Silent Reproach von sterekura ================================================================================ Kapitel 4: Silent Reproach IV ----------------------------- Scheißgebadet wachte ich mit stechenden Kopfschmerzen auf und war beruhigt, als ich bemerkte, dass dies die Realität war und Simão friedlich an meiner Seite schlummerte. Sein entspanntes Gesicht wurde vom hellen Mondlicht besonders hervorgehoben und es schien mir fast unglaubwürdig, dass er in meinem Traum so wütend ausgesehen hatte. Simão war eigentlich ein sehr friedfertiger Mensch, mied jede Auseinandersetzung und versuchte immer niemandes Aufmerksamkeit zu erregen. Dieser Traum war verrückt gewesen, aber dennoch leider auch ein wenig wahrheitsgemäß. Ich würde wirklich alles für Raúl machen – selbst mein Leben geben, sollte ihm das irgendwie helfen. Und der Grund dafür war der, dass ich ihn noch nicht vollständig loslassen konnte, vielleicht auch noch immer nicht wollte. Ich schob Simão langsam von mir weg – schließlich wollte ich ihn ja nicht aufwecken – aber er drehte sich ganz automatisch bei meiner ersten Berührung auf die andere Seite. Beinahe so, als wollte er nicht von mir berührt werden, als hätte er meinen Traum gesehen. Was natürlich völliger Unsinn war. Trotzdem war ich mir sicher, dass Simão gerade in diesem Haus spürte, wie zweitrangig er war. Dagegen musste ich so schnell wie möglich unbedingt etwas unternehmen. Ich schlug die Decke zurück und stand auf. Meine Kehle war trocken und deswegen beschloss ich mir in der Küche etwas Wasser zu holen. Kaum hatte ich unsere Zimmertür geschlossen hörte ich aus dem Wohnzimmer eine flüsternde Stimme. Natürlich folgte ich ihr – der Weg zur Küche führte mich auf diesem Weg so oder so durch dieses Zimmer – blieb aber so im Türrahmen stehen, dass man mich von drinnen nicht sehen konnte. Schwaches Mondlicht fiel in das Zimmer und beleuchtete eine Szene, die in mir etliche Gefühle auslöste. Von Scham bis Hilflosigkeit war alles dabei. Aber am deutlichsten drängte sich mir das Gefühl von Trauer auf. Iker kniete vor Raúl und sprach beruhigend auf seinen Freund ein. Immer wieder fuhr er ihm zärtlich durch die langen, braunen Haare und strich über dessen Hände. José und Gonzo lagen beide neben dem Sessel und beobachteten Iker, wie er – mit einem unüberhörbaren Zittern in der Stimme – an Raúls Vernunft appellierte. Doch noch immer kam keinerlei Reaktion von der Gestalt auf dem Sessel. Es war beinahe so, als würde Iker mit einer Leiche sprechen, versuchen sie wieder zum Leben zu erwecken, ihr mit dem ein oder anderen Kuss Lebensgeister einhauchen wollen. Und dieses Unterfangen war natürlich umsonst. Es versetzte mir einen Stich in die Brustgegend Iker so verzweifelt zu sehen. Noch vor drei Jahren hätte ich diese Szene genossen, aber jetzt war es einfach nur unerträglich. Ich konnte nicht genau sagen, ob Iker tatsächlich vor Verzweiflung weinte, aber lange würde es sicher nicht mehr dauern, bis es dann soweit war. Ich zog mich weiter in die Schatten zurück, um ganz sicher zu gehen, dass mich niemand bemerkte. Während José seinen Kopf auf Gonzos Bauch legte vernahm ich wieder Ikers leicht zitternde Stimme. „Raúl, Luis ist heute Abend angekommen, zusammen mit Simão. Und Fernando hat heute angerufen – er und Luis wollen demnächst mal vorbeikommen. Du weißt schon, ihren Kapitän besuchen, bevor die Saison wieder losgeht und Luis abreisen muss. Ich glaube Fernando meinte sogar, dass sie einen Kuchen backen wollen, aber darauf würde ich nicht wetten. Die beiden sind in der Küche eine Katastrophe, wie du ja weißt. Kannst du dich noch an das Chaos erinnern, das sie veranstaltet haben, als sie hier bei uns Spaghetti kochen wollten? Mein Gott, ich weiß nicht, wie lange ich gebraucht habe, um die Soßenflecken von der Decke zu bekommen.