, wieso sollte ich nicht näher kommen?“ Sie musterte ihn nur ausdruckslos und antwortete nicht; es schien eine Ewigkeit still im Raum zu sein. Doch dann nickte Aydin langsam: „Du besitzt ein reines Herz. Dir will ich von mir berichten.“ Eine neue kleine Ewigkeit schien ihr Blick Fynn durchbohren zu wollen, schien das Tiefste in seinem Inneren sehen zu wollen. Doch dann nickte sie erneut und begannt zu erzählen, sehr leise und zu ihren im Schoße gefalteten Händen hin, jedoch flüssig und klar. „Ich bin kein Mensch, mein Freund, nein. Aber das hast du sicher geahnt. Man nennt uns Lumière, wir bringen den Menschen Gefühle wie Glück oder Zorn.“ Erneut trat Stille ein. Dieses Mal, da Fynn kaum glauben konnte, was er hörte. Er war auf einiges vorbereitet gewesen, am naheliegensten hatte er die Theorie des Geistes empfunden. Doch dem war nicht so – Aydin behauptete ein Wesen zu sein, von dem er noch nie gehört hatte – noch nicht einmal in den Geschichten, die seine Mutter ihm als Kind vorgelesen hatte. „Und..:“, begann Fynn immer noch leicht verunsichert, „Welches Gefühl bringst du den Menschen?“ Aydin antwortete nicht, sie erhob sich und trat an das geschlossene Fenster heran, ihrem Gesprächspartner den Rücken zugewandt. In dieser Pose erinnerte sie Fynn unwillkürlich an Silencius, als er von der Legende der Jahreszeiten berichtet hatte. Einige Sekunden lang geschah nichts, dann begann Aydin erneut zu sprechen, doch antwortete sie nicht auf die ihr gestellte Frage: „Auf Menschen mit magischen Fähigkeiten wirken unsere Gefühle stärker, als auf andere. Das – das ist der Grund, aus dem du mir so nahe kommen kannst, ohne etwas zu spüren. Bei deinem Begleiter ist das schwieriger... Ich gestehe, ich habe euch belauscht, diesen Nachmittag und ich fürchte, er hat mich bemerkt, trotz meiner Bemühungen...“ Zwei Dinge fuhren Fynn daraufhin blitzschnell durch den Kopf: Der Kerzenhalter, der von der Wand gefallen war und die Macht, von der Lysander am Morgen berichtet hatte. Eigentlich konnte Fynn nicht glauben, was er hörte, so sehr er Aydin auch mochte. Doch all dies passte in das unvollständige Bild des Schlosses, es fügte sich allmählich zusammen und Fynn war sich sicher, er stand kurz davor es zu lösen. „Der Schlossherr, Silencius... Er ist sehr mächtig...“, fuhr Aydin fort, ohne eine Reaktion von Fynn abzuwarten. Ihre Stimme klang erstickt, als stünde das Mädchen kurz vor den Tränen: „Er spürt mich schon, wenn ich nur im selben Teil des Schlosses verweile...“ Doch nun konnte sie nicht mehr an sich halten; sank vor das Bett und legte den Kopf ihm ab. Leises Schluchzen durchzog die nächtliche Stille. Ohne es bemerkt zu haben, hatte sich Fynn erhoben. Ob Mensch oder nicht, er konnte Aydin nicht weinen sehen; wie alt sie auch sein mochte, in seinen Augen war sie immer noch das, was sie auf den ersten Blick zu sein schien: ein kleines Mädchen von vielleicht acht Jahren, das die Welt noch nicht allein bewältigen konnte. Rasch ging er auf sie zu und legte einen Arm um sie. Doch kaum, da er sie berührte, schien sein Herz in einem Käfig gefangen; drückend eng und kalt – kein Entkommen. Sinnlos, alles, was es auch zu tun geben mochte, kein Ausweg, dumpfe Dunkelheit, allein. Niemand weit und breit, der ihn schützen würde, niemand, seine Schmerzen zu lindern. Aydins Kopf ruckte entsetzt nach oben, ihre feuchten Augen hafteten auf dem Jungen, der versucht hatte, ihr das Leid zu nehmen. Ihr Blick flackerte. Sobald Fynns Lippen ein verzweifelter und tief deprimierter Aufschrei entglitt, befreite sich Aydin aus seinem Griff, verschmolz mit dem Raum um sie her und war verschwunden. Mit ihr war auch der brennende Schmerz aus Fynns Herzen verschwunden, der