Jura Tripper 1 1/2 over von abgemeldet (~I'll find my day, maybe far and away... far and away~) ================================================================================ Kapitel 6: XVI. Ahnentafeln * XVII. Kuznikows Mitternachtssuppe * XVIII. Frühaufsteher -------------------------------------------------------------------------------------- Ich weiß, die Frage ist doof, aber ich kann sie mir einfach nicht verkneifen... Wen von den Kindern mögt ihr eigentlich am liebsten? Aber bitte nicht nur nach den Eltern gehen, und bitte niemanden hassen! XVI. Ahnentafeln Die nächsten drei Minuten verbrachte President damit, einen Kurs in "Bewusst atmen" zu absolvieren. "So," meinte er schließlich müde, "und was habt ihr euch dabei gedacht?" Der ganze Raum schien sie mit stummen Blicken zu durchbohren, ganz wie zu dem Zeitpunkt, als sie so plötzlich aus dem Gebüsch gepurzelt waren und die Pfadfinder sie entdeckt hatten, erinnerte sich Neesan. Die Kinder schwiegen verängstigt. President hakte nicht weiter nach, denn er wusste ebenso gut wie der Rest der Pfadfinder, dass Liam, Neesan, Sheerla und Sive nicht mehr und nicht weniger Ahnung von dem hatten, was sie soeben aufzudecken im Begriff waren, als der gesunde Menschenverstand ihnen verriet, und das ging, je nach Maßstab und Vernunftsgrad, in beträchtlich verschiedenen Richtungen. Wieder einmal war es Doc, die sich in der Lage sah, die Tatsachen ohne allzu viel emotionale Beteiligung, aber mit großer Korrektheit für alle verständlich zusammenzufassen. Ihr ?Denktum' von dem Moment an, als Sheerla erzählt hatte, dass sie aus der Zukunft kämen, schien sich seinem Ende zu nähern. "Es scheint," begann sie ruhig, "als hätten sowohl Brian und Liam - "Und Jack!" rief Young Lady dazwischen, - "als auch Sive und God sowie Gordon, Neesan und Sheerla die selben Nachnamen." Ihre grünen Augen fixierten ernst die Kinder. "Ihr habt uns doch die Wahrheit gesagt?" "Weshalb sollten wir lügen?" rief Sive aufgebracht. Sie schien sich tatsächlich zu wünschen, es getan zu haben. Beruhigend nahm Liam sie bei der Hand. "Wir haben nicht gelogen." erklärte er fest. Sheerla und Neesan nickten. Mehr gab es nicht zu sagen. "Davon bin ich ausgegangen," entgegnete Doc. Zum ersten Mal erhellte ein leichtes Lächeln ihr Gesicht. "Doch Tank, mir und auch einigen anderen seid ihr trotzdem von Anfang an seltsam erschienen - nicht, weil ihr etwas zu verbergen schient, sondern weil ihr im Gegenteil etwas verraten habt, etwas, was wir aus gutem Grund nicht begreifen konnten, wenn meine Vermutung stimmt. Nur diejenigen, die davon am meisten betroffen waren, haben nichts bemerkt..." - ihre Augen wanderten durch den Raum und eine Augenbraue hob sich - "...oder sich zumindest nichts anmerken lassen. Trotzdem muss ich euch bitten, uns die Fragen, die wir euch jetzt stellen werden, zu beantworten, ansonsten können wir nicht herausfinden, was hier nun wirklich los ist." Abwartend legte sie die Hände in den Schoß. Jetzt sprach Tank: "Ja, ich schließe mich Starch an. Bitte sagt uns offen, wer ihr seid und woher ihr kommt. Wir wollen euch nichts, keine Angst. Aber all diese Zeitreisen neigen wirklich nicht dazu, die Dinge einfacher zu machen." "Aber aufregend," flüsterte Blunder seinem Bruder zu, was nicht dazu beitrug, die Gesichtsfarbe einiger sich im Raum befindlicher Personen gesünder aussehen zu lassen. Im Gegenteil, ein gewisses Streckbank-Feeling machte sich breit. "He!" meldete sich auf einmal Snake. "Eins habt ihr aber vergessen!" Mit einem Blick baten Doc und Tank God, die prompte Faust wieder weg zu nehmen: "Er wird schon nichts sooo Schlimmes sagen..." "Nein," meinte Snake und errötete leicht, da alle ihm zuhörten, "ich wollte nur sagen, dass ihr Nerd vergessen habt. Ich meine, er hat auch den gleichen Nachnamen wie Sive, schließlich ist er Gods Bruder." "Tut das jetzt was zur Sache?" beschwerte sich God, und Nerd meinte verlegen: "Schon gut, Snake," bevor er sich wieder auf sein Game Boy Spiel zu konzentrieren schien. Er hatte die ganze Zeit gespielt, seit sie angekommen waren, wenn auch mit ausgeschaltetem Ton und offenen Ohren. "Oh... ja, da hast du natürlich recht. Nerd habe ich vergessen," gestand Doc, obwohl auch ihr nicht klar war, was das nun am Sachverhalt ändern sollte. "Aber was ist denn nun?" rief Boss. Er klang, als wären seine Zähne mit Kaugummi zusammengeklebt. Gatcha, Young Lady und Princess fuhren erschrocken zusammen, letztere ganz besonders. So lange Schweigeperioden war man von Boss einfach nicht gewöhnt. Es hatte ihm wohl tatsächlich die Sprache verschlagen. "Dazu komme ich ja gleich," beschwichtigte Doc. Aus irgendeinem Grund grinste sie, ein Gesichtsausdruck, der die anderen ansteckte und langsam aber sicher die Gruppe der Pfadfinder in zwei Hälften spaltete: Tank schmunzelte und Tiger verbiss sich mühsam das Lachen, Gatcha, mit dem Klatschgen der Frau geboren, fand das ganze ungeheuer spannend, Timid und Blunder ebenso, während andere, wie Princess, Jack und Young Lady sich noch nicht ganz sicher zu sein schienen, was sie nun davon halten sollten. Silence und Nerd konnte man beim besten Willen nicht ansehen, was sie dachten. Nur bei President, God, Boss und Snake war die Lage offensichtlich; Snake verstand gar nichts. Dem ?offiziellen' Anführer ferner war klar anzusehen, mit welch schwierigem Selbsthypnoseverfahren ("Ich bin nicht da.... ich bin nicht da...") er sich geistig gerade beschäftigte. Deutlich wie ein offenes Buch, wie DAS Buch, das seinen drohenden Untergang (so glaubte er) herbeigeführt hatte, zeigte sein verzerrtes Gesicht seinen inneren Zwiespalt: 'Oder soll ich es doch lieber mit der Vogel-Strauß-Taktik