Die Akte Tanner von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 3: May Hopkins private Ermittlungen ------------------------------------------- Rally konnte nicht sagen, wie lange sie bereits ohnmächtig war, als sich eine vertraute Stimme in ihren traumlosen Schlaf schob: "Hey Rally! Wach auf! Frühstück steht auf dem Tisch!" Ganz langsam öffnete sie die Augen. Es war May, die da rief. Sie selbst lag zuhause in ihrem Bett. "Morgen May", sagte Rally, und stand langsam auf. Sie fühlte sich wie ausgepumpt. "Mannohmannohmann. Du siehst vielleicht aus", meinte May. "War wohl ne wilde Nacht, was?" "Ne wilde Nacht?", fragte Rally. Allmählich kam die Erinnerung zurück. "Ne wilde Nacht. Ja, kann man so sagen." Sie ignorierte Mays fragenden Gesichtsausdruck, und ging zur Küche. Doch May liess nicht locker: "Sag mal, wo bist du eigentlich gewesen? Und warum hast du dich nicht gemeldet? Ich hab mir Sorgen gemacht, verdammt noch mal!" "Später, später", versuchte Rally zu beschwichtigen. Sie hatte noch nicht alle Gedanken beisammen. May liess sich nicht beirren: "Und dann kommst du nach Hause, ohne ein Wort zu sagen. Hätte ich heute Morgen nicht zu dir ins Zimmer geschaut, wüsste ich nicht einmal, dass du hier bist." Rally stöhnte. Ein Streit mit May war jetzt wirklich das letzte, was sie gebrauchen konnte. "Ich bin nicht hergekommen", sagte sie, "ich wurde hergebracht." May erkannte, dass sie jetzt nichts von Rally erfahren würde. Sie zuckte mit den Schultern, und folgte Rally in die Küche. Rally stocherte lustlos in ihrem Essen. Sie hatte zwar Hunger, aber überhaupt keinen Appetit. May verstand. Oder zumindest glaubte sie, zu verstehen. "So so", sagte sie, "wir haben einen Kater, was?" "Seit wann kriegt man von Morphium einen Kater?", erwiderte Rally missmutig. "Von... Morphium? Rally, was zum Teufel ist passiert?" Rally begann zu erzählen. Sie tat dies sehr bruchstückhaft, und May musste häufig nachhaken. Es ging eine Weile, bis May alles verstanden hatte. "Also, fassen wir zusammen:", sagte May schliesslich. "Vector will Stevenson zu Fall bringen. Er bringt Cogan dazu, Stevenson zu erpressen. Stevenson will Cogan aus dem Weg räumen, was Vector zu einer Inszenierung ausnutzt, um die Polizei auf den Plan zu rufen. Wir schnappen Cogan aber direkt vor der Nase des Killers weg. Der Plan ist im Eimer. Vector schnappt dich, und liest dir die Leviten. Ausserdem verlangt er, dass du dich nicht in seinen neuen Plan einmischst. Richtig so?" "So ungefähr", bestätigte Rally. In Wirklichkeit war sie nicht in der Lage gewesen, Mays Zusammenfassung zu folgen. "Und das bringt uns zur hundert Millionen Dollar Frage: Warum lässt Vector uns nicht einfach Cogan ausliefern, und dessen Angaben über Stevenson bestätigen. Dann ginge Stevenson doch genauso hoch." Rally nahm einen guten Schluck Kaffee. "Ich vermute, es liegt daran, dass Vector das Kerosin in Stevensons Labor haben will." Sie setzte die Tasse ab. "Würde er Stevenson einfach überfallen, dann würde der natürlich sofort verschwinden. Vector will aber sowohl das Kerosin für sich, wie auch Stevenson vor Gericht. Also muss er dafür sorgen, dass die Polizei unmittelbar nach dem Überfall bei Stevenson auftaucht. Geht er nach seinem Plan vor, kann er die Reaktion der Polizei einigermassen steuern. Liefern wir Cogan aus, kann er das nicht. Dann landet das Kerosin in einem Polizeitresor." May nickte. "Ja, das macht Sinn." Dann seufzte Sie. "Blöde Geschichte. Wir sind also zum Nichtstun verdammt." "Wer sagt das?", fragte Rally. Sie hatte mittlerweile ihre Sinne genug beisammen, um ihrer Stimme eine unüberhörbare Schärfe zu