Jura Tripper 1 1/2 over von abgemeldet (~I'll find my day, maybe far and away... far and away~) ================================================================================ Kapitel 5: XIII. Du brauchst nicht lächeln * XIV. Danke in der Dunkelheit * XV. Überfällige Formalitäten -------------------------------------------------------------------------------------------------------- Na ja... der Knoten schürzt sich... die meisten wissen's wahrscheinlich schon... ~~~ XIII. DU BRAUCHST NICHT LÄCHELN * XIV. DANKE IN DER DUNKELHEIT * XV. ÜBERFÄLLIGE FORMALITÄTEN XIII. Du brauchst nicht lächeln Der Raum war groß und fensterlos. Die rauh verputzten Wände, die an der Tür fast dreißig Zentimeter dick waren, deuteten darauf hin, dass er im Keller lag. Unter anderen Umständen hätte er wohl ungemütlich und trostlos gewirkt. Doch nun, da auf der Holzkiste in der Mitte eine Öllampe brannte, die unansehnliche Wand samt und sonders von Gepäckstücken aller Art verdeckt wurde und die vielen verschiedenen Stimmen der Pfadfinder auf den Flur schallten, machte er tatsächlich einen wohnlichen Eindruck. "Hab ich dich - oooh!" Wie schon erwähnt stapelte sich an der Wand und vor der Tür das Gepäck, und über einen dieser Rucksäcke war Timid soeben gestolpert. "Fang mich doch!" rief sein Bruder feixend. "Und ob!" Timid rappelte sich auf und jagte Blunder durch die offene Tür. "He!" President, der gerade mit zwei weiteren Rucksäcken beladen den Raum betrat, hatte den Zwillingen nicht ausweichen können und war fast von ihnen umgeworfen worden. "Ups - Tschuldigung!" hallte es noch aus dem Kellergang, indem die zwei schon längst verschwunden waren. "Hmpf. Immer ich." brummte President in seinen nicht vorhandenen Bart und betrat den Raum, in es sich die anderen bereits gemütlich gemacht hatten. "So, das wären die letzten Sachen." Steif setzte er sich. "Wäre es nicht langsam Zeit, dass die Kleinen schlafen gingen?" "Ach, lass sie doch." erwiderte Boss locker. "Sie müssen sich doch auch mal austoben." "Aber es ist bestimmt schon zehn Uhr," gab President zu bedenken, und Princess pflichtete ihm bei: "Ja, sie müssten wirklich langsam ins Bett. Schließlich war es ein harter Tag." "Na und? Woher willst du wissen, dass sie auf Noah überhaupt so etwas wie eine Uhr haben?" warf Tiger ein, an President gewandt. Seufzend gab dieser sich geschlagen, lehnte den Kopf an die Wand und versuchte wieder einmal krampfhaft, sich einfach nur zu entspannen. "Na Liam, wie war der Weg?" erkundigte sich Sheerla, die mit dem Angesprochenen einige Meter entfernt an der Wand hockte. Liam, die Hände im Schoß, reagierte nicht. "He, Liam! Ich hab dich gefragt, wie der Weg war!" "Wie - oh - ganz gut." entgegnete Liam zerstreut. Er fuhr sich durchs Haar und blinzelte. "Sheerla..." "Ja?" Neugierig beugte sie sich vor. "Was ist?" "Weißt du, wo Neesan ist?" Eindringlich sah er sie an. "Hm. Nö, keine Ahnung." Sie stützte den Kopf in die Hände. "Vorhin war er kurz da, aber dann ist er verschwunden." "Oh." Liam sah zu Boden. Neesans Blick, kurz bevor er losgegangen war, ging ihm nicht aus dem Kopf. "Er hat seltsam gewirkt, weißt du." "Ja. Ich glaub, ich weiß, was du meinst. Aber weißt du," - jetzt lächelte Sheerla - "manchmal ist er einfach so. Du musst ihn nur in Ruhe lassen. Wenn er dann wiederkommt, ist er meistens ganz der Alte." Beruhigend nickte sie Liam zu. "Ja... aber..." "Nichts aber! Es war bisher immer so!" Sheerla grinste und klopfte Liam auf den Rücken, dass ihm die Luft wegblieb. "Mach dir keinen Kopf! Du kannst nichts dafür!" Jetzt horchte Liam auf. "Hat er das gesagt?" fragte er, schärfer als beabsichtigt. Sheerla grinste noch immer. Aber sie war eine schlechte Lügnerin. Energisch schüttelte sie den Kopf. "Nein, hat er nicht." "Du brauchst mich nicht pausenlos anlächeln, Sheerla. Das nervt verdammt. Ich glaub dir auch so, wenn du mir jetzt nur genau sagst, was los war." Wie auf Kommando verschwand das Lächeln und machte Sheerlas üblicher Miene Platz. "Und ich dachte, ich wär' direkt." Sie stieß die Luft aus. "Liam, lass ihn einfach. Er hat mir erzählt - er war traurig, ja. Aber du hast nichts damit zu tun." "Was soll das heißen? Sheerla -" Sie schnitt ihm das Wort ab. "Nichts da! Hör mal," fuhr Sheerla fort, "all das ist Neesans Problem und das kann nur er allein lösen. Er tut mir leid, wirklich leid, und ich hab's auch schon versucht, aber - es bringt nichts. Ich mache es nur schlimmer. Wenn er nicht lernt, allein klarzukommen und damit fertig zu werden, wird er nie selbständig. Und das vergrößert seinen Kummer noch." "Du meinst," warf Liam ein, "dass er nicht selbständig genug ist?" Widerstrebend nickte Sheerla. "Ja. Nicht selbständig genug und nicht selbstbewusst genug. Und er leidet darunter. Aber hör mal - wenn ich ihm helfe, bevormunde ich ihn doch nur noch mehr, oder?" Liam schwieg, weil er nachdachte. Sheerla dagegen fasste sein Schweigen als Zweifeln auf. "Hör mal - ich weiß, wofür ihr