versuchen?' God sah einfach nur krank aus, und wenn ich krank sage, dann meine ich krank. Er war ganz grün im Gesicht und so schweigsam, dass man nach spätestens fünf Minuten unruhig wurde und sich fragte, warum er noch immer nicht seiner Unmut Luft gemacht hatte, ganz wie auch bei Boss auf ähnliche Art. Apropos Boss - seine Miene war nun wirklich am erstaunlichsten. Denn was bei den anderen beiden noch Charakterzug darstellte, zuckte in seinem Gesicht irgendwo zwischen der gewohnten guten Laune und Kampfgeist, krampfhaft bemüht, aus der Welt geschafft zu werden: Ein spinnenfingriges Entsetzen, das einen unbändigen Reiz zu lachen auslöste! Bei allen dreien konnte man davon ausgehen, dass sie nicht wirklich wussten, was los war, jedoch ihre Ahnungen und ihr Kombinationsvermögen vollauf genügten. Fraglich war nur, wie lange sich die Heiterkeit der anderen noch halten würde. Doc und Tank wechselten einen Blick, und Tiger nickte. Immer der Reihe nach. "Liam?" fragte das blauhaarige Mädchen. Aufmerksam sah Liam sie an. Es war mucksmäuschenstill in Manuas Keller, nicht einmal die Ratten hörte man, als Docs Mund langsam die Worte formte: "Wie heißt dein Vater?" [Klitzekleine Anmerkung der unglücklichen Autorin: Ist diese ?Spannung' nicht überflüssig? Weiß doch eh jeder längst, was kommt!] Liam schwieg. Noch einmal sah er die Pfadfinder an, sah in jedes einzelne Gesicht und erlebte dabei einige recht unspektakuläre Aha-Erlebnisse. Unspektakulär, weil er es längst wusste. Dieser verdammte dämliche Fußball hatte ihn darauf gebracht. Aber dennoch... obwohl er wusste, hatte er noch nicht Gewissheit. Es gab noch nichts, was ihm untrüglich bewies, dass er richtig lag. Eine Bestätigung. Und wenn ich jetzt einfach nichts sage? Mich weigere, etwas zu erzählen? Es ist nicht ganz einfach. Wenn sie es nun erfahren, dann werden sie es auch in Zukunft wissen. Wie sonderbar. Und was wohl noch alles geschehen würde, bis... falls sie wieder zurück nach Hause kämen? Was noch unwiderruflich in ihr zukünftiges Gedächtnis eingehen würde? Dann fiel ihm das wenige ein, was er bisher an Science Fiction Literatur gelesen hatte und er begann, sich zu entspannen. Sie, die Pfadfinder MUSSTEN einen Weg zurück gefunden haben. Denn sonst könnten er, Sive, Neesan und Sheerla nicht hier sein! Und was das Wissen der anderen anging... wenn sie es waren, wenn sie in Zukunft lebten, dann wussten sie es ohnehin. Die Gewissheit - er wählte sie. Liam nickt. "Ja," sagt er. "Er ist es. Brian." Und mit einem leisen Lächeln: "Ich wusste nicht, dass man ihn Boss nannte..." Wenn tiefste Stille noch tiefer werden kann, dann wurde sie es wohl. Die im Raum anwesenden Personen jedenfalls hörten nichts. Kein ?Bannng', ?kein ?Werbung!'. Bloß ein kleiner Ruck in der Magengrube, wie wenn man schnell eine Hügelkuppe hinauf und dann hinunter fährt. Jemand - der glückliche Vater, doch er bat um Anonymität - fuhr zusammen. Sein Entsetzen verflüssigte sich ein wenig, versickerte. ?Weiter, weiter!' sagten leuchtende Augen. Jeder Mensch ist von Natur aus neugierig. Liam sprach weiter, ohne zu überlegen. "Er ist ein guter Vater. Aber er hat sich nicht sehr verändert." Der Neunjährige lachte fröhlich, und dieses Lachen unterstrich seine Worte und machte das Bild vor ihren Augen lebendig. "Immer, wenn er von der Arbeit kommt, will er mit mir Fußball spielen. Leider spiele ich gar nicht so gern Fußball. Wir wohnen in einem Haus. Geschwister habe ich keine, jedenfalls bis jetzt nicht. Ach ja, ich bin neun Jahre alt. Er ist..." Liam überlegte - "...34. Und Mama ist 33. Wir haben auch eine Haushälterin. Sie heißt Mrs. Palmer. Und sie kocht meistens. Mama kann - " Er brach ab. Sie hingen an seinen Lippen, als sei er das wiedererstandene Orakel von Delphi. Und dennoch hatte er sich gebremst. Mit dem Gedanken an manche der Szenen, die er auf Noah beobachtet hatte, waren in ihm Zweifel aufgestiegen, ob hier und jetzt die Verhältnisse schon so klar lagen. Beim Erzählen war auch vor seinen Augen sein ?normales' Alltagsleben wieder bunt, lebendig und nah erschienen. Liam hatte Heimweh, wo immer diese Heimat letzten Endes auch liegen mochte, oder besser: Wann. "Jack ist mein Onkel. Er ist... 30. Er ist mit Garnet, meiner Tante, verheiratet. Sie sind auch meine Taufpaten. Sie haben auch..." Nein, nein! Nicht zuviel, dachte er erschrocken, als Crybaby und Young Lady augenblicklich erröteten. Niemals zuvor war Liam so ernsthaft klar gewesen, dass Wissen wirklich Macht bedeutete. Aber Macht durfte man nicht missbrauchen, sei es aus Unachtsamkeit, Übermut oder dem Wunsch des eigenen Vorteils. Liam senkte den Kopf. "Ich werde nicht mehr sagen." Verhalten, aber deutlich war ein ?Oooch' aus den Kinderreihen zu vernehmen. Und Boss, der es gar nicht fassen konnte, dass sein Waterloo schließlich und endlich überstanden war, lachte Liam zu, dass es den Jungen seltsam berührte. Auch sein Vater wirkte noch seltsam berührt genug, doch das ungewohnte Entsetzen in seinem ganzen Ausdruck war einer felsenfesten Zuversicht gewichen, die - fast - nichts erschüttern konnte. ?Das Ganze,' schienen seine türkisfarbenen Augen zu sagen, ?ist zwar immer noch reichlich komisch, aber irgendwie wird es schon ein gutes Ende nehmen.' Oh ja. Das alles hörte Liam beinahe. "Dass das wirklich Onkel Brian..." Sive machte Glubschaugen, bevor sie auf die Idee kam, die Hand vor den Mund zu nehmen. Nur unauffällig bleiben! Wer wusste schon, wo der Blitz als nächstes einschlagen würde? Im Gegensatz zu Sive schienen andere Mitglieder der Gruppe eine weitaus genauere Vorstellung davon zu haben, wen es als nächstes treffen würde. Nachdem Liam geendet hatte, war God immer