verleihen. "Was willst du denn machen?", erwiderte May resigniert. Rally gab sich ungerührt. "Vector einen Strich durch die Rechnung", sagte sie. May zog die Augenbrauen hoch. "Mir einfach so seinen Willen auf zu zwingen. Das könnte ihm so passen." Das brachte May ins Grübeln. Klar, Rally liess sich nicht gerne zu etwas zwingen. Aber sie hatte es auch schon geschehen lassen, wenn die Chancen schlecht standen. Es seie denn... "Ah, alles klar. Du willst nicht, das Vector das Kerosin erhält", meinte May triumphierend. Rally schaute May verblüfft an. May hatte Recht. Aber bisher war es nicht einmal Rally selbst aufgefallen. "Ja, stimmt wohl", meinte sie etwas verlegen. "Und was willst du mit dem Kerosin machen? Es verbrennen?" "Verbrennen? Der Gedanke ist gar nicht so übel." Eine halbe Stunde später war ein grundlegender Plan gefasst: Bevor Vector seinen Überfall startete, wollten Rally und May eine Bombe in den Lagerraum des Drogenlabors schmuggeln. Während des Überfalls würde sie dann gezündet. Für Vector würde es aussehen, als wäre die Bombe von Stevenson selbst, der die Drogen lieber vernichtete, als sie sich klauen zu lassen. May war auf dem Weg zum Laden, um Cogan Frühstück zu bringen, und um das 'sind Fischen'-Schild an die Tür zu hängen. Anschliessend wollte sie sich um die Bombe kümmern. Rally zog sich derweil an. Sie trug noch immer den Pyjama, in den sie Vector gesteckt hatte. Ihre alten Kleider hatte er ihr nicht mitgegeben. Als Rally ihr Halfter anlegen wollte, merkte sie, das noch ein paar andere Dinge fehlten. "Mist. Er hat meine Waffen einbehalten", fluchte sie. Rally legte das Ersatzhalfter an. Dann ging sie zum Waffenschrank hinüber. Sie würde sich eben mit der zweiten Garnitur begnügen müssen. Ihr Blick schweifte über die Auswahl. Dann nahm sie eine P210 in die Hand. Mit einigen schnellen Bewegungen prüfte sie den Zustand der Mechanik. Zufrieden lud sie die Pistole, und setzte sie ins Halfter ein. "Eine gute Waffe", dachte sie sich. "Aber kein Vergleich zu einer CZ-75." Ihr Blick verdüsterte sich. Die CZ würde sie zurückerhalten. Koste es, was es wolle. "Was!?" Cogan glaubte sich verhört zu haben. Musste er tatsächlich noch zwei Tage in diesem Loch verbringen? "Jetzt reg dich mal wieder ab", wandte May ein. "Glaubst du, es macht uns Spass, dich hier unten durchzufüttern?" Cogan brummte irgend etwas unverständliches. Dann fragte er: "Habt ihr meine Angaben überprüft?" "Ja, haben wir", bestätigte May. "Warum liefert ihr mich dann nicht einfach aus. Wenn ihr meine Angaben bestätigt, habe ich nichts mehr vor Stevenson zu fürchten." "So einfach ist das nicht. Da ist noch eine dritte Partei involviert." Cogan stutzte. "Eine dritte Partei? Wer denn?" May grinste, und schüttelte den Zeigefinger. "Neugier tötet die Katze". Cogan gab auf. "Noch zwei Tage in diesem Loch", brummte er. "Ich würde dir die Zeit ja gerne versüssen", meinte May lächelnd, "aber ich muss mich leider beeilen." Cogan sah überrascht hoch, doch May war bereits gegangen, und hatte die Tür wieder abgeschlossen. Sie war tatsächlich in Eile. Schliesslich musste sie sich noch um die Bombe kümmern. Rally war ebenfalls mit Vorbereitungen beschäftigt. Um bei Stevenson einsteigen zu können, würden sie die Umgebung etwas unter die Lupe nehmen müssen. Damit Vector sie nicht gleich wieder einsackt, hatte sie ein paar Verkleidungen besorgt. Sie hatte dafür den Bronco nehmen müssen, da Vector den Cobra ebenfalls nicht zurückgebracht hatte. Ein Umstand übrigens, der Rally beinahe zum explodieren brachte. Als sie aber gerade die Karte studierte, um möglich Zu- und Abfahrtswege zu finden, hörte sie