mich haltet! Ich bin unsensibel und rücksichtslos. Weil ich keine Probleme kenne, glaube ich, die anderen hätten auch keine. Und wenn sie sie haben - ich ziehe es vor, sie zu übersehen, wie ich meine eigenen übersehe. Ja? So ist es doch, oder?" meinte sie hitzig. "Hoppla-jetzt-komm-ich, das Mädchen, das vor Wut Türen eintritt und ihren kleinen Bruder überallhin mitschleppt - nein, Zwillingsbruder, siehst du, jetzt ist es mir schon wieder rausgerutscht. Hat nur blöde Witze auf Lager und glaubt an Nutellabäume. Ein Mädchen wie ein Fels. Verunsichert und verletzt die Leute, wo sie geht und steht. So sorglos, dass man sie erwürgen könnte. Stimmt's? Genau so ist es doch, oder? Und..." Liam schlug ihr ins Gesicht. "Was redest du?" meinte er laut und grob. "Bist du bescheuert?" Schnell senkte er die Stimme, die anderen guckten schon. "Du bist ein Mensch wie jeder andere, Sheerla. Erzähl keinen Mist. Ich werde jetzt nach Neesan sehen. Ich habe irgendwas falsch gemacht, streite es ab, wenn du willst, aber ich will von ihm wissen, was los ist, verstanden?" Fassungslos starrte Sheerla ihn an. Der Abdruck von Liams Hand leuchtete noch immer rot auf ihrer Wange. "Wa... was sollte das?!" krächzte sie, und Liam zuckte zurück, ebenso verblüfft. "Weißt du, was du eben getan hast? Du, Liam, der freundliche Liam? Entschuldige mal, ich hab dir doch nichts getan... und..." Liam ließ den Kopf sinken. "Nein. Nein. Tut mir leid, Sheerla. Ich bin... einfach nur müde. Da werd' ich manchmal heftiger, als ich eigentlich wollte. Bitte - entschuldige... Ich weiß selber nicht, warum - mir... mir ist einfach die Hand ausgerutscht... normal mach' ich das nicht - es tut mir leid..." Er sah auf seine Hände, dann auf Sheerla, verwirrt, bestürzt, beschämt, aber eines ganz sicher nicht: Zornig. Sheerla atmete tief durch. "Das ist schon besser. Und jetzt geh." "Was?" "Zu Neesan. Das wolltest du doch, oder?" "Ja. Ja, du hast recht." Taumelnd erhob sich Liam, eine Hand an die Wand gestützt. Er sah wirklich ziemlich mitgenommen aus. "Hallo," erklang da plötzlich eine Stimme. Liam hob zögernd den Kopf. Sie hatte sich so verändert angehört, aber im Moment brachte er einfach nicht die Kraft auf, zu fragen, warum. Er hatte nicht gelogen, auf einmal fühlte er sich furchtbar müde. Weniger körperlich, nein, eher... geistig... psychisch erschöpft. "SEIFE!" rief Sheerla da, sprang auf und fiel ihr um den Hals - auch ein höchst bemerkenswerter Ausbruch ihrerseits. "Nenn - mich - nicht - so." schnarrte die Erwähnte mit verkniffener Miene. "Ja, Seife. Komm, setz dich. Jetzt sind wohl alle da, hm, Letzte?" Hinter Sive betraten gerade God, Nerd und Snake den Raum. "Ja, ja." brummte Sive. Willig ließ sie sich von Sheerla zu ihrem Platz geleiten. "Ich bin die Letzte, und ich bin jetzt da." "Hallo, Sive. Da bist du ja." Liams Stimme klang matt. Er rieb sich die Augen, sie brannten. "Ich geh dann mal." teilte er den Mädchen mit. "Wohin?" fragte Sive. Sheerla nahm ihm die Antwort aus dem Mund. "Neesan suchen." erklärte sie. "Aha. Mann, bin ich müde. Passt auf euch auf, ja?" Sie drehte sich zur Seite, rollte sich zusammen wie ein Igelchen - und war eingeschlafen. XIV. Danke in der Dunkelheit Es war seltsam, so hier im Dunkeln zu sitzen. Das Licht der Öllampe, die von einer Holzkiste die Mitte eines Raumes erleuchtete, war längst seinen Blicken entschwunden. Er sah absolut nichts, er fühlte bloß: Die rauhe Wand an seinem Rücken, seine nackten Knie in der kurzen Hose. Sein Haar, das ihn kitzelte. Hier waren nur Neesan und die Dunkelheit, mehr nicht. Eine fremde Welt. Hin und wieder hörte er die Stimmen der anderen von fern, mal lauter, mal leiser. Manchmal weckten sie in ihm dem Wunsch, sich ihnen anzuschließen, dazu zugehören, und oft war es geschehen, dass er beinahe aufgestanden wäre, diesem Wunsch zu entsprechen. Doch gleichzeitig ließ ihn diese Sehnsucht wieder das Bedürfnis spüren, einfach nur hier zu sitzen, ganz allein, sich in seine eigene samtige Dunkelheit zu hüllen und Augen und Ohren vor der Welt zu verschließen. Er wusste selbst nicht, warum er das tat. Vermutlich war es eine Mischung verschiedener Gründe, die ihn immer wieder dazu bewog. Heimweh. Sehnsucht nach seiner Welt, seiner Mama, seinem Papa, seinem Zuhause. Enttäuschung: Die grundlose Enttäuschung, die er gespürt hatte, als ihm blitzartig klar geworden war, wie wenig er doch ein Freund für Liam sein konnte. Und... Scham. Er schämte sich, so schwach zu sein. Immer, schon immer war er nur derjenige gewesen, auf den man hatte aufpassen müssen. Das Anhängsel, das man bei der Hand nehmen musste, damit man es nicht verlor. Und nach und nach war das den anderen immer lästiger geworden, und sie hatten weniger und weniger mit ihm zu tun haben wollen. Bei Sheerla war das anders gewesen. Sie mochten alle. Nicht die beste Schülerin, aber immer selbstbewusst und humorvoll, hatte sie besonders unter den Jungen viele Freunde. Wie nun auch Liam, der