hibbeliger geworden. Unablässig schob er einen von Manuas Tellern vor seinen Füßen hin und her. Ein Akt der Selbstzerstörung, die sich im ruhelosen Herumkauen auf seiner Unterlippe der Außenwelt offenbarte, verriet seine angespannte Lage: God zermarterte sich das Hirn, ohne auf einen Ausweg zu kommen. Da gab's nur eins: Snake musste wieder einmal herhalten. Durch die altbewährte Kopfnusstaktik wurde er unmissverständlich darauf aufmerksam gemacht, dass man ihn brauchte, jetzt und nicht später. "God, was ist denn?" fragte Snake verwundert und rieb sich den Kopf (eine Bewegung, die ihm mittlerweile fast schon in Fleisch und Blut übergegangen war). Falls er enttäuscht war, von dem spannenden Geschehen ringsum abgelenkt worden zu sein, so ließ er es sich nicht anmerken. Lediglich ein "Warum hörst du nicht zu, was Liam und Doc erzählen? Das würde dich bestimmt aufheitern!" äußerte er in wohlgemeinter Absicht. "Schwachkopf!" würgte God hervor und wurde noch eine Spur grünlicher. Er hörte sich an, als wäre er im Stimmbruch, obwohl er den eigentlich längst hinter sich haben musste. Erst jetzt wurde Snake klar, dass da etwas nicht stimmen konnte. Aufmerksam musterte er seinen Freund, bis ihm die Erleuchtung kam: "God! Ist dir etwa schlecht?" Voll Sorge schlug er die Hände zusammen. "Nein, wie kommst du denn schon wieder darauf! Ich tu nur so! Hör mal," God beugte sich vor und deutete fahrig irgendwo in die Richtung zwischen Sive und Doc, "wenn ich dir ein Zeichen gebe, dann lässt du dir was einfallen!" Wieder hob Doc zu sprechen an, die von der Gruppe stillschweigend als Wortführerin akzeptiert worden war. Immerhin, das musste man President und Boss als Entschuldigung für ihre Unpässlichkeit zugestehen: Sie hatten im wahrsten Sinne des Wortes Familienangelegenheiten zu regeln. Die erste, die den Mund wieder aufkriegte, war Tiger. "Sag mal, Liam," meinte sie gemächlich, "und du hast ihn echt nicht erkannt? Nach deiner Schilderung muss die Verhaltensauffälligkeit doch geradezu ins Auge springen!" "Hättest du?" kam die Gegenfrage, die es an Trockenheit durchaus mit Tigers aufnehmen konnte. Crybaby und Young Lady, in der Ecke sitzend, beäugten einander scheu und ziemlich verlegen, ganz so als sähen sie sich zum ersten Mal. Was unter dem Aspekt der letzten fünf Minuten ja auch irgendwie stimmte. Nerd spielte immer noch Game Boy, und God stieß Snake in die Seite, das tat anscheinend ziemlich weh, denn Snake sagte "Aua" und starrte God verständnislos an. "Sive." erklang bereits Docs Stimme, verhalten zwar, doch so durchdringend, dass alles augenblicklich verstummte. Es war klar, dass sie während dieser ?Zeremonie' eine Sonderrolle voller Autorität angenommen hatte. "Ja? Was?" platzte Sive heraus und streckte Doc vorsichtshalber die Hände entgegen, ich hab nichts gemacht!! Wieder stieß God Snake in die Seite, noch eindringlicher diesmal. Snake fuhr ungestört fort, mit glänzenden Augen ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu blicken. "Sive, ich würde dich gern fragen - " hob Doc zum zweiten Mal an, unterbrochen durch einen Schmerzenslaut aus der Menge: "Au!! - Ich meine, ich... ich..." Hilfesuchend sah Snake um sich, als God ihm etwas zuflüsterte. "Was?" kam die kleinlaute Antwort. "Jetzt gebt doch mal Ruhe!" schaltete sich Tiger ein und drehte sich in ihrem Kinosessel um - pardon, ihr wisst was ich meine -, unterstützt von weiteren ungeduldigen Rufen: "Ja! Wir wollen zuhören!" "Sive, wir - " versuchte Doc erneut vergeblich, sich verständlich zu machen. "W-was?" stotterte der unglückliche Snake, "Muss das sein...?" God flüsterte noch lauter, und es hörte sich ziemlich nach Alarmstufe Rot an. "Ach so, ja, ja - Doc!" Snake verschluckte sich, winkte. "Was denn?" Entnervt fuhr Doc herum. "Ich... äh.... äh... ich" Snake verzog das Gesicht à la ?Muss ich?', wie James zu Miss Sophie in ?Dinner for One', schielte noch einmal zu God, der nicht ?Just to please me!' entgegnete, und verkündete resigniert: "...muss aufs Klo!" Augenblicklich wurde fassungsloses Stöhnen neben ihm laut: So doch nicht! "Ja?" meinte Doc gleichmütig, "Dann geh," um sofort das Gesprächsthema Dreh- und Angelpunkt wieder aufzunehmen: "Sive..." Mit einem hellen Klirren zersprang etwas auf dem Steinfußboden. Mehrere der im Raum anwesenden Personen fuhren bei diesem Krach, der wie ein Donnerschlag auf die sensiblen Trommelfelle einschlug, erschrocken zusammen, so hoch war die Kurve der Anspannung in den letzten Minuten geklettert. Erst als sie und God die Scherben ihre Teller, die Manua der Gruppe ausgeteilt hatte, mehr oder weniger mürrisch wieder aufgesammelt hatten, teilte Sive Doc und dem Fußboden beflissen etwas mit, das sich wie: ?Schande!' und noch was davor anhörte, im Klartext aber wohl die Ablehnung einer Auskunft ohne Anwalt bedeuten sollte. Doc seufzte: "Wie du willst, aber bitte überleg' es dir nochmal, ja? Dann werde ich jetzt...", wurde aber schon wieder unterbrochen und es war nicht Snakes Blasenschwäche, sondern Tiger, die voll boshafter Vorfreude, dass es nun dem dritten im Bunde endgültig an die Alimente gehen würde, laut zu lachen anfing. Dann hatte Sheerla genug von all dem Theater, bei dem man sich anstellen musste, um seine Eltern zu finden, sprang auf, zog Neesan mit sich und rannte schnurstracks auf das lachende rothaarige Mädchen von sechzehn Jahren zu, mit der Begrüßung: "Mama! Ich wusste, dass du es bist! Oh Mami! Ich hab dich so vermisst..." Dabei brach sie allen Ernstes in Tränen aus. Tigers Lachen wurde blechern, dann hölzern, ging kurz darauf über in einen Laut, der dem Aneinanderreiben von Knochen ähnelte, bis es erstarb und ihre Stimmbänder sich verknotet zu