ihn halb blind gemacht hatte; noch nie hatte er solch tiefe Trauer und Verzweiflung verspürt. Mit halb betäubtem Kopf fand er sich auf den Knien wieder, griff mit der Hand zum Herz. Als er sich gerade aufrappelte, vernahm er schnelle Schritte auf dem Flur. Jemand stieß die Tür auf und als Fynn sich umwandte, entdeckte er Lysander im Nachtgewand. „Was ist geschehen? Ich hörte einen Schrei“, teilte er seinem Freund mit und wandte den Kopf, um die Quelle des Aufschreis auszumachen. Als er sie nicht entdeckte, fuhr er fort: „Und was machst du eigentlich hier, mitten in der Nacht?“ „Verzeih“, murmelte Fynn, „Ich konnte nicht einschlafen und beim Umherstreifen, begann mein Herz zu schmerzen...“ Soweit war Fynns Aussage völlig korrekt, doch wurde sie von Lysander missverstanden: „Im Herzen? Das werde ich mir sofort ansehen, jetzt bringe ich dich erst einmal zurück zu Bett.“ Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, hob er Fynn hoch, sodass diesem nicht einmal mehr die Zeit blieb, zu protestieren. Überrascht stellte er fest: Lysander trug ihn in sein Zimmer. Er legte Fynn auf dem Bett nieder und ging dann, um in dem verlassenen Zimmer die Kerzen zu löschen. Das Bett roch so stark nach Lysander, dass Fynn unwillkürlich ein Schauder über den Rücken lief. So oft hatte er auf diesem Bett gesessen, doch nie war es ihm aufgefallen. Wann hatte er das letzte mal in Lysanders Bett gelegen? Viele Jahre war es her, damals waren sie Kinder gewesen; unschuldige Kinder, die sich nichts dabei dachten. Oft war Fynn zu Lysander unter die Decke geschlüpft, als er nach dem Tod seiner Mutter unter Albträumen litt – und Lysander hatte ihn stets getröstet, jede Nacht. Nachdenklich rollte sich Fynn auf den Bauch. Wieso war es bloß für Kinder so einfach, Freunde zu sein, eine so tiefe Freundschaft aufzubauen? Das Geräusch der ins Schloss fallenden Zimmertür schrecke Fynn auf. Lysander war zurückgekehrt und setzte sich nun auf die Bettkante. „Ich kann dir wohl nicht sehr viel behilflich sein, das ist nicht mein Beruf. Doch ein wenig über Medizin habe ich in der Schulzeit gelernt“, sagte er und lächelte verlegen, in Erinnerungen schwelgend, „Wo genau tat es weh?“ Fynn wollte es ihm sagen: er war nicht krank, doch etwas hielt ihn davon ab, sodass seine Antwort: „Im Herzen, ein Ziehen und dann ein stechender Schmerz“ lautete. Doch sein schlechtes Gewissen holte ihn sofort wieder ein und so ergänzte er: „Aber es ist schon vorbei.“ „Das kann vieles sein“, gab Lysander besorgt zurück und strich sich das schwarze Haar aus der Stirn, wie er es so oft tat, wenn er nachdachte, „Wir sollten das beobachten.“ Fynn nickte und wollte aufstehen, doch Lysander packte ihn bei den Schultern und hielt ihn zurück: „Um Himmels Willen, bleib liegen. Und schlafe, das kann nie schaden.“ Seufzend gab Fynn nach und sank zurück in die Kissen. Jäh fragte er sich, wieso er Lysander nicht die Wahrheit gesagt hatte. Doch schon, da Lysander die Kerzen löschte und sich ein Stück entfernt ganz an den Rand des Bettes legte, fiel es ihm wieder ein: Es war dieser Geruch, der für ihn schon immer Wärme und Geborgenheit verkörpert hatte. Kurz bevor er einschlief, ging ihm noch ein letzter Gedanke durch den Kopf: 'Nun weiß ich, für welches Gefühl Aydin zuständig ist...' Kapitel 5: Zusammenfügen des Puzzles ------------------------------------ Lautes Pochen an der Zimmertür riss Lysander aus dem Schlaf. Eine kurze Verwirrung überfiel ihn, doch dann war ihm klar, wer geklopft hatte. Er erwartete ein „Das Essen ist hergerichet“ - doch es blieb aus; stattdessen klopfte es erneut. Überrascht erhob er sich und zog sich rasch seinen Mantel über. „Einen Moment bitte“, rief er dabei durch die Tür. Geschwind fuhr er mit der, für ihn bereitgelegten, Bürste durch sein langes Haar und öffnete dann endlich die Tür. Kalte blau-graue Augen blickten ihn an, sodass ihm ein Schauder über den Rücken lief; Lorena hatte ihre kühle Art nicht abgestreift. „Kann ich etwas für dich tun?