genauso war wie sie, vertrauenerweckend und stets geduldig und freundlich. Nur nicht Neesan. Neesan, der kleine, hilflose Neesan, der sich im Dunkeln verkroch, weil er nicht fähig war, es mit der Welt aufzunehmen. "Verdammt nochmal!" Seine Stimme zerriss die Taubheit. Aber nur für einen kurzen Moment, dann umgab ihn wieder die Stille, noch erdrückender als zuvor. Neesan vergrub das Gesicht in den Händen. Er konnte sich genau vorstellen, was sie jetzt von ihm dachten. Bestimmt belächelten sie ihn, Feigling der er war, lachten über ihn oder schüttelten die Köpfe. Vielleicht verspotteten sie ihn sogar, wie diese Jungen aus seiner Klasse. Sheerla hatte ihn zwar schon immer verteidigt, wenn andere Kinder ihn geärgert hatten, aber auch sie war nicht immer da gewesen, und so hatte Neesan oft, in einer Ecke stehend, Worte und Gelächter hören müssen, die ihm die Röte in Gesicht trieben. Warum? Vor Wut? Vor Scham? Diese Typen konnten alles sagen, was sie wollten, denn Neesan würde es niemals fertig bringen, ihnen ihre Worte auszutreiben oder sie wenigstens einfach wegzustecken, ohne seine Verletztheit zu zeigen. Dazu brauchte es weit mehr als er besaß. Nur eines taten sie nicht, und versuchten es nicht einmal, weil es ihnen gleichgültig war: Ihn verstehen. Wie auch? Das schaffte ja nicht einmal er selbst, so fern von Logik war sein Verhalten, wie konnte er da erwarten, dass die anderen es taten? Doch es schmerzte ihn, hatte er doch insgeheim gehofft, hier, in dieser anderen Welt, die Chance für einen Neuanfang zu haben. Von den anderen kannte ihn keiner, jedenfalls nicht näher, und sie hatten noch nicht gewusst, was für ein Schwächling er war. Darum war Neesan verzweifelt bemüht gewesen, es sie gar nicht erst merken zu lassen. Zum Beispiel die Szene am Birnenbaum, als Sive und Sheerla sich so in die Haare gekriegt hatten und er sie angeschrien hatte. Im nachhinein erschien ihm sein Verhalten bloß lächerlich. Er konnte sich gut vorstellen, dass die Mädchen genauso dachten. Während Neesan seinen Gedanken nachgehangen war, hatte er gleichzeitig immer lauter das Geräusch sich nähernder Schritte vernommen. Er zuckte leicht zusammen, so übergangslos schienen sie ihm diese nachtschwarze Stille zu betreten, doch je durchdringender sie wurden, desto mehr gewöhnte sich sein Gehör daran und stattdessen begann er, sich zu fragen, zu wem sie wohl gehören mochten. Ein Teil von ihm wollte schnell aufzustehen und davoneilen, tiefer in das Dunkel hinein, aber erstens konnte man sich in diesem Kellerlabyrinth sehr leicht verirren, und zweitens würde die sich nähernde Person - wer immer es auch war - im Gegenzug auch seine Schritte hören und ihm möglicherweise folgen. Noch ehe er diesen Gedanken zu Ende denken konnte, hörte das Geräusch auf und Neesan spürte, wie jemand vor ihm stehenblieb. "Neesan?" fragte eine unsichere Stimme. Diese Dunkelheit war wirklich nicht schön. "Bist du das?" Eine Hand tastete vorsichtig auf seinem Kopf herum. Er schwieg, überrascht und verlegen. Aus irgendeinem Grund wollte er den Mund nicht aufmachen, es war so schwer, die Worte abzuwägen. Und wie seine Stimme sich wohl anhören würde? Verzweifelt und zornig wie sein Fluchen vor ein paar - Minuten? Oder schüchtern und ängstlich, vielleicht sogar entschuldigend, wie sonst so oft? Der Herumtaster hatte offenbar ein gutes Gedächtnis für Haarschnitte, denn er meinte bestätigend: "Neesan." Neesan nickte erleichtert, völlig vergessend, dass der andere das ohnehin nicht sehen konnte. Ein Schaben von Stoff an Stein erklang, ein Geräusch von scharrenden Füßen. Der andere hatte sich neben ihn gesetzt. Und jetzt klang Neesan doch wieder scheu, als er fragte: "Wer bist du?" "Erkennst du meine Stimme nicht?" Neesan nickte zum zweiten Mal, überflüssigerweise. Es war ja doch zu dunkel. Sie schwiegen beide, Neesan und er, und es war unmöglich, die Zeit einzuschätzen, die sie bloß da saßen und darauf warteten, dass der andere etwas sagte. Und taten sie das überhaupt? Liam war sich nicht sicher. Vielleicht wollte Neesan wirklich nur alleine sein und er störte ihn bloß. Vielleicht schwieg er aus diesem Grund, weil er nicht mit ihm reden wollte. Vielleicht sollte er wieder gehen. Aber Liam, der wusste, dass Menschen immer etwas Zeit brauchen, blieb und erfuhr in diesen Minuten all die Sinneseindrücke, die Neesan zuvor ebenfalls wahrgenommen hatte: Dunkelheit, Stimmen, Stille. Und schließlich, er hatte sich nicht geirrt: Die Wiederaufnahme eines Gesprächs, das noch gar nicht begonnen hatte. "Liam?" "Hm?" Aus reiner Gewohnheit wandte er den Kopf und blickte Neesan direkt ins Gesicht - oder dahin, wo er es vermutete. "Du... du hältst mich für blöd, was?" Liam schwieg eine Weile. "Nein. Alles, nur das nicht, Neesan." sagte er dann. "A... aber bestimmt für komisch, weil... weil ich mich einfach verstecke... oder?" "Nein." Liam stützte den Kopf in die Hände. "Ich verstehe das sehr gut. Und es ist bestimmt nicht die