haben schienen. Ihr Gesicht nahm erst einen roten, einen blassen und schließlich einen gräulichen Farbton an. Durch und durch fassungslos ächzte sie: "Wie bitte?" "Mami!" schluchzte Sheerla und streckte die Arme aus, "Mami! Du weißt das zwar nicht, aber du bist unsere Mami und ich wusste es von Anfang an, auch wenn ich's eigentlich überhaupt nicht gemerkt hab, oh Mami!" Und dann das obligatorische: "Stimmt's, Neesan?" "Mami!" echote Neesan, taumelnd vor Glück, "Mami!" Seine Stimme war ganz kratzig, als er herumwirbelte: "Papi!" President bot einen Anblick zu Recht beleidigter Entrüstung (er fühlte sich irgendwie übergangen) und Tiger war einmal in ihrem Leben sprachlos, bis beider Herz siegte. Neesan fiel President um den Hals, Sheerla flog in Tigers Arme. Erst in diesem Moment schien den bedröppelten Eltern klar zu werden, was das nun eigentlich bedeutete und sofort schossen sie Blicke aufeinander ab, die besagen sollten: ?Das ist meins! Du hast damit überhaupt nichts zu tun!', wobei aber nichtsdestotrotz noch eine Menge mehr mitschwang, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollten. Während der eine ein rothaariges, der andere ein dunkelblondes Kind herzte, stellte Boss grinsend fest, ganz so, als sei das alles sein Verdienst: "Und wieder eine Familie glücklich zusammengeführt! Na seht ihr!" Er hatte gut reden. Denn eine Waise war immer noch übrig. "Und du, Sive?" fragte Timid besorgt. "Ich? Ich bin ein Kuckucksei!" knurrte Sive, die sich so allein und verlassen fühlte wie damals vor ein paar Tagen, als sie als einzige partout nicht vom Dreier hatte springen wollen. "Das glaub' ich nicht," schmunzelte Tank. Es war nicht böse gemeint, doch Sive funkelte ihn mit einem Blick an, der eindeutig Verwandtschaft erkennen ließ. "God?" Doc schüttelte den Kopf. Müde war kein Ausdruck. Es war vermutlich inzwischen halb drei Uhr Erdenzeit. "God?" fragte Boss, in seinen blauen Augen blitzte der Schalk. "Himmel, das muss ein Traum sein," brabbelte Tiger zum wohl hundertsten Mal, bevor sie sich aufsetzte, ohne Sheerla loszulassen: "God?" Listig wandte sie sich an ihre Tochter. Die verspürte einiges Mitleid für ihre Freundin Sive, die dort ganz allein der Übermacht ausgesetzt war, aber selbst wenn sie gewollt hätte, hätte Sheerla Tiger nichts sagen können, denn der Grund war: "Kenn' ihn nicht!" "God?" staunte President mit Neesan auf dem Arm und rieb sich die Augen: "Wer hätte das gedacht?" "God?" meinte Princess in jenem unnachahmlichen Tonfall, den jede Frau, die etwas auf sich hält, annehmen kann. "God?" quietschte Gatcha, und es war beim besten Willen nicht herauszuhören, ob die Anteilnahme in ihrer Stimme dem Vater oder der Tochter galt. "God!" entschlüpfte es Snake. ?Level 3!' war das Synonym, das Nerd hierfür wohl gebraucht hätte, wäre er je zum Sprechen aufgelegt gewesen. Aber er spielte, spielte die ganze Zeit. Draußen auf dem Gang war nun ein leises Rattern zu vernehmen, wie von Rädern, die über einen unebenen Steinuntergrund rollten. Langsam erhob sich God, grüner denn je. Sein Gesicht verriet das halbe Dutzend Orte, an denen er sich in diesem speziellen Moment weitaus lieber befunden hätte, aber das kategorische ?Beam me up, Scotty!' würde auf dem mittelalterlichen Planeten der Dinosaurier wohl in neun von zehn Fällen wirkungslos bleiben. "Ähem....", er räusperte sich mit einer begreiflichen Scheu, die Dinge beim Namen zu nennen, "ähm..." Auf der fieberhaften Suche nach Ablenkung huschte sein Blick durch den Raum, blieb an Sive hängen. Plötzlich schien er sich zu fassen. Er nahm die Hände aus den Hosentaschen, tat sie nach einem kurzen Moment Überlegung (wohin damit?) doch wieder rein und wandte sich spontan an die versammelten Pfadfinder: "Ihr glaubt doch wohl nicht im Ernst, dass so ein kleines Biest MEINE Tochter ist?" Die Blicke seiner Mitverschollenen, ob groß ob klein, zeigten deutlich, für WIE wahrscheinlich sie diese Möglichkeit hielten. "Das ist doch..." God schluckte, man sah ihm an, wie hart er grübelte, "Totaler Schwachsinn... äh..." - er wischte sich den Schweiß von der Stirn - "Schwachsinn..." - er verschränkte die Arme - "Schwachsinn..." - er faltete sie wieder auseinander - "...Schwachsinn!" - er kratzte sich am Kopf - er verkniff sich ein weiteres ?...ihr wisst schon...' Gods Schwachsinn hatte stets ein Problem: Er war so plausibel. Dieser Meinung schien er selbst jedoch ganz und gar nicht zu sein. "Verdammt nochmal, ihr seid ganz schön blauäugig! Woher wollt ihr wissen, dass die Kinder euch nicht bloß belogen haben? Es braucht keinen besonderen Grips, um aus dem Bordbuch unsere Namen herauszufinden!" hielt er den Pfadfindern vor, mit den Argumenten auch um eine Portion Fassung reicher. Boss sah ihm zu, wie er tobte, und verzog den Mund. "Jetzt mach aber mal halblang! Niemand nennt hier meinen Sohn ungestraft einen Lügner!" Entgeistert starrte God ihn an. "Deinen Sohn? Du scheinst dich ja sehr schnell damit abgefunden zu haben!" "Sich mit Liam abzufinden ist auch nicht schwer, er kommt ja ganz nach mir!" erwiderte Boss überzeugt. "Boss," mahnte Liam verstimmt, die Anrede ?Papa' kam ihm einfach noch nicht so recht über die Lippen. "Und überhaupt," fuhr Boss fort, "in deiner Haut möchte ich natürlich nicht stecken." Er schielte zu Sive, die tat, als sei sie ganz und gar taub, ihre Miene seltsam starr, wie von einer Tonfigur: "Das hast du dir eben selbst eingebrockt!" Liam nahm sich vor, mal ein ernstes Wörtchen mit Boss zu reden. Immerhin waren er und Sive Freunde, und als Vater hatte dieser Kerl neben ihm wahrlich noch eine Menge Erziehung nötig! "Was kann ich dafür, was ich in Zukunft getan habe?" brüllte God. Nichtsdestoweniger