“, wollte er überrascht wissen. Er konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte – doch vermutlich war es an dem Tag seiner Ankunft gewesen; ebenfalls ein Gespräch, bei dem die Gesprächspartner auf verschiedenen Seiten von Türen gestanden hatten. Doch dieses Mal war es anders: Er selbst befand sich auf der Innenseite des Zimmers, während Lorena draußen verweilte, was ihn stärkte und Lorena gelassen empfangen ließ - trotz ihres unveränderten Gesichtsausdrucks. „Der Herr lud Euch zum Essen und zu einer Rast ein“, begann Lorena, „Doch dies ist bereits der dritte Tag, an dem Ihr hier verweilt. Ich denke, es ist an der Zeit uns zu verlassen.“ Lysander nickte verständnisvoll; schließlich war er es selbst gewesen, der diesen Ort so bald wie möglich wieder verlassen wollte und so antwortete er: „Das denke ich auch. Doch...“ Er unterbrach sich und trat aus der Tür, um sie hinter sich zu schließen. „Doch bedenke bitte: Mein Freund ist erkrankt. Wir wünschen nur noch diesen Tag zu verweilen; und wenn du am nächsten Morgen an unseren Zimmertüren pochst, werden wir verschwunden sein. Das ist ein Versprechen“, fuhr er etwas gedämpfter Stimme fort; er wollte nicht, dass Fynn hörte, wie er mit einer fremden Person über ihn sprach. Lorena nickte knapp: „Das Essen ist serviert.“ Damit wandte sie sich grußlos um und schritt die Treppe hinab. Lysander starrte ihr noch einige Sekunden nach, bis er sich ebenfalls umwandte und erneut sein Zimmer betrat. Fynn war gerade dabei sich anzukleiden, doch Lysander hielt ihn zurück. „Du bleibst heute im Bett!“, sagte er in befehlendem Tonfall. Etwas sanfter setzte er hinzu: „Ich werde dir das Frühstück hochbringen.“ Fynn seufzte, doch was sollte er erwidern? Er selbst hatte sich diese Krankheit, die eigentlich gar nicht existent war, zuzuschreiben und so würde er auch mit den Konsequenzen leben müssen; auf keinen Fall könnte er nun noch alles widerrufen und gestehen, dass er völlig gesund war: er konnte es Lysander nicht antun. So legte er sich also zurück in das Bett, dieses Bett, welches ihn so sehr an seine Kindheit erinnert hatte. An diesem Tag hatte Fynn viel Zeit zum Nachdenken. Ihm war bewusst, Lysander wollte das Schloss eigentlich so schnell wie möglich verlassen – und heute hatte sich auch der Schneesturm gelegt, nur einige sanfte Flocken fielen vom Himmel hinab. Und auch wusste er, was der Grund für ihren Verbleib war: er selbst. Welche Mühe sich Lysander auch gegeben hatte leise zu Lorena zu sprechen, so hatte er es doch gehört und er fühlte sich schuldig. Doch auf der anderen Seite benötigte er diesen Aufschub, diesen einen Tag. Das Geheimnis des Schlosses war noch nicht gelöst, doch es wollte gelöst werden; sollte gelöst werden – von ihm. So kam es, dass Fynn sich alles noch einmal vor Augen führte, alles noch einmal durchlebte. Das erste Gespräch mit Silencius beim Abendessen, die beiden Treffen mit Aydin und die Geschichte, die Silencius ihm am vorigen Nachmittag erzählt hatte. Verzweifelt versuchte er sich an jedes einzelne Wort zu erinnern, jede Andeutung könnte wichtig gewesen sein; nur noch dieser eine Tag, noch vor Tagesanbruch würden sie weitergezogen sein; dann war es zu spät. Fynn wusste nicht warum, doch das Geheimnis um dieses Schloss schien von äußerster Wichtigkeit zu sein, dieses Gefühl drängte sich ihm zusehends auf und setzte ihn unter Zeitdruck. Die Lösung lag so nah... Lysander betrat den Raum und riss Fynn aus seinen Gedanken. „Wie fühlst du dich? Du hast am Mittag kaum etwas gegessen“, fragte er besorgt und ließ sich auf der Bettkante nieder. „Mach dir keine Sorgen, ich fühle mich gut“, war Fynns aufmunternde Antwort, doch sein Freund beäugte ihn misstrauisch. „Du bist ganz blass.