plötzlich ein Motorengeräusch, das ihr sehr bekannt vorkam. Sie rannte die Treppe herunter, und stürmte auf die Strasse. Tatsächlich: Da stand ihr Cobra. Vom Fahrer war allerdings keine Spur. Rally besah sich den Wagen. Er hatte keinen Kratzer. Auch die Rückscheibe war ausgewechselt worden. Auf dem Beifahrersitz lag eine Kiste. Rally wollte sie sich ansehen, doch die Türen waren verschlossen. Schliesslich war da noch eine Notiz an der Frontscheibe. Rally las: "Sehr geehrte Miss Vincent. Tut mir leid, das wir so spät dran sind. Wir hatten leider Schwierigkeiten, ein passendes Rückfenster zu finden. In der Kiste auf dem Beifahrersitz befinden sich ihre Sachen von gestern. Der Schlüssel liegt im Briefkasten. Mit freundlichen Grüssen Hal Vector." Rally starrte auf das Papier. "Der will mich wohl fertigmachen", sagte sie leise. Kenichi Takizawa, genannt Ken Taki, war ein begnadeter Bombenbauer. Er hatte früher für die Mafia gearbeitet, sich aber erfolgreich von seiner Vergangenheit getrennt. Er war Mays Lehrmeister was Bomben betrifft... und ihr fester Freund. Nun, wer May ein bisschen kennt, wird sich vielleicht wundern, dass sie einen festen Freund hat. Tatsächlich waren die beiden aber schon länger zusammen. "Also", sagte Ken. "Du brauchst eine Bombe zum Ausbrennen eines Drogenlagers. Und das heute Abend." "Genau", sagte May fröhlich. Sie sass Ken gegenüber, und hatte ihm gerade die ganze Geschichte erzählt. "Unauffällig soll sie natürlich auch sein...", grübelte Ken. "Das wird ein schönes Stück Arbeit." "Oooch, das schaffst du schon." May blickte Ken mit verliebten Augen an. Ken fühlte das bisschen Widerstand zusammenschmelzen. Es war ohnehin eine interessante Aufgabe. Denn egal, wie unauffällig die Bombe war: Sobald sie gezündet wurde, musste sie unweigerlich entdeckt werden. Wie aber würde man das Personal daran hinderen, das Feuer zu löschen, ohne gleich das ganze Haus zu sprengen? May ahnte, worüber Ken nachdachte. "Ich denke, Petroleum wäre nicht schlecht. Das ist sehr schwer zu löschen. Wenn es eine Sprinkleranlage hat, wird das sicher lustig." Ken grinste. Petroleum ist ein Öl, und Wasser in ein Ölfeuer zu giessen, ist allgemein eine sehr schlechte Idee. Aber er war nicht überzeugt: "Sie könnten das Feuer immer noch ersticken", sagte er. "Wenn es ein Kellerraum ist, müssen sie nur die Tür schliessen und abdichten." "Wie wärs dann mit Napalm?" Kenn erwog den Gedanken für einen Moment. Napalm enthält selbst Sauerstoff. Ein Napalmfeuer kann daher nicht erstickt werden. Aber dann fiel ihm ein anderes Mittel ein. "Man könnte es immer noch mit einem chemischen Feuerlöscher bekämpfen. Aber ich habe eine andere Idee: Aerosol." May erschrak. "Wie... bitte? Ist das dein voller Ernst?" "Natürlich", antwortete Ken gelassen. "Das ist doch verrückt. Da könnten wir ja auch gleich eine Atombombe rein schmeissen." "Keine Sorge, May. Wenn ich die Dosis genau berechne, wird lediglich alles im Raum verbrannt. Und zwar innert Sekunden. Es besteht nicht die geringste Chance, solch ein Feuer zu löschen." May war keineswegs beruhigt. Aber sie kannte Kens Fähigkeiten, und beschloss, darauf zu vertrauen. Rally war sauer auf Vector. Und zwar vor allem darum, weil Vector ihr systematisch jeden Grund nahm, auf ihn sauer zu sein. Sogar die CZ-75 hatte er zurückgegeben: Sie lag in der Schachtel im Auto. Nur das Verbot, sich in den Fall Stevenson einzumischen, blieb noch. Um so mehr wollte sie im gerade hier dazwischenfunken. Damit Vectors Späher sie nicht gleich wieder entdeckten, zog sie eine Perücke mit langen, blonden Haaren an, und überpuderte ihre indianische Haut, so dass