klang es kläglich. "Ihr schlaucht!" schrie Sive im Hintergrund und stürzte sich an Liams Seite. "Oh, wenn man's genau nimmt...", Boss grinste, sollte er es sich anders überlegen?, "...Nichts. Aber Vererbung ist alles. Und an deiner Vorbildfunktion könntest du langsam wirklich mal arbeiten." God holte tief Luft, um etwas zu entgegnen, das sich gewaschen hatte, kam aber nicht mehr dazu, weil die Tür aufflog (und beinahe Silences Finger eingeklemmt hätte). Und für den nächsten Akt war - mit wenigen Ausnahmen - jedem von ihnen das Wort abgeschnitten. Das Rattern auf dem Flur, das in den letzten Minuten immer lauter geworden war, verstummte abrupt und eine Stimme, die dem Telephondienst eines Pizzaservice allergrößte Ehre gemacht hätte, verkündete den Pfadfindern die verheißungsvolle Nachricht: "Essen ist fertig!" Er grinste, indem er den rechten Mundwinkel schief hochzog und eine Zahnlücke sichtbar wurde. [Sorry, Prissy, ich weiß, dass das geklaut ist...!] XVII. Kuznikows Mitternachtssuppe Er, das war ein schlaksiger junger Mann von höchstens 20 Jahren mit karottenrotem Haar von einem so intensivem Orange, dass man ihn ohne weiteres als Nebelboje hätte anheuern können, einem von Sommersprossen übersätem Gesicht mit - neben seiner farbenfrohen Erscheinung - höchst bleicher Hautfarbe und einem Mundwerk, das vergeblich seinesgleichen suchte. Sein Name lautete Kuznikow, wie er jedem der Pfadfinder wortreich mitteilte und dabei beinahe vergaß, das Essen, welches in einem Topf auf dem Wägelchen ölig der Ausgabe harrte, zu verteilen. Auf die Frage, wer es gekocht habe, antwortete er mit einem prahlerischen "Na, ich natürlich!" und darauf folgte ein Vortrag, der bei seiner Einstellung als Küchenhilfe im Hause des Bürgermeisters von Lupar anfing und mit seinen Karrierechancen endete. "Und Manua hat dich wirklich eingeweiht? Ich meine, du weißt, wer wir sind?" fragte Boss ungläubig und President verfiel in Hüsteln. "Aber sicher, ja doch, warum?" plapperte das achte Weltwunder munter (dass es drei Uhr morgens war, schien ihn nicht zu stören), "ihr kommt aus einer anderen Welt und seid jetzt hier!", während er sich gemächlich in Richtung Tür bewegte. "Äh... ja." Simpel auf den Punkt gebracht, war das wirklich alles. "So, war das wirklich alles? Na ja, tschüs dann!" Und schneller als hinter einer Sternschnuppe, wenn auch nicht so hübsch anzusehen, schlug die Tür hinter ihm zu. Diesmal waren es Young Ladys Finger, die fast malträtiert wurden. "Ähem... der hat das Reden wohl erfunden, was?" räusperte sich Nerd, bevor er sich wieder seinem Game Boy zuwandte, den er während der 10-Sekunden-Kuzni-Attacke tatsächlich beiseite gelegt hatte. "Mag sein," begann Tank und rieb sich die Hände, "aber jetzt gibt's erstmal Essen! Ah!" Letzteres galt den zu erwartenden Wohlgerüchen, als der dickliche Junge flink den Topfdeckel abnahm und mit dem Kochlöffel im Topf herum zu schaben begann. "Santa Maria, was ist denn das für eine Pampe!" hallte es hohl. Die Wohlgerüche waren offensichtlich ausgeblieben. "Das muss dringend überarbeitet werden!" So nannten Köche wohl das, was für Schriftsteller gewöhnlich Nachwürzen heißt. "Immer rein in den Topf damit, dalli dalli," rief Tank den Kindern zu, die angewidert in ihre Holznäpfe blickten, stand auf und kam mit einem prallgefüllten, hellgelb wattierten Rucksack wieder, dem man schon von weitem ansah, dass er einfach Tank gehören musste. "Und was machst du jetzt?" fragte Liam interessiert, der wie alle anderen seine - Kuzni nannte es: Mitternachtsuppe - brav und erleichtert in den Kochtopf zurück geschüttet hatte. "Ha, Junge, das wirst du sehen!" lachte der Koch, offensichtlich in seinem Element, "oder sollte ich dich Boss Jr. nennen? Aber nein, ich will niemandes Persönlichkeit missachten..." Dies und die Namen einer Unzahl von Kräutern und Gewürzen, die der kulinarisch eher unbedarfte Liam noch nie gehört hatte, murmelte Tank, während er Dose um Dose und Flasche um Flasche aus den Tiefen seines Rucksacks beförderte. "Deine Mutter kann wohl nicht kochen?" "Was?" entfuhr es Liam. Ein heißer Schrecken durchfuhr ihn, doch die beruhigende Antwort kam sofort: "Weil du so dünn bist - da ist es ja!" "Was?" wiederholte Liam, diesmal weitaus ruhiger und von einer unbegreiflichen Neugierde gepackt. "Das Herzstück der italienischen Küche!" stellte Tank befriedigt fest und hielt eine große Flasche hoch, in der eine gelbliche Flüssigkeit wogte: "Nonnas Augapfel!" "Aha," nickte Liam. Ein kurioser Gedanke begann in seinem Kopf zu wachsen... "Tank?" "Hm?" Liam holte tief Luft. "Könntest du mir das beibringen?" "Dir beibringen?" Tank musterte Liam von Kopf bis Fuß, als wollte er verbogene Talente in ihm entdecken. Dann wandelte sich seine Miene in ein Lächeln: "Warum eigentlich nicht?" "Gut," nickte der neuernannte Kochschüler aufgeregt. "Und was muss ich tun?" "Tun?" Tank schien nicht ganz zu verstehen. "Ach, tun! Tun musst du: zugucken, zuhören, merken - und vor allem: Kochen!" "Kochen," echote Liam staunend. Das hörte sich so einfach an... "Es ist einfach, wie jede Kunst," erklärte Tank, - kurz stellte sich Liam die Frage, wer bei ihm zuhause Kochen wohl als Kunst bezeichnet hätte - "alles was du brauchst sind Fantasie, Fingerspitzengefühl und die entsprechenden Zutaten. Am Anfang kannst du dich an Kochbüchern orientieren, doch später wirst du merken, dass du das gar nicht mehr brauchst: Du tauschst Rezepte aus, wandelst sie ab, probierst, würzt nach, und schließlich erfindest du sie." Liam nickte wieder, mit offenem Mund. "Es ist herrlich," fuhr Tank fort, während er 'Nonnas Augapfel' entkorkte, einen Schuss in die Brühe gab und umrührte, "am