“ Fynn lächelte matt – wenn Lysander wüsste, woran das lag... Er würde es dennoch nicht glauben, da war Fynn sich sicher. „Mach dir keine Sorgen“, begann er erneut, „Ich...“ Lysander legte eine Hand auf Fynns Stirn und brachte ihn damit zum Verstummen. Wieso verspürte er dieses drückende Gefühl in der Herzgegend? Warum schien sich diese Art der von Lysander ausgehenden Fürsorge nicht zu schicken? Verwirrt und verlegen wandte Fynn den Kopf zur Seite, doch Lysander hatte genau in diesem Moment die Hand weggezogen und bemerkte es nicht: „Fiber scheinst du keines zu haben... Vielleicht solltest du mehr schlafen.“ Fynn nickte ergeben; es war eine gute Idee. Tatsächlich zerrten die nächtlichen Treffen mit Aydin an seinen Kräften, er schlief nicht mehr genug. So rollte er sich ein, sobald Lysander das Zimmer erneut verlassen hatte, und versuchte die Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen – doch es gelang ihm nicht. Er musste erst Ordnung in das entstandene Durcheinander aus Gefühlen gegenüber Lysander und Eindrücken von dem Geheimnis dieses Schlossen bringen. Während er dies angestrengt versuchte, erkannte er das, was ihm schon lange hätte klar sein müssen. Die fehlende Verbindung zwischen Aydin, Silencius und der alten Geschichte über die Jahreszeiten; so lange hatte er sie nicht gefunden, obwohl sie so nahe lag: Silencius war der Magier Winter. Erschreckt von diesem Gedanken sponn Fynn die Fäden weiter: Aydin, eine Lumiére, die Trauer und Verzweiflung bringt; auf Personen mit magischen Kräften hatte ihre Macht eine größere Wirkung; sie hatte erwähnt, dies wäre gerade bei Silencius der Fall. Ein klarer Hinweis darauf: er ist ein Magier. Und der Winter ist nicht vergangen, da die goldenen Vögel, aus Lebensfreude gefertigt, nicht fliegen konnten; und das, da Silencius tief traurig war: durch Aydins Anwesenheit. Fynn wollte aufspringen und das Geheimnis endgültig lösen, doch da sein Kopf nun endlich frei von diesen Gedanken war, schlief er einfach, ganz ohne es zu wollen, ein. Als Fynn erwachte, war es bereits tiefe Nacht. Er spürte einen warmen Körper neben sich auf der Matratze: Lysander. Langsam setzte er sich auf und wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und er die Umrisse seines Freundes erkennen konnte. Fast wie von selbst streckte sich seine Hand aus und fuhr Lysander durchs Haar – als er dies realisierte zog er die Hand halb erschreckt wieder zurück; sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Doch hatte er keine Zeit über sein Verhalten nachzudenken, er musste die Nacht nutzen, um noch einmal mit Aydin zu sprechen; musste erfahren, wieso sie hier war. Schnell und leise schlüpfte Fynn aus dem Bett. Zu seinem Glück schien Lysander sehr fest zu schlafen, sodass er ohne ihn zu wecken durch den Türspalt auf den Flur verschwinden konnte. Dort angekommen blickte er sich wie jede Nacht nach einem Lichtschein um, der durch einen Türspalt hervorglomm; und er entdeckte ihn auch sogleich: wieder das selbe Zimmer. Rasch trat er heran, klopfte kurz und drückte die Tür, ohne eine Antwort abzuwarten auf. Eine Gestalt, die in der Zimmermitte stand, wandte sich um, sobald sich die Tür öffnete. Durch das grelle Licht geblendet, konnte Fynn im ersten Moment niemanden erkennen, doch schien ihm die Gestalt ungewöhnlich groß. Kaum eine Sekunde später erkannte er, wer vor ihm stand; und es war nicht Aydin. Silencius blickte ihn aus intensiv blauen Augen an, die nicht mehr so klar, wie bei ihrem letzten Treffen waren. Sie schienen in die Ferne zu blicken, in eine Welt, die nur Silencius sehen konnte und in ihrem Blick lag Trauer. „V...Verzeiht, ich...