abwegigste Möglichkeit, mit Kummer fertig zu werden." Auf jeden Fall besser, als unschuldigen Mitmenschen eine zu scheuern, nur weil sie den Fehler begangen haben, mit dir zu sprechen, fügte er in Gedanken hinzu. "Das... ist sehr nett von dir. Dass du das findest, meine ich." Liam antwortete nicht. Er gab Neesan die Zeit, die er brauchte, um sich zu sammeln. "Was hat Sheerla gesagt?" fragte der Junge übergangslos. "Sheerla meinte, ich sollte dich in Ruhe lassen. Weil du allein damit klarkommen musst und sie dir nicht helfen kann. Und ich auch nicht." "A... ach so." Neesan wandte das Gesicht ab. "Warum bist du trotzdem gekommen?" "Weil ich ein Trottel bin, der sich für den heiligen Samariter hält," lag es ihm auf der Zunge, aber er schluckte es hinunter, um es sich selbst bei Gelegenheit an den Kopf zu schleudern. Neesan hatte das nicht verdient. "Weil... ich es falsch finde, Neesan. Weil ich glaube, dass wir Freunde sind. Und Freunde sollte man nicht allein lassen, nicht einmal dann, wenn sie meinen, dass sie es verdient hätten. Ich will dich nicht mit meinem Gerede belästigen oder so, und du brachst mir auch nichts erzählen, wenn du nicht willst, aber ich möchte mit dir hier sitzen. Ich... ich kann das auch ganz gut gebrauchen, glaube ich." "Was? Was ist denn, Liam? Bist du traurig?" fragte Neesan bestürzt. Er schämte sich - wieder einmal. Natürlich war er nicht der Einzige, der Probleme hatte. Obwohl - Liam? Liam in seiner offenen Freundlichkeit, Liam, der zu ihm sagte: ?Weil ich glaube, dass wir Freunde sind'? So glücklich machten ihn diese Worte auf einmal, dass sie ihm in purer Ausgelassenheit im Kopf herum hüpften. Und auch Liam musste plötzlich lächeln, ob er wollte oder nicht. "Ich... nein, nicht wirklich. Nur etwas ausgelaugt. Aber danke, dass du fragst. Warum bist du weggegangen, Neesan?" Neesan schluckte. "Weil... weil ich... ich weiß nicht. Ich... war eifersüchtig, Liam, glaub ich. Aber jetzt merk' ich, wie blöd das war... verzeih mir." "Wegen Sive?" fragte Liam. Er hatte es also bemerkt. "Ja... nein. Nein, ich glaube, nicht mal deshalb. Ich war schon vorher irgendwie schlecht drauf." "Aber warum?" Neesan reckte das Kinn. Plötzlich klang seine Stimme neu und da war er wieder, der Verdammt-Nochmal-Neesan: "Wegen Sheerla! Ich hab gehört, was sie zu Tiger gesagt hat, bevor wir aufgebrochen sind! ?Bitte pass auf Neesan auf, während ich weg bin'! Auf Neesan, den kleinen Trottel, den man nicht allein lassen kann! Wofür hält sie sich?!" Er holte tief Luft, versuchte, sich zu beruhigen - was würde Liam denken - vergeblich: "Ich bin verdammt nochmal, verdammt, verdammt, verdammt nochmal kein Baby!! Was denkt sie, wer sie ist - und noch mehr: Wer ich bin?! Wofür haltet ihr mich?!" Liam hörte zu, er wollte Neesan nicht unterbrechen, er wollte genau wissen, was sein Freund zu sagen hatte. "Ich weiß, dass ich dankbar sein müsste für so eine Schwester, die sich Sorgen um mich macht und mir hilft, nein wie rührend! Ich weiß, dass sie es nicht böse meint, sondern lieb, sehr, sehr lieb! Aber sie übertreibt es! Ich bin kein Idiot, trotzdem bringt sie mich dazu, dass ich mir so vorkomme! Und dann benehme ich mich so wie gestern am Birnenbaum, schreie euch alle zusammen wegen nichts und wieder nichts! 'Er muss allein damit klarkommen'! Oh, wie sozial. Ich komme auch allein damit klar, sehr gut sogar, besser als Miss McPherson denkt - aber Liam, wie soll ich mit IHR klarkommen?!" Und dann plötzlich klang Neesan wieder zweifelnd, ängstlich, zögernd: "Und... wie soll ich mit mir klarkommen?" "Du... du hältst mich wirklich nicht für blöd?" Langsam schüttelte sein Gegenüber den Kopf. "Nein," sagte er und die Art, wie er das sagte, genügte Neesan. "Neesan - du bist kein Trottel. Oder, sagen wir es mal so: Wir alle sind Trottel. Schau mich an. Eben habe ich Sheerla eine gescheuert, ohne jeden Grund. Was glaubst du, wofür sie MICH jetzt hält? Und Sive. Du weißt es vielleicht nicht, aber als sie weggelaufen war, hat sie geheult wie... ja, wie sie es eben tut, und das öfter, als du denkst, das kann ich dir sagen. Und jetzt sind wir hier, wir vier, irgendwo weit weg von der Erde, und wissen nicht, wie und ob wir je wieder nach Hause kommen. Ist das etwa kein Grund zum Heulen? Zum Schreien? Zum Schweigen?" Neesan wusste nicht, was er sagen sollte. Also nickte er nur stumm ins Dunkel hinein. Liam legte ihm die Hand auf die Schulter. Sie fühlte sich warm an. "Du bist kein Trottel und auch kein Schwächling, du bist Neesan und du kannst tun - und ich glaube, das tust du auch - was du kannst. Oder?" "Wenn DU das glaubst, Liam... dann glaub ich, hast du recht..." "Ja, ich glaube es. Aber das ist es nicht, was zählt! Du zählst. Sag du es dir und glaub daran. Ich helfe dir, und Sheerla auch. Sogar Sive. Und merk dir - keiner, auch keiner von uns wird dich zu etwas machen, was du nicht sein willst. Lass es nicht zu. Sag etwas." "Ja... das werde ich tun. Vielen Dank, Liam..." Neesan