Anfang werden Misserfolge natürlich nicht ausbleiben," er wischte ein wenig Olivenöl vom Rand des Topfes, "aber als Faustregel gilt: Gut ist, was du selber gern essen würdest. Alles andere kannst du natürlich anderen auch nicht vorsetzen, oder?" "Klingt logisch," meinte Liam. "Finde ich auch. Spirituskocher bitte." Liam reichte ihn Tank, dieser zündete gekonnt die Flamme an und wandte sich wieder dem Jungen zu: "So. Das wären die Vorbereitungen. Jetzt kommen die Gewürze: Oregano, Basilikum, Rosmarin, getrockneter Knoblauch - ein unpraktisches Zeug, aber was will man machen, ist halt Camping -, und.... was war das noch gleich?" "Pfeffer und Salz?" schlug Liam schüchtern vor. Tank fasste sich an die Stirn. "Ach ja! Genau das war es! ...Pfeffer, Salz, Thymian..." Bis in seine Träume begleiteten Liam diese Worte. Was immer die aufgewühlten Gemüter noch bewegen mochte, zwei dringende Faktoren hielten unerbittlich dazu an, alles, was es noch zu sagen gab, zu vertagen: Dies waren einmal der Hunger und zweitens die Müdigkeit. Es war ihr erster Abend in Manuas Haus und nach den nervenaufreibenden Ereignissen der letzten Tage, Stunden, Minuten waren die Pfadfinder einfach nur erledigt. Für alles andere blieb später noch Zeit. So aßen sie also in aller Eile die Mitternachtssuppe, die Tank von einer geschmacklosen Masse zu einem Meisterwerk umkreiert hatte, und fielen fast alle unmittelbar in die Schlafsäcke, nachdem der letzte Löffel gegessen war. Fürs Spülen hatte keiner mehr den Nerv noch die Höflichkeit übrig, abgesehen davon hatten sie ohnehin nicht die geringste Ahnung, wo es hier Wasser gab. Liam widerstand dem Wunsch, sich in Princess' Nähe zu legen, denn er wollte nicht für eine weitere Podiumsdiskussion zwischen Boss und God verantwortlich sein. Da die Kinder aus verständlichen Gründen keine Schlafsäcke hatten mitnehmen können, wurden sie von ihren neuen-alten Eltern pflichtbewusst mit allem nötigen versorgt, was dazu führte, dass Sive beinahe auf dem Boden hätte schlafen müssen, wenn nicht Snakes gutes Herz anders entschieden hätte. Nachdem Tiger Neesan und Sheerla friedlich schlummernd in ihrem Schlafsack entdeckt hatte, hatte sie sich gerührt dünn gemacht, doch President war durch nichts und niemand dazu zu bewegen, es seinen Kindern gleichzutun. Kaum eine halbe Stunde, nachdem Kuzni hereingestürmt war, war nach und nach alles Stimmengewirr verstummt, und nur noch friedliches Schnarchen in allen Variationen und Tonlagen erfüllte den Raum. Sive konnte nicht schlafen. Sie war sich sicher, dass sie nicht die Einzige war, dazu war einfach zu viel passiert, doch mit der ihr eigenen Einbildungskraft wiegte sie sich in dieser Illusion, um so das höchstmögliche Maß an Selbstmitleid erreichen zu können. Natürlich war es wieder einmal Liam, der ihr das vermasselte. "Nicht weinen," flüsterte ihr ihr Cousin-um-ein-paar-Ecken tröstend zu. Auch wenn er im Gepäckdschungel zu weit entfernt lag, um ihr die Hand geben zu können, spürte Sive die Wärme seiner Worte. "Tu ich ja gar nicht," verteidigte sie sich unter Tränen - Liam hatte im wahrsten Sinne des Wortes das Fass zum Überlaufen gebracht - "Es ist nur - ich fühl' mich, als wär' der Weihnachtsmann gekommen und hätte euch allen etwas mitgebracht, nur mir nicht." "Sive... das wird schon werden. Ganz bestimmt. Komm, wir sind doch bei dir." Sive nickte, doch zum ersten Mal in ihrem Leben wusste sie nicht, ob sie Liams Worten wirklich Glauben schenken wollte. Sie vermisste ihre Mutter, mit solch einer brennenden Sehnsucht, wie sie sie nicht einmal an ihrem ersten Abend auf Noah verspürt hatte, und selbst der Marmorelefant um ihren Hals vermochte nichts daran zu ändern, egal wie fest sie ihn auch umklammerte. "Deine Mutter ist hier," flüsterte sie Liam zu, "warum hast du nichts gesagt?" "Ich wollte nicht für Aufruhr sorgen," meinte Liam mit gesenkter Stimme, "auch wenn es mir schwer fiel. Aber sie ist mit deinem Vater verlobt, hast du das gewusst?" "Natürlich wusste ich das!" entgegnete Sive hitzig, "Aber der Typ da ist nie und nimmer mein Vater!" Heftig schluchzend drehte sie sich in ihrem Schlafsack zur Seite, und außer einem leisen "Gute Nacht, Liam," war nichts mehr aus ihr herauszubekommen. "Sive," seufzte Liam ratlos, "Sive... schlaf gut, wenigstens das, ok?" Sive nickte (er hörte es am Rascheln ihres Kissens) und versuchte es. XVIII. Frühaufsteher Sive wachte auf, weil ihr der Magen knurrte. Seufzend kniff sie die Lider zusammen, bloß nicht die Augen aufmachen... Sie hatte so einen schönen Traum gehabt. Sie war zuhause gewesen... Obwohl das Licht durch den Türspalt nur so weit reichte, dass ein schummriges Halbdunkel herrschte, gelang es Sive nicht länger, sich der Realität zu verschließen. Sie war nicht zuhause. Sie war hier. Langsam zählte sie bis zehn. Erst dann hatte sie sich soweit durchgerungen, die Augen aufzureißen, die Decke wegzukicken und mit einem Ruck hochzukommen, um der Welt guten Morgen zu sagen. Und was tat diese Welt? Schlief! Und zwar tief und fest, wie Sive empört feststellte, als sie sich forschend umblickte. Da kann ich ja auch gleich wieder weiter schlafen, dachte sie lustlos, aber Pustekuchen. Nicht, nachdem sie jetzt wach war. Außerdem, da war ja immer noch ihr Magen. Sie musste unbedingt was essen! Etwas lebhafter als zuvor puzzlete Sive sich aus ihrem Sponsored-by-Snake-Schlafsack und tappte barfuß hinüber zu dem großen Kochtopf. Ein energisches Klopfen mit dem Kochlöffel bestätigte ihre Befürchtung: Leer. Diese Fressbande gestern nacht hatte wirklich nichts übrig gelassen! Na gut, dann eben nicht. Sinnend wanderte Sive durch den Kellerraum, oder besser gesagt: Das Verlies. Das war