sie hell erschien. Bei May war es einfacher. Sie machte sich ihre Kleinwüchsigkeit zunutze, indem sie Kinderkleider anzog. Diesen Trick hatte sie bereits mehrmals mit grossem Erfolg angewandt. Dann fuhren die beiden in Mays Wagen, einem Fiat 500, in die Nähe des Drogenlabors. Rally lenkte den Wagen. Während der Fahrt prüfte sie immer wieder, ob ihnen jemand folge. Sie konnte aber niemanden entdecken. Trotzdem war sie unsicher. Sie parkte den Wagen etwas Abseits, und liess May hinaus. Dann fuhr sie wieder weg. May hatte ein Handy bei sich, mit dem sie Rally rasch herbeordern konnte. May spazierte etwas durch die Umgebung. In ihrer Verkleidung konnte sie sich sehr unauffällig bewegen. So konnte sie auch das Gebäude etwas genauer ansehen. Das Haus war ein alter Plattenblockbau mit fünf Geschossen. Er war etwa doppelt so lang wie breit. Vor allen Fenstern waren die Sonnenstoren heruntergelassen, was das Haus doch recht verdächtig aussehen liess. Der Haupteingang war in der Mitte einer der langen Seiten. Wie Rally gesagt hatte, wurde er von einer zivilen Wache bewacht. Nur das sie jetzt im Innern sass, und durch ein Fenster auf die Strasse schaute. Auf der anderen Seite des Hauses fand May eine Feuertreppe. Sie befand sich an der Aussenseite des Hauses, ging aber nur bis zum ersten Stock herunter. Vermutlich befand sich dort einmal eine Treppe, die hinunterklappte, sobald jemand von oben draufstand. Aber das war wohl schon lange her, denn die abgebrochene Halterung machte den Eindruck, als ob sie schon sehr lange abgebrochen gewesen sei. May stellte ausserdem fest, das auch im Erdgeschoss, gleich unter der Feuertreppe, ein Notausgang existierte. Alles in allem war sie aber noch nicht zufrieden mit dem Ergebniss ihrer Ermittlungen. Robert sass hinter dem Fenster beim Eingang. Die Pumpgun hatte er gegen die Mauer gelehnt. Er hasste den Wachdienst. Es war schlichtweg langweilig. Nur gelegentlich musste ein allzu neugieriger Passant abgewiesen werden. Er verstand auch die Kollegen nicht, die mit umgehängter Waffe und betont ernsthaftem Gesichtsausdruck, wenn möglich mit Sonnenbrille, im Eingang standen. Wem versuchten die hier Eindruck zu machen? Und falls tatsächlich mal etwas passieren sollte... Mit umgehängter Waffe weithin sichtbar herumzustehen, war, wie sich ein Schild umzuhängen: "Bitte erschiesst mich". Robert seufzte, und liess den Blick von der Strasse zum Eingang wandern. Ein kleines Mädchen stand dort. Eine Zehntelsekunde später war Robert auf den Beinen. "Da lässt man mal kurz die Gedanken schweifen, und schon...", dachte er sich. "He Mädchen! Da darfst du nicht rein!". Robert versuchte, seine Stimme grimmig erscheinen zu lassen. Es klappte nicht besonders gut. Aber es erfüllte seinen Zweck: Das Mädchen schien eingeschüchtert. "Tut... tut mir leid", sagte sie leise. "Ich suche meinen Hund." "Deinen Hund?", fragte Robert überrascht. "Ja. Er ist mir hier in der Nähe davongelaufen. Haben Sie ihn vielleicht gesehen?" Robert schüttelte den Kopf. "Nein, hab ich nicht", sagte er knapp. Doch das Mädchen liess nicht locker. "Sicher?", fragte sie. "Er versteckt sich gerne in Kellern. Könnten Sie vielleicht kurz nachsehen?" Im Keller? Stevenson würde niemals zulassen, das dort jemand herumschnüffelte. Das Drogenlabor und das Lager befanden sich dort. "Hör mal", begann er, diesmal etwas gereizt, "wenn ich sage, ich habe keinen Hund gesehen..." "Hey Robert, sei doch nicht so grob." Das war Stevenson. Robert verspürte plötzlich den dringenden Wunsch, irgendwo anders zu sein. Aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. "Du musst ihn entschuldigen", sagte