“, begann Fynn stockend. Erst hatte er „Ich wollte zu jemand anderen“ sagen wollen, doch kam es ihm jetzt in den Sinn: Silencius wusste vermutlich gar nichts von Aydins Anwesenheit und so sagte er: „Ich wollte nur etwas trinken, ich muss mich in der Tür geirrt haben.“, wich zurück und schloss die Tür rasch wieder. Erneut in der Dunkelheit des Flurs, lehnte er sich erst einmal erschöpft gegen die Zimmertür; sein Herz raste. Hatte er doch zuletzt Silencius erwartet. Fynn hatte sich doch noch nicht einmal angekleidet; steckte noch in seinem Nachtgewand. Peinlich berührt atmete er ein paar mal tief durch. Wenn Aydin nicht hier war, wo konnte sie dann sein? Er hatte in Silencius' Blick gelesen: Sie konnte nicht weit sein. Er musste mit ihr sprechen, er musste. Die Mensch- und Pflanzenwelt würde diesem ewigen Winter nicht mehr lange Stand halten können. Er musste an sein Dorf denken; an die friedliche Atmosphäre, an den Zusammenhalt, wenn im Frühjahr die Felder bestellt wurden, an die fröhlichen Lieder bei der Ernte im Herbst; und an Lysanders friedlichen Gesichtsausdruck, wenn er in der drückenden Hitze des Sommers im Gras lag und auf die himmelblaue Oberfläche des Sees blickte. 'Aydin...', dachte Fynn verzweifelt und löse sich nun endlich von der Tür in seinem Rücken los. „Aydin“, flüsterte er, nach dem kleinen Mädchen rufend. Jäh erstrahlte ein weiterer Türspalt; so eben mussten in diesem Raum die Kerzen entzündet worden sein. Schnell trat Fynn an die Tür heran und lauschte. Als er kein Geräusch ausmachen konnte, klopfte er – doch dieses Mal wartete er länger, bevor er zu dem Schluss kam, nur Aydin würde auf ein Pochen an der Tür nicht reagieren, und die Tür öffnete. Tatsächlich saß das rothaarige Mädchen auf einem Bett, welches aussah, als hätte noch niemals jemand darin geschlafen. „Guten Abend“, grüßte es leise und nickte zu einem Stuhl nahe der Tür hinüber. Fynn verstand und ließ sich nieder, verwundert über die Begrüßung. Scheinbar hatte die kleine Lumière ihm nun endlich ihr Vertrauen geschenkt, nachdem er ihr Geheimnis niemandem verraten hatte. „Du hast nach mir gerufen..:“, sagte sie erklärend und blickte Fynn offen an, als erwartete sie nun den Grund für diesen Ruf zu erfahren. Fynn nickte zunächst nur schlicht und überlegte, wie er das, was er von ihr wissen wollte, wohl am besten und unverfänglichsten in Worte kleiden konnte. Es dauerte eine gute Minute, bis er sich endlich klar wurde, dass es nicht möglich war. Dann fragte er: „Aydin... Wieso bist du hier, in diesem Schloss? Ich weiß, du bist noch nie zuvor um diese Zeit hier gewesen.“ Das kleine Mädchen erbleichte und wandte den Blick von Fynn ab, um ihn auf ihre Finger zu lenken. Eine tiefe Stille folgte und Fynn fürchtete schon, Aydin würde ihm nicht antworten, da hob sie den Kopf: „Jedes Jahr besuche ich dieses Schloss... Seit je.“ Erneut machte sie eine Pause, doch Fynn konnte in ihrem Blick lesen: Sie suchte nur nach den richtigen Worten, um zu erklären, was ihr auf dem Herzen lag. Schließlich fuhr sie fort: „Bin ich hier, überfällt den Schlossherrn die Schwermut; ich kann nichts dagegen tun, es haftet an mir, dieses negative Gefühl!“ Den letzten Satz hatte sie laut ausgerufen, als sei sie zornig auf sich selbst. „Ich mühe mich, ihm nicht zu nah zu kommen – und dennoch...“ Sie schüttelte traurig den Kopf. „Zu stark ist seine Magie... Doch kann ich nicht fortbleiben, ich muss ihn sehen! Wenigstens einmal im Jahr, nur ein Mal...