nämlich die Sorte Einrichtung, der ihr Aufenthaltsort in ihrer Vorstellung immer ähnlicher wurde. Sie war ein naturverbundener Mensch, brauchte Licht! Luft! Sonnenschein! Stattdessen hatte sie Steinwände, Mief und Augenschäden. Trotz ihrer Abneigung gegen kleine flatternde Viecher konnte sie gut verstehen, weshalb Zans lieber in den oberen Räumlichkeiten von Manuas Haus campierte, während sie sich hier unter Tage die Augen ruinierten. So was wie Noah hätte sie sich freiwillig garantiert nie zum Urlaubsziel gewählt. Aber, und das war die Schlussfolgerung, mit der nicht nur Sive seit zwei Tagen drei Viertel ihrer Gedankengänge beendete, sie waren hier, da gab es nichts zu machen. Hier in diesem feuchten Kellerloch, und schliefen. Während sie sich noch intensiv mit der Frage abmühte, warum das so war, trat sie mit ihren nackten Füßen beinahe auf etwas, das sich bei genauerem Hinsehen als Neesans Hand entpuppte. Sofort wisperte Sive dem Schlafenden, der da eng an seine Schwester gekuschelt lag, ein schuldbewusstes "Tut mir leid" zu. Neesans Entgegnung war ein verschlafenes Piepsen, das den Lauten eines Jungvogels ähnelte. In einer fließenden Bewegung nahm er seine Hand aus der Gefahrenzone und begann, selig am Daumen zu nuckeln. Sive drehte sich um, um nach Liam zu sehen. Auch er lag in unruhigem Schlaf, das Gesicht angespannt und die Stirn ein wenig gerunzelt, als beschäftigten ihn heimliche Sorgen. Mit einem gedämpften Seufzer krümmte er sich zusammen und rollte sich dann auf die andere Seite. Wieder wandte Sive den Kopf und betrachtete ihrerseits nun Sheerla, die ihrem entrücktem Lächeln nach zu schließen wohl gerade einen schönen Traum hatte, genau wie Sive noch vor ein paar Minuten. Ob sie das gleiche träumten wie sie, hier und heute oder morgen und in Zukunft? Wo waren sie in diesem Moment, wie nah lag dieses Anderswo? Sive konnte es nicht sagen. Das Gefühl, im Regen zu stehen, mit nicht mehr als einem T-Shirt bekleidet, und nass zu werden, ohne sich abschirmen zu können, breitete sich in ihr aus. Tropfen für Tropfen. Als sie die drei so unterschiedlichen Gesichter zu ihren Füßen betrachtete, stieg plötzlich eine Woge haltloser Liebe in ihr auf, wie Mütter sie manchmal fühlen, wenn sie ihren Kindern beim Einschlafen zusehen. Übermächtig wollte sie aus ihr heraus sprudeln und die Oberhand gewinnen. Fast ohne dass sie es merkte, begann ein Lächeln ihr ganzes Gesicht zu erleuchten wie das Innere einer Laterne. "Ist ja gut," murmelte Sive leise, ganz in sich gekehrt, "schlaft ruhig. Wenn ich..." Entsetzt unterbrach sie sich. Sie hatte doch nicht etwa Selbstgespräche geführt?! Ach nein, beruhigte sie ein inneres Stimmchen, du hast mit Neesan, Sheerla und Liam gesprochen. Dann war ja alles gut. Apropos - die schliefen doch! Ungehalten über sich selbst - wenn das einer gehört hatte! - sah Sive in die andere Ecke und ihre eben noch weichen Züge verhärteten sich augenblicklich. God und Snake schliefen, ob anscheinend oder auch nur scheinbar wusste sie nicht, und es interessierte sie auch nicht, oh nein, und daneben lag Nerd, das heißt, er lag nicht da, sondern nur sein leerer Schlafsack. Oh. Noch ein Frühaufsteher. Wenn der sie nun gehört hatte? Aber nein, Nerd war nicht im Raum, er war bestimmt raus gegangen. Und das würde sie jetzt auch tun. Da war es wenigstens heller. In den Gängen war es tatsächlich heller, erstens, weil durch alle Ritzen der Tag schimmerte und zweitens, weil jemand - Manua oder einer ihrer Angestellten - auf dem Flur Öllampen entzündet hatte, die in langen Halterungen an der Wand steckten und von Sive zuvor nicht bemerkt worden waren. Mit mittlerweile hellwachen Augen nahm sie sie wahr und überlegte dabei, was sie jetzt tun sollte. Sie war nicht wirklich ungeübt darin, sich vormittags zu beschäftigen. Sive gehörte von klein auf zu den Menschen, die immer zu spät ins Bett gehen und zu früh aufstehen. Das hatte schon im Kindergarten angefangen, als alle anderen bereits um sieben Schlafenszeit hatten, sie selbst aber erst um neun, sich mit dem Erlernen der Grundschuluhr noch weiter gesteigert und sollte hier auf Noah anscheinend seinem Höhepunkt entgegen streben. Sie brauchte einfach nicht viel Schlaf, da es zu ihrer Befriedigung mehr als genug Möglichkeiten gab, einen Vorvormittag auszufüllen. Zum Beispiel blätterte sie in ihrem Geheimnisalbum oder dachte einfach ein bisschen über Gott und die Welt nach. Im Moment fehlte ihr allerdings sowohl das Geheimnisalbum als auch die Laune, sich mit God, der Welt & Co auseinanderzusetzen. Dennoch schien es, als habe das Schicksal ihrer Laune zum Trotz vor, sie mehr oder weniger gerade dem auszusetzen. Sive spazierte gerade barfuß den Gang rechts des Verlieses entlang und gruselte sich, weil der Steinboden sich so eklig kalt anfühlte, als wie aus dem Nichts auf einmal eine quäkende Melodie an ihr empfindliches Ohr drang. Was war das? Eine noahnische Rollenspiel-Party, die hier in Manuas Keller den Fortress-Part abzog? Spaß beiseite. Sive verhielt im Schritt, die Ohren gespitzt. Nachdem sie eine Weile gelauscht hatte, bescherte ihr Assoziationsvermögen ihr nach und nach das lebhafte Bild eines weiteren Frühaufstehers, der da um die Ecke an der Wand hockte und kleinen Monstern den Gar ausmachte, begleitet von Flüchen bzw. Triumpfrufen (je nachdem) und jener Qualmusik. Da saß Nerd also. Oh Mann, die Game Boys damals waren echt Schrott gewesen, gemessen an der Tonqualität. Heute - und das hieß für Sive 2013 - gab es wirklich bessere Teile. Sie hatte zwar erst einmal einen haben wollen, doch nachdem ihre Eltern das ungewohnt streng und kompromisslos abgelehnt hatten, war nach einer Zeit des Schmollens