Stevenson zu dem Mädchen. "Er ist... wie ein Wachhund eben. Er bellt alle an, die er nicht kennt." Dann wandte er sich Robert zu: "Hast du sicher keinen Hund gesehen?" "Nein Sir", erwiderte Robert, wobei er krampfhaft versuchte, sachlich zu bleiben. "Wenn hier ein Hund hereingekommen wäre, hätte ich ihn mit Sicherheit gesehen." Robert war sich da nicht so sicher, wie er sich gab. Aber vor Stevenson zuzugeben, dass er möglicherweise einen Hund übersehen hätte? Unmöglich. Da hätte er sich auch gleich selbst erschiessen können. Stevenson schaute das Mädchen mit einem bedauernden Blick an. "Tut mir leid, aber dann ist er wohl nicht hier." "Ist schon gut, danke", sagte das Mädchen. "Dann muss ich eben weiter ersuchen." Sprachs, und war verschwunden. "Siehst du Robert? So gehts doch auch." Stevenson ging zum Ausgang. "Jetzt muss ich aber los. Eine nette Party wartet auf mich." "Ja Sir", sagte Robert langsam. Er wartete, bis Stevenson gegangen war. Dann liess er sich in den Stuhl fallen. Es waren Tage wie dieser, die in ihm den Wunsch weckten, einfach alles stehen und liegen zu lassen, und zu verschwinden. Hätte er gewusst, was an diesem Tag noch so alles auf ihn zukam, hätte er es sogar getan. May ging wieder zur Rückseite des Hauses. Ihr kleiner Vorstoss hatte sich gelohnt. Während Sie die Wache mit ihrer Geschichte über den entlaufenen Hund hinhielt, konnte sie einen Blick ins Haus werfen. Hinter dem Eingang befand sich ein Raum, in dem die Wache sass. Hinter dem Raum wiederum war ein Quergang. May konnte bei ihrem kurzen Rundblick feststellen, dass der Gang an beiden Enden nicht einfach aufhörte, sondern abbog. Vermutlich ging er um das ganze Haus herum. Ausserdem fiel May auf, dass im Gang, gegenüber vom Wachraum, eine Stelle mit einer Holzplatte verdeckt war. Offensichtlich wurde hier irgendein Durchgang blockiert. Als sie schliesslich die Wache nach dem Keller fragte, konnte sie an der Reaktion ablesen, dass sich dort wohl etwas wichtiges befand. Das hatten sie und Rally bereits vorher vermutet. Aber es war immer gut, sich sicher zu sein. Alles, was jetzt noch fehlte, war ein sicherer Eingang. Das Erdgeschoss war May zu gut bewacht. Also ging sie zur Feuertreppe. Mit Hilfe einer alten Mülltonne stieg sie hinauf in den ersten Stock. Auf jedem Stockwerk befand sich eine Plattform. Diese war von einer Tür, und vom Fenster links daneben (von aussen gesehen) erreichbar. May horchte am Fenster. Als sie nichts hörte, hob sie vorsichtig eine Lamelle der Storen an. Im Raum war niemand. Es war ein hübsch eingerichtetes Büro. "Ist wohl das vom Boss", dachte sich May. "Gleich bei der Feuertreppe." Sie ging weiter hoch. Das Zimmer im zweiten Stock enthielt lediglich eine Matraze, die einen unbequemen Eindruck machte. Die Zimmer im dritten und vierten Stock waren sogar völlig leer. Schliesslich kam May aufs Dach. Sie schaute sich um. Es gab einen Eingang hier oben. Ansonsten war das Dach völlig leer. Plötzlich klingelte das Handy. May schaute auf die Uhr. Vor fünf Minuten hätte sie Rally anrufen sollen. Sie nahm den Anruf entgegen. "Hallo?", sagte sie mit schuldbewusster Stimme. May konnte Rally erleichtert aufatmen hören. "Ich wollte nur wissen, ob es dir gut geht." "Sorry. Ich hab vergessen anzurufen", entschuldigte sich May. "Wie immer", seufzte Rally. "Und? Hast du was herausgefunden?" "Jede Menge." May fasste kurz ihre bisherigen Beobachtungen zusammen. Dann folgte eine kurze Pause. "Okay", sagte Rally schliesslich. "Das reicht. Sag mir, wo ich dich abholen soll." "Noch gar nicht", antwortete May. "Erst will ich noch herausfinden, wie wir reinkommen können." "Das