“ Fynn hatte dem Mädchen aufmerksam zugehört und es absichtlich kein einziges Mal unterbrochen, denn das, was es zu sagen versuchte, schien ihm sehr schwer zu fallen. Nun konnte er sehen, wie Aydins Augen feucht wurden. „Wenn es zu schlimm wurde, wenn meine Anwesenheit zu sehr an seinen Kräften zehrte, habe ich diesen Ort verlassen, ihn zu schonen“, flüsterte Aydin nun nur noch, „Doch... Doch dieses Jahr war es mir nicht genug, ich wollte bleiben, bei ihm sein...“ Sie unterbrach sich selbst: „Sag mir, wie geht es ihm?“ Fynn zuckte zusammen; er hatte nicht erwartet von ihr angesprochen zu werden. Aus diesem Grund brauchte er auch eine kurze Zeit, bis er sich besann und ihr antwortete: „Nicht sehr gut, fürchte ich. Und der Welt geht es auch nicht gut – wenn Silencius betrübt ist, herrscht Winter auf der Welt. Herrscht diese kalte Jahreszeit noch länger, wird das Leben dieser Welt zu Grunde gehen.“ Er hatte langsam und bedacht gesprochen, wollte er doch auf keinen Fall dem kleinen Mädchen die Schuld für den langen Winter geben, doch fürchtete er, es könnte es so verstehen. Doch dem war nicht so. Aydin wischte sich die Tränen aus den Augen und nickte langsam: „Ich verstehe... Es ist Zeit, zu gehen. Werde ich doch nie hier verbleiben können, werde ich ihm doch nie näher kommen dürfen; selbst wenn ich bliebe.“ Sie nickte überzeugt. „Ich werde diesen Ort verlassen, morgen werde ich in meine Heimat zurückkehren und erst in fast einem Jahr wieder in dieses Schloss einkehren – so, wie es immer war, so, wie es am besten ist.“ Sie wandte sich zum Fenster um und blickte in die Dunkelheit hinaus: „Ich danke dir... Doch bitte ich dich: vergiss mich nicht, du warst mir ein guter Gesprächspartner und ein noch besserer Freund.“ „Du bist eine gute Seele“, beendete Fynn das Gespräch. Aydin tat ihm Leid und er wollte sie trösten, doch konnte er sie nicht berühren und selbst wenn er es gekonnt hätte, könnte er ihr doch niemals den Schmerz nehmen. Kurz fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf, wie es wäre, könnte er Lysander nicht mehr nahe kommen. Bei diesem Gedanken schien sich eine eiserne Faust um sein Herz zu ballen und er seufzte. Als er sich aus seinen Gedanken losriss, war Aydin bereits verschwunden. Nur die Kerzen hatte sie für ihn brennen lassen. Dankbar lächelte er matt. Epilog: Tau ----------- Noch bevor die Sonne aufging, rüttelte Lysander seinen Freund wach: „Fynn, steh auf, wir wollen aufbrechen. Im Moment schneit es nicht.“ Verschlafen murmelte der Geweckte etwas Unverständliches, drehte sich um und wollte weiter schlafen, doch Lysander zog ihm rigoros die Decke weg: „Ich habe Lorena versprochen, wir würden fort sein, wenn sie am Morgen hier erscheint, uns zu wecken. Es ist genau der richtig Zeitpunkt.“ Langsam stand Fynn auf und kleidete sich an; es kam ihm vor, als sei er gerade erst zu Bett gegangen – und das war tatsächlich nicht unmöglich. Die beiden Freunde streiften sich die Mäntel über, in denen sie gekommen waren, und schlichen ohne Licht zu machen zum Schlosstor. Kaum, da sie in die Kälte traten, fröstelte Fynn. Er war dieses Klima nicht mehr gewohnt und zusätzlich nicht ausgeschlafen. Schwer seufzte er; hätte er sich doch gern noch ein letztes Mal mit Silencius unterhalten; sich bedankt... Die Sonne tauchte langsam hinter dem Horizont auf und brachte den Schnee zum Glitzern und Funkeln. Das helle Licht irritierte die beiden Reisenden; ließ es doch diese Eiswüste schöner wirken, als den wärmsten Sommertag. Lysander war der erste, der sich von diesem unglaublichen Anblick losriss und sich auf den Weg machte; Fynn folgte. Doch im Gegensatz zu seinem Freund wandte sich Fynn im Gehen noch ein letztes Mal zu diesem Schloss um, welches sich schwarz von dem orange farbigen Lichtball der aufgehenden Sonne abhob. Er musste lächeln: Auf einem der Türme sah er ein kleines Mädchen mit rotem Haar sitzen, es winkte zum Abschied. Fynn erwiederte den Gruß. „Wem winkst du?