ihr Interesse geschwunden. Liam besaß zwar einen, aber auch er rührte das Ding kaum an. Viel lieber waren er und Sive draußen, fuhren Inline Skates oder kletterten auf Bäume. Aber Nerd spielte häufig, ja - sie dachte nach, wie oft sie ihn gesehen hatte und korrigierte sich - meistens, nein, öfter - eigentlich immer. Das war es, was Sive an frühen Morgen so mochte: Man kam auf die entferntesten Gedanken, konnte den Leser langweilen und wurde noch nicht mal bestraft. Damit aber nun endlich mal etwas Action in diesen ereignislosen Vormittag einbrach, würde sie ihre Aufmerksamkeit eben dem einzig halbwegs interessanten Lebewesen widmen, das sie entdecken konnte. Geräuschlos presste sie sich an die Wand und lugte um die Ecke. Sives Assoziationsvermögen war anscheinend recht fit. Nerd saß unter einer der Öllaternen, die Beine angezogen und den Rücken an die Wand gelehnt. Außerdem sah er nicht aus, als hätte er die letzte Nacht viel geschlafen. Wie lange er wohl schon hier sitzen mochte? Zum ersten Mal sah Sive ihn sich genauer an, und sie musste wahrhaftig zweimal hingucken. Nerd hatte so etwas... Ausdrucksloses. Rotblondes, lockiges Haar und im Gegensatz dazu eine merkwürdig blasse Haut, die im Lampenlicht noch ungesünder schien, Augen von einem warmen Braunton, deren Farbe, stellte Sive fest, gar nicht so leicht zu erkennen war, denn er hielt sie fast ständig gesenkt, zu dem, was er in Händen hielt. Keine hervorstechenden Merkmale, die sich im Gedächtnis verhakten, mit Ausnahme eines ständig piepsenden Game Boys. Doch selbst dieser war grau. Anstatt Nerd hätte der Spitzname dieses Jungen da genauso gut Game Boy lauten können, gemessen an seiner Präsenz. Ja. Unwillkürlich musste Sive gähnen und nahm schnell die Hand vor den Mund, wohl wissend, dass dieses Theater völlig überflüssig war. Sie brauchte sich wirklich keine Mühe geben, leise zu sein. Ebenso gut hätte eine Nashornherde vorübertrampeln können, Nerd würde sie nicht mehr als flüchtig wahrnehmen. Es war einfach todlangweilig. Dieser Typ saß da und spielte und spielte und spielte, und sie langweilte sich. Doch je länger Sive ihn beobachtete, desto überraschter merkte sie, dass sein Gesicht seiner ganzen Erscheinung widersprach. Da war nichts Ausdrucksloses. An ihm ließ sich tatsächlich der Spielverlauf ablesen. Sive spürte geradezu seine angespannte Konzentration - vielleicht war ihm das Spiel so wichtig, dass es tatsächlich all seine Aufmerksamkeit beanspruchte. Irgendwie unheimlich, dachte sie, ihre Schulterblätter zogen sich leicht zusammen. Ohne dass sie es merkte, griffen ihre Finger um die Ecke und Sive sah noch genauer hin. Irgend etwas fesselte sie an diesem Bild, absurd, ja, wahrscheinlich die Faszination des unterbeschäftigten Geistes. Und dann - Sive traute ihren Augen kaum - lächelte Nerd. Ja, tatsächlich - er lächelte. Kein Zweifel, er war am Gewinnen, man sah es ganz deutlich. Seine Hände bezeugten es. Vorhin hatte er hektisch Knöpfe gedrückt, gepaddelt, um nicht unterzugehen - jetzt schwamm er. Wie Fische im Wasser huschten seine blassen Finger über die Tasten, steuerte er mit einer Leichtigkeit, einer Geschwindigkeit, wie nur jahrelange Übung sie brachte. Wie lange? Anstatt ihr Unbehagen zu zerstreuen, traf dieses Lächeln Sive mit voller Härte. Beklemmung streifte sie wie ein eiskalter Hauch. Das Mädchen aus der Zukunft war zu versunken, um mit der uralten Symbolik der Märchen diesen Hauch als den Atem dessen zu erkennen, was nahte. Nerd lächelte - ja, aber wie! Selbst dieser Ausdruck der Freude hatte bei ihm etwas Hohles, schien wie ein Passbild, gestellt und unecht, obwohl - da gab es für Sive keinen Zweifel: Dieses Lächeln war echt, denn es spiegelte sein Gefühle wider. Es erinnerte Sive seltsam an die starren Grimassen der Personen auf den alten Schwarzweißphotographien, die sie vor Jahren mal in einem Fotoalbum ihrer Eltern betrachtet hatte. Wie eine schlechtsitzende Maske lag es auf diesem bleichen Gesicht... aber was lag darunter? Eine Maske verbarg die Dinge, und was lag darunter? Sah das denn keiner?! Und was sah sie, Sive, die diesen Jungen gar nicht kannte, dass sie aus einem ereignislosen Morgen in dunkle Ahnungen stolperte? Sive war nun soweit um die Ecke gerutscht, dass sie Nerds Haar hätte berühren können, wenn sie gewollt hätte. Fast ebenso sehr wie den spielenden Jungen zog sie das Spiel, das Mienenspiel, das sie ausschließlich als Zuschauer miterlebte, in seinen Bann. Denn Nerd nahm sie überhaupt nicht wahr, sein Lächeln wurde breiter und er schien sich aufzurichten, als er zum letzten Schlag ausholte. ~~~ Confide In Me Performed by Kylie Minogue. I stand in the distance I view from afar Should I offer some assistance Should it matter who you are We all get hurt by love And we all have our Cross to bear But in the name of understanding now Our problems should be shared Confide in me Confide in me I can keep a secret And throw away the key But sometimes to release it Is to set our children free We all get hurt by love And we all have our Cross to bear But in the name of understanding now Our problems should be shared Confide in me Confide in me Stick or twist the choice is yours Hit or miss what's mine is yours Stick or twist the choice is yours Hit or miss what's mine is yours We all get hurt by love And we all have our Cross to bear But in the name of understanding now Our problems should be shared Confide in me Confide in me Confide in me Confide in me ~~~ Text & Story (c) by Amber 2001/2002 Illustrations (c) by Willow 2001/2002 Idee (c) by Curse! (Willow, Priss-chan & Amber) 2001/2002 Hosted by Animexx e.V. 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