lachte, leise, schüchtern. "NEESAN!" erhob sich da Liams Stimme, dass ihm das Lachen im Halse stecken blieb, "Bedank dich bei DIR!" Neesan kicherte noch heftiger. "Was?" "Nichts... du klingst wie Sheerla!" "Sheerla, wie? Ärger' ich dich?" "Nein... nein.... wirklich nicht," Unerwartet hörte er auf zu lachen. "Wirklich nicht..." wiederholte er staunend, "Wirklich nicht..." "Wirklich nicht!" fiel Liam ein, jetzt selbst ganz aufgedreht, "Los, Neesan, bedank dich bei dir!" "Sicher? Das ist...." "BEDANK DICH!" "Äh... Danke, Neesan..." "Lauter!" "Danke, Neesan!" "Laut-" Das Trappeln mehrerer Füße ließ Liam verstummen. Noch mehr Gekicher, Mädchenstimmen. Und Gebrüll, das nur von einer stammen konnte: "Heeey! Wo seid ihr?" "Müde!" antwortete Sive ziemlich transusig. Das Igelchen schlief nicht mehr, aber noch immer hing es matt an Sheerlas Arm. "Wo seid ihr, hab ich gefragt, nicht wie! SEIFE!" "Kopfkissen!" entgegnete Sive, ohne in ihrem von Wunschdenken vernebelten Gehirn zu merken, dass diese beiden Begriffe irgendwie keinen Zusammenhang hatten. "Das sind die Mädchen!" rief Neesan überflüssigerweise. "Jaaa!" johlte Sheerla. "Wir sind's!" "Bettdecke!" fügte Sive hinzu. "Und Kuscheltier!" "TROTTEL!" brüllte Sheerla ihr ins Ohr, "Mein Trottelchen!!" "Und jetzt du!" verlangte Neesan, an Liam gewandt. "Muss das sein?" "Ja!" "Ok." Liam setzte sich gerade. "Danke, Liam," sagte er ganz ernsthaft. Sheerla kam dazu, Sive noch immer hinter sich her schleppend. "Was ist? Führt ihr jetzt Selbstgespräche?" "Danke, Sheerla." riefen die Jungen statt einer Antwort laut im Chor. "Bitte." erwiderte Sheerla verwirrt. "Gern geschehen," antwortete Neesan. Er strahlte seine Schwester an, und er meinte, was er sagte. Sheerla sah sich vorsichtig um, was nicht viel brachte, es war ja dunkel. Befremdet schüttelte sie den Kopf. "Es muss die Luft sein... he, Seife, hör dir mal die zwei an..." "Bin keine Seife." maunzte Sive. Diese Dunkelheit war zum Schlafen schön... "Danke, Sive." "Hö?" "Ach, vergiss es..." "Jaaaaa..." XV. Überfällige Formalitäten "...Trag mich." "Was? Aber..." "Trag mich..." Nur ein verhaltenes Schlurfen sowie das Geräusch leiser Schritte begleiteten diesen aufschlussreichen Wortwechsel in der Dunkelheit des Kellers von Manuas Haus. Sive, das Igelchen, taumelte irgendwo zwischen Schlaf und Wachsein mit Neesan den schmalen Gang entlang, und nur eine absolut nicht extravagante Voraussetzung fehlte ihr noch zu vollkommener Glückseligkeit: "Neesan, trag mich." Einen Augenblick herrschte Stille, dann erklang ein Laut, der einem resignierten Seufzer nicht unähnlich war und Sives zufriedenes Schnaufen: "So is' fein..." Darauf bedacht, möglichst schnell wieder ihr Quartier zu erreichen und seine Last ablegen zu können, beschleunigte der bemitleidenswerte Neesan seine Schritte. Hinter Neesan, dem Jungen, der Fluchen gelernt hatte, schlenderten Sheerla und Liam längst nicht so eilig dahin. Sheerla, seit sie losgegangen waren in Gedanken versunken, brach das Schweigen, indem sie Liam anstupste und meinte: "Du hast echt Talent, weißt du das eigentlich?" "Hm?" Liam lächelte, seit ein paar Minuten schien ihm alle Anspannung verschwunden zu sein, und er spürte fast körperlich, wie er wieder freier atmen konnte. "Wie meinst du das, Sheerla?" "Das fragst du noch! Ich glaub es einfach nicht! Du wunderst dich alle Ernstes, wovon ich spreche! Woher in drei Teufels Namen nimmst du diese Fähigkeit?" Lachend hakte Sheerla ihn unter. Fragend sah Liam sie an. "Nein, wirklich. Was meinst du? Neesan?" "Neesan! Neesan! Natürlich! Neesan, Sive, uns alle. Du hast einfach Talent!" Verlegen lachte nun auch Liam. "Sheerla... so würde ich das nicht bezeichnen." "Aber ich, Mr. Dr. Liam Frank, der Arzt dem die Frauen vertrauen! Du kannst mit Menschen umgehen." Mit Blick in das Dunkel vor ihnen senkte sie die Stimme: "Du hast meinen Bruder zum Lachen gebracht, als es ihm am allerdreckigsten ging. Das hab ich niemals fertig gebracht, noch nie in unser beider Leben." Liam schwieg. Er dachte an das, was Neesan ihm gesagt hatte. "Er hat nie darüber gesprochen. Ich habe dich nicht angelogen, Liam. Ihn in Ruhe zu lassen war immer das einzige, was ich tun konnte." Sheerla sah zu Boden. "Ich weiß, dass das Problem nicht nur bei ihm liegt. Ich bin nicht gerade die Sensibelste. Aber ich will ihn doch gar nicht beiseite drängen! Ich... ich hab ihn doch lieb, weißt du... es ist nur so verflixt schwierig, immer das Richtige zu tun. Wie schaffst du das?" Statt einer Anwort fragte Liam zynisch: "Brennt deine Backe noch?" Erst jetzt ging Sheerla auf, was sie eben gesagt hatte. Sie schüttelte den Kopf, dass ihr die Haarsträhnen aus dem Gesicht wirbelten. "Oh nein, schon klar. Hast ja recht. Was rede ich. Schon wieder Mist, wie immer. Du machst auch nicht alles richtig." Sheerla legte eine kleine Pause ein, um dann um so entschlossener fortzufahren: "Also, wie auch immer, Dr. Liam Frank, was ich eigentlich