“, fragte Lysander verwirrt und wandte sich ebenfalls zum Schloss um. Doch Aydin war bereits mit der Sonnenkugel eins geworden und verschwunden. Ein leises Zwitschern, wie von Tausenden von Vögeln, erfüllte die Luft. Überrascht blieb Lysander stehen; und Fynn tat es ihm nach: „Was zum...?“ Vor dem Sonnenball tauchte eine glitzernde Woge auf, die sich über den Himmel verteilte und als sie fast bei den beiden Reisenden angelangt war, erkannten sie, dass es sich um Tausende und Abertausende von goldenen Vögeln handelte, die ihr Lied in fröhlichem Durcheinander in die Welt hinaus schrien – und sie brachten den Frühling mit sich. Unter ihren Schwingen begann der Schnee in Windeseile zu tauen und im gleichen Zuge blickten kleine Pflanzen unter der schmelzenden Eisdecke hervor, die ihre Blüten zum Licht hin öffneten. Fynn ergriff unwillkürlich Lysanders Hand; sein Herz schlug heftig und er lachte, lachte fröhlich und erleichtert. Der Frühling war eingekehrt, sie würden wieder in ihr Dorf zurückkehren – der Hunger war überstanden. Fynn lachte aus tiefstem Herzen, sodass ihm bald Glückstränen in den Augen standen. Die Tränen trocknend wandte er sich zu seinem Freund um und schloss ihn in die Arme, herzlicher und fester, als er es in den letzten Jahren getan hatte; genoss den sich ausbreitenden Blütenduft – und den Geruch Lysanders. Als er sich endlich wieder von seinem Freund löste, blickte dieser ihn zutiefst verwundert an: „Was geht hier vor?“ „Ich werde es dir erklären, werde dir alles erklären, alles – sobald wir wieder in GoldenSun sind, das ist ein Versprechen“, antwortete Fynn ehrlich und lächelte seinem Freund entgegen. Er würde ihm wirklich alles erzählen – nicht nur, was hier vor sich ging, nein, auch seine tiefsten Gefühle. Spürte er doch, Lysander würde ihnen Stand halten. Lächelnd nahm er den Schwarzhaarigen erneut bei der Hand; zog ihn rennend über die entstandene Wiese. Dort, wo eigentlich der Horizont hätte sein sollen, schienen sie durch eine Mauer aus Eis zu schreiten und da sie auf der anderen Seite wieder auftauchten, fanden sie sich unweit ihres Heimatdorfes wieder. Als sie sich umblickten, war das Portal, welches sie in der Dichte des Schneesturms noch vor drei Tagen unbemerkt in eine andere Welt gebracht hatte – jenem geheimen Ort, an dem einer der Jahreszeitenmagier lebte - verschwunden. Noch einmal dachte Fynn an Silencius zurück. Er hatte sich sich nicht mehr persönlich bei ihm verabschieden können, doch hatte er ihm noch in der letzten Nacht einen Brief geschrieben, den er in das Zimmer ohne Tür auf das Schachbrett gelegt hatte; unter den weißen König und die Schwarze Königin. Silencius, Wenn Ihr diesen Brief lest, werde ich nicht mehr hier sein. Ich bedanke mich für Eure Wohlbesonnenheit und die Unterkunft. Mögt Ihr auch denken, dies seien leere Worte, ist dem dennoch nicht so. Nachdem Ihr mir Euer Geheimnis anvertraut habt, möchte ich Euch auch eines von meinen erzählen. Blickt nicht stets zurück und fühlt Euch nicht mehr allein – denn Eure Einsamkeit ist grundlos. Es gibt eine Königin, die jedes Jahr in Euer Schloss einkehrt, seit Anbeginn der Zeit, seit je. Sie ist so ewig wie der Winter – und Ihr seid ihr König. Bedenkt dies und lasst ein Lächeln auf Euren Lippen aufblitzen; nicht für mich, sondern für sie. In tiefster Verbundenheit Fynn aus GoldenSun Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)