können wir immer noch heute Abend. Geh kein unnötiges Risiko ein." "Ach komm, Rally. Glaubst du, ich sei zum Spass auf das Dach geklettert?" "Du bist *was*?! Bist du verrückt? Was machst du, wenn Vectors Männer dich entdecken?" "Bisher bin ich noch nicht erschossen worden." "Sehr witzig. Komm da sofort runter." "Erst prüfe ich, ob wir ungesehen durch die Dachtür rein können." "Nein, das tust du nicht! Und schon gar nicht durch die Dachtür. Die ist noch am ehesten gesichert!" May überlegte einen Moment. Dann sagte sie: "Stimmt. Ich nehme einen anderen Weg." "May war..." Aber in diesem Moment unterbrach May die Verbindung. Sie war gut genug, um das durchzuziehen. Und das würde sie Rally jetzt beweisen. May stieg wieder in den vierten Stock hinunter. Sie schaute sich das Fenster an. Die Lamellen der Sonnenstoren liessen sich leicht anheben. Das Fenster selbst war ein einfaches Schiebefenster. Die Verriegelung war aber von aussen nur erreichbar, wenn man die Scheibe zerstörte. May hatte keinen Glasschneider dabei, also liess sie es bleiben. Sie ging zur Tür. Es war eine typische Notausgangtür. Logischerweise hatte es aussen keine Klinke. Aber dort, wo man normalerweise die Klinke vermuten würde, war eine rostige Metallplatte, die von vier ebenso rostigen Schrauben gehalten wurde. May hatte immer etwas Werkzeug dabei, um kleine Bomben bauen zu können. Aus einer ihrer Taschen kramte sie einen Schraubenzieher hervor. Sie setzte ihn an, konnte die Schraube aber nicht lösen. Als sie es nochmals mit mehr Kraft versuchte, brach der Schraubenkopf ab. "Völlig durchgerostet", sagte sich May. Mit gezielten Schlägen enthauptete sie die drei restlichen Schrauben. Dann entfernte sie die Platte. Dahinter war ein Schloss. Offensichtlich diente es dazu, im Notfall die Tür von aussen zu öffnen. Tom, Stevensons Sicherheitschef, sass zufrieden in seinem Büro. Das Labor war geschlossen, die Lieferverträge sistiert, und die Ware abtransportbereit. Alles war vorbereitet für den Fall, das sie evakuieren mussten. Aber eigentlich machte er sich keine Sorgen wegen eines bevorstehenden Angriffs. Stattdessen versuchte er abzuschätzen, wann er wohl wieder den Normalzustand herstellen konnte. Daher war er nicht schlecht überrascht, als plötzlich eines der Warnlichter auf der Kontrolltafel aufleuchtete. Tom betrachtete die Tafel misstrauisch. Aber es gab keinen Zweifel: Jemand war im vierten Stock durch den Notausgang eingedrungen! May hatte keinen Dietrich dabei. Aber Sprengstoff. Und der verwandelte das Schloss in einen Haufen rauchenden Schrott. Mit einem Ruck zog May die Tür auf. Natürlich hätte sie auch durch das Fenster einsteigen können. Aber wenn sie schon etwas zerstören musste, dann lieber die Tür. Die war bequemer. Hinter der Tür war ein kurzer Durchgang, der ins Gebäudeinnere zum Hauptgang führte. May schaute sich um. Auch hier bog der Gang links und rechts am Gebäudeende zur anderen Gebäudeseite ab. Anscheinend ging er tatsächlich um das ganze Gebäude. Direkt gegenüber dem Notausgang war das Treppenhaus. May schaute zum Notausgang hinüber. Das Schloss, oder was davon übrig war, war jetzt ziemlich schwarz. Es war zwar ziemlich dunkel bei der Tür, aber es war trotzdem sichtbar. Eine Patrouille würde es vielleicht entdecken, und die Tür verbarrikadieren. Andererseits brauchte May nur die Verriegelung des Fensters daneben zu öffnen, um problemlos dort einsteigen zu können. Sie betrat also den Raum neben dem Notausgang. Der Raum war annähernd quadratisch, und völlig leer. An der gegenüberliegenden Wand sah May das gesuchte Fenster. Sie wollte bereits zur Tat schreiten, als sie