sagen wollte, war: Bild' dir jetzt bloß nichts darauf ein oder erwarte, dass ich jetzt ebenfalls mit meinem Ballast daherkomme, klar?!" Liam begann zu grinsen, als Sheerla immer empörter weiter sprach: "Ich bin schließlich keine Jammerliese! Erwarte also nicht, dass ich dir jetzt, weil die Gelegenheit gerade günstig ist, meine misslungene Frühjahrsdiät offenbare, oder dich in die Geheimnisse meiner unglücklichen, weil unerwiderten Liebe zu Tom Breakthedoor einweihe!" "Bloß nicht," stöhnte ihr Freund und hielt sich den Kopf, der noch immer leicht brummte, "Untersteh' dich, Sheerla Croft!" Sheerla nickte zufrieden - und stutzte. Da war doch was: "Wer ist das?" erkundigte sie sich lauernd. "Diese Croft?" "Du kennst Lara Croft nicht?" Sheerla zog die Augenbrauen hoch. "Wer in Herrgotts Namen soll das sein? Aber irgend etwas Ungutes sagt mir, dass du mich gefälligst nicht mit ihr vergleichen sollst, klar?" "Du kennst sie wirklich nicht? Die aus dem Computerspiel?" "Computerspiel? Ich? Nein! Klar?" Schmunzelnd dachte Liam an die Nutellabäume und nickte schnell. "Klar?" wiederholte Sheerla streng, da sie ihn ja nicht sehen konnte. "Alles klar." meinte Liam folgsam. Alles. Für heute, dachte er und - Lächelte. Aber er sollte sich irren. Diese Nacht würde noch lang werden. Im Keller herrschte Erwartung, das spürte man, und als die vier Kinder den Raum betraten, teilte ihnen auch Timid gleich folgende Neuigkeit mit: "He, ihr! Eben war Manua da! Ihr kommt gerade rechtzeitig, gleich gibt's was zu essen!" Zufrieden rieb er sich seinen Kinderbauch und ließ sich auf eine Tasche sinken. Es war wirklich schon spät, die genaue Uhrzeit kannten sie zwar nicht, aber der lange Marsch zu Manuas Haus hatte sie alle ermüdet, und jetzt etwas zu essen zu bekommen - ja, das wäre doch sehr erfreulich, eigentlich genau das Richtige, dachte Sheerla, während sie sich durch Gepäckberge schlängelte und ?ihrem' Platz an der Wand zustrebte. Im Grunde unterschied er sich in nichts von den Plätzen einige Meter links und rechts von ihm, aber es war eben ?ihr' Platz, den sie sich für die Dauer ihres Aufenthalts in diesem Keller erkoren hatte. Der Mensch braucht eine Heimat, und Sheerla bezog selbige zwischen Neesan und Sive und wandte huldvoll ihre weitere Aufmerksamkeit President zu, der sich nun erhob. "Also," meinte der sogenannte Anführer feierlich (seine Haltung erinnerte stark an die Weihnachtsansprache bei einer Betriebsfeier) und irgendwie stach im Kontrast zu seinen Worten seine Schlaksigkeit um so mehr hervor, "gleich gibt es Essen. Aber vorher geht ihr Hände waschen!" "Genau wie Papa, was, Neesan?" flüsterte Sheerla mit einem verschmitzten Grinsen auf dem Gesicht, während sie Anstalten machte, der Anweisung zu folgten. "M-hm." nickte Neesan, doch das Lächeln, das er Sheerla zeigen wollte, misslang, weil ihre Bemerkung ihm einen schmerzhaften Stich versetzte und ihn an Zuhause erinnerte. "He," brummte Sheerla und legte ihm die Hand auf die Schulter "mach dir doch keine Sorgen. Wir sehen Mama und Papa schon wieder." "Glaubst du wirklich daran?" fragte Neesan mit gemischten Gefühlen. "Bezweifelst du das?" kam die Gegenfrage. Herausfordernd sah Sheerla ihn an. Neesan kannte und liebte diesen Blick von seiner Schwester, und er war in dieser Form in den letzten Tagen doch ziemlich rar geworden. "Ja," erwiderte er zaghaft. "Nun, aber ich tu es! Ich glaube, was ich sage." "Dann ist es gut..." murmelte Neesan froh. "Danke, Sheerla." Gehorsam wandte sich die versammelte Kinderschar zur Tür, als aus ihrer Mitte ein zartes Stimmchen ertönte: "Du, President?" fragte Gatcha unschuldig. "Ja?" "Aber wo bitte sollen wir uns denn die Hände waschen? Hier unten ist doch nirgends ein Badezimmer!" Die Richtigkeit dieser Feststellung war ihnen dank Princess nur allzu bekannt. Einen Moment lang wirkte President perplex. "Wie? Äh... also... nun...", er druckste herum, "Gut, dann eben nicht. Lasst es. Lasst es einfach." Leicht beleidigt ging er zu seinem Rucksack, wo er ein rechteckiges Buch zutage förderte und demonstrativ darin zu lesen begann. "Was ist das?" fragte Sheerla Young Lady. "Unser Bordbuch. President ist der Buchführer." "Aha." Sheerla schüttelte den Kopf, sie konnte sich nicht vorstellen, wofür ein Pfadfinder-Marine-wasauchimmer-Club ein Bordbuch brauchte. Und noch weniger konnte sie nachvollziehen, wie ein Mensch selbiges als Zu-Bett-Geh-Lektüre nutzen konnte. "Ich hab Hunger... du, Princess, glaubst du, das Essen kommt bald?" quengelte Gatcha, gleich unterstützt von Timid und Blunder: "Ja, genau! Mein Bauch ist schon ganz hohl! Hörst du? *klopfklopf*" "Meiner auch!" "Schon gut," beschwichtigte Princess, "Gleich kommt Manua und bringt uns etwas." "Hoffentlich ist es gut," meldete sich Tank und rieb sich den nicht eben sparsam bestückten Bauch. "Ich bin gespannt, wie das Essen hier auf Noah schmeckt." "Ja, denn mit leerem Magen hat man nur Mist in der Birne!" gab Boss zum besten. [Hat er das nicht schon mal gesagt?] "Dann gibt es hier wohl gewisse Leute, die besonders lange gefastet haben..." lästerte jemand. Plötzlich erschien Presidents Kopf aus dem Bordbuch, in das er sich vergraben hatte. "Fast hätte ich's vergessen!" "Was denn?" fragte Tiger verständnislos. "Das Bordbuch!" "Ja und?" "Ich muss die Kinder doch noch ins Bordbuch eintragen!" Sheerla, Neesan, Sive und Liam blickten sich an. War das was Schlimmes? Geschäftig wandte sich President an die Vier. "Jetzt sagt mir mal eure vollen Namen, bitte!" "Warum?" warf Sive ihm an den Kopf. "Nun, immerhin seid ihr Mitglieder, solange ihr mit uns fahrt und diese Uniformen tragt." "Und warum?" bohrte das Mädchen weiter. "In diesem Bordbuch sind all unsere Club- und Mitgliederdaten sowie besondere Ereignisse verzeichnet." erklärte Doc. "Ja, und President als Buchführer schreibt alles auf!" Boss klopfte dem Fleißigen auf die Schulter. "Und ihr wollt unsere Daten?" fragte Liam. "Gut. Wer zuerst?" "Mach du ganz einfach, Liam." meinte Sheerla. Das waren ja bloß langweilige Formalitäten... "Dein Name?" fragte President ihn. "Liam Garrod." entgegnete Liam leichthin. "Liam Gar..." President unterbrach sich. "Seltsam..." Er starrte aufs Papier. "Bist du wirklich ganz sicher?" "Nein. Er heißt nur so." bemerkte Sheerla nicht ohne einen genervten Unterton, und vom verwirrten President ohnehin völlig überhört. Er sah in die Runde, wo der Geräuschpegel merklich niedriger geworden war. "Sag mal, Boss..." begann President. "Das ist ja ein Ding, Crybaby, wir haben den gleichen Nachnamen!" rief Boss. "Dass ihr Brüder seid, wissen wir auch." schnaubte God. "Idiot!" plädierte Tiger lakonisch. President schüttelte noch immer den Kopf. "Brian Garrod. Ja, da steht's. Und Jack Garrod...." Er runzelte die Stirn. "Seid ihr verwandt?" "Ja, wir sind Brüder." entgegnete Crybaby leicht erstaunt. Er hatte von dem vorangegangenen Dialog nicht allzu viel mitgehört. "Aber das wisst ihr doch." Liam schwieg in Gedanken versunken. Und auch die anderen verfolgten das Geschehen mit plötzlichem Interesse, Verwirrung und Neugierde zugleich. "Wir reden hier nicht davon, dass ihr Brüder seid, sondern von Liam und Boss." meinte Tiger energisch. "Soweit ich das verstanden habe, haben..." Doc schüttelte den Kopf. "...Liam und Boss den gleichen Nachnamen?!" ergänzte Tank. "Und Crybaby auch. Ja, aber wie das?" wunderte sich Young Lady. "Wie ist das möglich?" fragte Princess verwirrt. "Vielleicht ein Zufall. Vielleicht bin ich ja auch dein Urenkel, Liam!" Boss grinste ihn an, und dieses Grinsen wirkte sehr merkwürdig auf Liam. Es hatte irgend etwas mit einem Fußball zu tun, erinnerte er sich blitzartig. Ein Fußball - wie kam er denn jetzt darauf, er spielte doch gar nicht Fußball, nur... Und auf einmal wusste er es. Liam erstarrte, doch im allgemeinen Gelächter merkte das kaum jemand. Durch eine fahrige Geste versuchte er fieberhaft, Sive auf sich aufmerksam zu machen, ließ es dann aber, bevor diese reagieren konnte. Wie unter Zwang sah er sich im Raum um, sah in die Gesichter der Pfadfinder. Es schien Liam, als sei er blind gewesen. Noch vor einer Minute - von einem Moment auf den anderen verspürte er den unbezwingbaren Drang, laut aufzulachen. Es war aber auch zu komisch... Doch Unsicherheit lag nur eine Haaresbreite von dieser Belustigung entfernt. Lediglich die Verwirrung, die ihn, das wurde ihm auf einmal bewusst, beschäftigt hatte, seit sie die Pfadfinder das erste Mal trafen, war nun gänzlich beseitigt. Es war alles glasklar. Nur, es war gleichzeitig auch so absurd, dass niemand von ihnen je auf diesen Gedanken gekommen wäre, wenn nicht President nun... President fuhr fort, Liam brauchte gar nicht mehr hinzuhören. Er hatte erstmal genug zu denken. "Idiot." plädierte Tiger zum zweiten Mal. "Du konntest noch nie rechnen. Er kommt aus der Zukunft, und ist somit, auch wenn ich's nicht glauben könnte, würde ich es nicht sehen, deutlich jünger als du. Und daher..." President, fest entschlossen, alles zu verdrängen, unterbrach Tiger, indem er sich an Sive wandte: "Und du?" "Ich?" knurrte Sive voller Mißtrauen. "Ich bin klein, mein Herz ist rein." Sie schielte nach links und rechts und versteckte sich dann hinter Neesan, der erschrocken beiseite rückte, "Ein kleines Glück kommt nicht zurück!" "Sive, du bist bloß klein und gemein." äußerte sich Sheerla geistesabwesend. Gedankenverloren spielte sie mit den Knöpfen ihrer Uniform. "Irgendwas ist hier faul." meinte God. Er beugte sich vor. "Wie heißt du?" Sive wurde trotzig. "Das sag ich dir ganz sicher nicht!" "Jetzt sag schon," drängte Tiger, auf einmal ebenfalls von brodelnder Anspannung gepackt. Das Mädchen presste die Lippen aufeinander. Sie wollte ihren Namen nicht sagen, denn sie hatte das ungute Gefühl, dass er, sollte sie ihn preisgeben, einer Reihe unguter Phänomene ausgesetzt sein würde, die sie lieber vermeiden wollte. "Jetzt sag verdammt nochmal, wie du heißt!" fuhr