plötzlich jemanden die Treppe hochrennen hörte. May hechtete zur Tür, und schloss sie. "Mist! Schon weg", rief jemand. "Mann oh Mann", sagte jemand anders. "Einfach aufgesprengt." "Na schön. Dann suchen wir eben systematisch das Haus ab. Prüf erstmal den Dachausgang." "Okay." May rannte zum Fenster. Diesmal prüfte sie es auf Kabel. Und tatsächlich: Zwei Drähte führten vom Fenster weg. May kratzte mit einem kleinen Messer die Isolation von den Drähten. Sie musste vorsichtig sein, denn die Drähte waren dünn, und sie durfte sie keinesfalls durchtrennen. Als sie fertig war, nahm sie ein Stück Schnur, um die blanken Stellen zusammenzubinden. Sie hoffte inständig, damit den Alarm zu überbrücken... und nicht auszulösen. Als die Enden sich berührten, hielt sie einen Moment inne. Entsetzt hörte sie, wie sich Schritte näherten. Ein Mann riss die Tür auf, und kam mit vorgehaltener Pistole herein. Es war einer von Stevensons Leuten, der Pech genug hatte, von Tom angetroffen zu werden, als dieser die Treppe hoch stürmte. Er sah sich kurz um. Der Raum war leer. Er wollte bereits wieder gehen, als ihm etwas auffiel: Die Verriegelung des Fensters war offen. Er ging zum Fenster, öffnete es, und hob die Lamellen davor an. Es war aber niemand zu sehen. Missmutig schloss und verriegelte er das Fenster wieder. Dann entdeckte er Mays Überbrückung. Er nahm ein Messer, und schnitt die Schnur durch, ohne die Drähte zu verletzen. Schliesslich verliess er den Raum, und zog die Tür hinter sich zu. "Das Fenster war offen, und der Alarm überbrückt", sagte er. "Er ist wohl schon weit weg." Aber da irrte er sich. 'Er' war noch sehr nahe. Als May erkannt hatte, dass die Zeit nicht mehr reichen würde, um aus dem Fenster zu fliehen, hatte sie sich einfach hinter die Tür gestellt. Es dauerte einige Minuten, bis May sich wieder zu bewegen wagte. Erst, als sie die beiden Männer die Treppe hinab gehen hörte, wagte sie sich wieder zum Fenster. Sie verband die Drähte wieder, und kletterte durch das Fenster auf die Feuertreppe. Überrascht sah sie ihren Fiat an der nächsten Kreuzung. Sie stieg die Treppe runter, und rannte zum Wagen hinüber. "Da bin ich wieder!", rief sie, als sie sich auf den Beifahrersitz setzte. Rally antwortete nicht. Sie sah May nur durchdringend an. "Äh, was ist denn?", fragte May etwas verlegen. "Warum hast du dein Handy abgeschaltet?" "Na ja, damit es nicht klingelt, während ich drinnen bin." "Hab ich dir nicht gesagt, dass du das bleiben lassen sollst?" "Schon. Aber..." "Verdammt, May, wann lernst du das endlich? Man bringt sich nicht unnötig in Gefahr." "Was heisst da unnötig? Die haben eine Alarmanlage installiert. Wenn wir die erst heute Abend entdecken würden, würden wir ganz schön in der Scheisse sitzen." "Und was macht es für einen Unterschied, ob sie dich jetzt schnappen, oder erst heute Abend?" "Sie *haben* mich nicht geschnappt." "Zum Glück nicht, nein." Rally startete den Motor, und fuhr weg. May war sauer. Nur weil Rally ein Jahr älter war, musste sie sich noch lange nicht so rechthaberisch aufführen. Da fiel ihr ein letzter Trumpf ein: "Ich habe übrigens einen Eingang gefunden." "So." Rally klang reichlich desinteressiert. Aber May liess sich davon nicht täuschen. "Beim Fenster im vierten Stock bei der Feuerleiter habe ich die Alarmanlage überbrückt. Wir können rein und raus wie es uns beliebt." Rally sagte einen Moment nichts. Dann seufzte sie. "Na schön, gut gemacht. Aber sei in Zukunft vorsichtiger." "Okay", erwiderte May fröhlich. Aber Rally blieb ernst: "Die Hauptarbeit steht uns nämlich noch bevor." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)