God sie an. Er wirkte beinahe nervös. "Ich sagte doch: Dir ganz sicher nicht!" grollte Sive. "Bäh!" "Sag doch." bat Young Lady. Sive sagte: "Nein." "Ja, sag es." Sive sagte: "Nein." "Komm schon, sag!" riefen Timid und Blunder. Sive sagte: "Nein." "Genau! Wie heißt ihr?" Sive sagte: "Nein." Jemand fragte: "Nein?" Sive hatte noch mehr zu sagen: "Nein! Ich heiße nicht nein, ich heiße Sive Charteris! - Ups..." Sie fuhr zusammen und blickte wie magnetisiert President an, der gleich einem Urteilsvollstrecker den Kopf über das Bordbuch beugte. Und sie war bei weitem nicht die Einzige. "Sive... Char...te...ris..." schrieb President und trotz aller Konzentration schien seine Hand sich im Schneckentempo zu bewegen, beinahe rutschte ihm der Stift aus den schwitzenden Fingern, "oh... das ist aber ein..." Seine Augen huschten fort von dem Buch, zeitlupenartig durch den Raum, blieben an den Kindern hängen. Wieder senkte sich die Geräuschkulisse um einige Dezibel, bis endlich alle soweit mitbekommen hatten, dass der soeben stattfindende Vorgang etwas mehr als eine überflüssige Formalität sein musste. Eher... eine überfällige Formalität, eine längst überfällige Formalität. Das Schweigen wurde fast greifbar, und es hatte etwas Sonderbares, eine Mischung aus Spannung und Belustigung, es war aber auch gleichzeitig sehr unangenehm, schwer und nervenaufreibend. Es schien die Anwesenden einerseits in seinen Bann zu ziehen als auch dazu bewegen zu wollen, sich ihm zu entziehen, unschlüssig, aber dennoch nicht gänzlich ahnungslos, was folgen mochte. Wer dieses Schweigen brach, musste schon ziemlich mutig sein... oder extrem kurzsichtig aka Blindschleiche: "Hey, God, das ist aber ein Zufall! Kommt aus der Zukunft und hat den gleichen Nachnamen wie du!" Zum Lachen kam Snake nicht mehr, weil ihn sämtliche Anwesenden mit Nadelblicken durchbohrten. Und God unterließ überraschenderweise sämtliche Kopfnüsse, sondern fauchte nur warnend: "Na und? Hast du was dagegen?" Er funkelte Snake an, es war weniger ein wütender als vielmehr ein Halt-bloß-die-Klappe,-ja-Blick, und der verwirrte Snake wurde plötzlich sehr still. "Das ist wirklich seltsam." meinte Tiger langsam. "Was sagt ihr dazu, Leute?" Sie sah in die Runde. "Also, wenn ich recht verstehe...", begann Boss, "dann haben Liam und ich und Sive und God die gleichen Nachnamen. Und sie kommen aus der Zukunft... Das müsste ja bedeuten..." Boss' Augen weiteten sich. "...dass ihr irgendwie verwandt seid?!" staunte Tank. "Leute, wir haben echt eine besondere Portion Schicksal abgekriegt!" "Ja, erst landen wir in einer anderen Welt und dann treffen wir da auch noch Kinder aus der Zukunft!" lachte ungläubig Princess. "Also, mich würde jetzt nur noch interessieren, wie..." murmelte Crybaby nachdenklich, "ich meine - wir haben noch nicht alle..." "Ja!" rief Gatcha aufgeregt, "Die beiden anderen!" "Wisst ihr was," schlug da President mit heiter zitternder Stimme vor, "wir lassen das lieber doch mit dem Eintragen. Ich meine, wir können ja morgen weitermachen... es gibt ja gleich Essen, wir sind müde... oder in drei Jahren... oder nächste Woche, hm, was meint ihr...." Er schielte betont flüchtig hinüber zu Neesan, Sheerla und den anderen, ganz so, als bekäme er Augenschäden, wenn er sie auch nur eine Sekunde länger ansah, und machte schon Anstalten, das Bordbuch und alles damit Verbundene flink in seiner Tasche zu verstauen. "Da wäre nur noch eins," begann gnadenlos gefasst Doc, an Neesan und Sheerla gewandt, "wie heißt ihr?" President erstarrte mitten in der Bewegung. Zutiefst unglücklich schraubte er den Füllerdeckel wieder auf und betrachte dabei das Schreibgerät, als wäre es ein Mordinstrument. Fehlte nur noch, dass er ein Klagelied anstimmte. ?Wer wagt, gewinnt' war Sheerlas Motto und vor allem: Was hatten sie schon zu verlieren? Sie hatte Liams Reaktion sehr wohl bemerkt, doch im Gegensatz zu Sive war sie weder damit beschäftigt gewesen, heldenmütig ihren Namen zu verteidigen, noch kannte sie Liam lange genug, um zu sehen, was er sah. Erwartungsvoll blickte ihr Bruder sie an, und Sheerla starrte prompt zurück, ebenso erwartungsvoll. Neesan wich aus, erstaunt, da er aus alter Gewohnheit stets Sheerla als die Wortführerin ansah. Dann begriff er, gab sich einen Ruck und sagte etwas. Mit leisem Kratzen glitt der Füller über das Papier. Im Zeitlupentempo erschienen die einzelnen Buchstaben aus Tinte vor dem Auge des Schreibenden. Der Schreibende war President, und noch ehe die Worte in seinem Kopf verhallt waren, prangten sie ihm in krakeligen Lettern - denn Stress ist Schönschrift nicht sehr förderlich - entgegen, und er musste sie gar nicht erst lesen, um zu wissen, welcher Nachname da stand, denn er kannte ihn, kannte ihn gut. Es war sein eigener. Text & Story (c) by Amber 2001/2002 Illustrations (c) by Willow 2001/2002 Idee (c) by Curse! (Willow, Priss-chan & Amber) 2001/2002 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)