“ Unwillkürlich musste ich grinsen. Raúl hatte mir von diesem Vorfall erzählt. Damals war er auf der Couch gesessen und hatte mit mir telefoniert, um mir live zu berichten, wie Iker sich abmühte die Flecken zu beseitigen. Auf die Idee ihm zu helfen war Raúl natürlich nie gekommen. Die Küche war für ihn ein Territorium, das er nur betrat, wenn Iker nicht da war und der Hunger unmenschlich stark an ihm nagte. Aber Ikers Idee war gar nicht so schlecht. Einfach mit Raúl über die Geschehnisse des Tages zu reden, um so irgendeine Reaktion zu erzwingen. Schade nur, dass es einfach nicht funktionierte. Während ich mir ansah, wie Iker seufzend aufgab und sich einfach nur vor den Sessel setzte, um sich daran anzulehnen und – mit dem Kopf auf den Knien abgestützt – den Morgen abzuwarten wurde mir schlagartig bewusst, dass das hier alles richtig war. Natürlich nicht, dass Raúl eine lebende Leiche, sondern dass Ikers Platz an Raúls Seite war. Er liebte ihn wirklich, das war nicht zu übersehen. Iker machte momentan wahrscheinlich eine noch schlimmere Zeit durch, als ich mir vorstellen konnte. In dieser Beziehung war kein Platz mehr für mich – ich agierte nur noch als sehr guter Freund an Raúls Seite. Ein Freund, der noch immer alles aufgeben würde. Aber ich bin sicher, wenn ich mein Leben für Raúl gab, würde Iker seine Seele opfern und mich aus der Hölle zurückholen.[1] Und das nur, damit Raúl jemanden an seiner Seite hätte, mit dem er glücklich werden konnte. In diesem Moment begriff ich, dass, egal, was ich auch tat, Iker würde etwas Besseres, Größeres machen und mich so meilenweit übertreffen. Leise seufzend drehte ich mich um und ging zurück in mein Zimmer. Und seltsamerweise begriff ich in diesem Moment noch etwas. Dort auf dem Bett lag meine Gegenwart. Der Mensch, für den ich alles aufgeben sollte. Die Person, die ich von Tag zu Tag mehr schätzen und lieben lernte. Es war an der Zeit Raúl als das anzusehen, was er auch war: mein bester Freund und Begleiter seit Kindesalter. Mein Ein und Alles und doch nur die zweite Rolle in meinem Leben. Ich musste endlich lernen zu akzeptieren, dass Raúl an Ikers Seite bestens aufgehoben war und dass ich meine Aufmerksamkeit Simão zuwenden musste. Und ganz ehrlich, nach zwei Jahren Beziehung sollte das doch schön längst drin gewesen sein. Dass er überhaupt so lange unter diesen Umständen an meiner Seite durchgehalten hatte war ein Wunder. Und es stand mir nicht zu seine Geduld noch weiter auszureizen. Am Ende würde ich sonst mit leeren Händen dastehen und Simão wollte ich auf keinen Fall verlieren. Zufälligerweise wachte dieser in eben jeder Sekunde auf, in der ich begriff, wie wichtig er mir doch war. „Was machst du da?“, nuschelte er schlaftrunken und rieb sich müde über seine Augen. „Komm zurück ins Bett.“ Lächelnd folgte ich seiner Bitte und legte mich wieder neben ihn. Kaum hatte ich meinen Kopf auf das Kissen gelegt wurde mein Bauch als Schlafplatz für Simão benutzt. „Wo warst du?“, fragte er gähnend und klopfte meinen Bauch mit der Hand ein wenig weich, bevor er es sich dort richtig gemütlich machte. „Woher weißt du, dass ich weg war?“ Er gab ein Katzenähnliches Schnurren von sich, als ich ihm den Nacken kraulte. „Weißt du, wenn 75 Kilo das Bett verlassen spürt man das.“ Frechdachs. „Buenos días[12]“, begrüßte Iker uns am nächsten Morgen sichtlich fertig, als wir ein wenig verschlafen barfuß in die Küche tapsten. „Boa amanha[13]“, grüßte Simão zurück und ließ sich gähnend auf einen der Stühle plumpsen. „Lange Nacht gehabt?“, fragte Iker müde lächelnd und ich schüttelte den Kopf. „Dafür bin ich zu alt.“ Das Lächeln verlor seine Müdigkeit und Iker tippte sich mit dem Finger an die Stirn. „Dafür ist man nie zu alt“, konterte er und bot uns einen Kaffee an. Simão trank stillschweigend das heiße Getränk aus, während ich versuchte mehr über Raúls Zustand zu erfahren – damit ich diese Sache so schnell wie möglich abschließen konnte. „Sag mal, wie ist es eigentlich dazu gekommen, dass er nun so im Sessel sitzt?“ Ein lautes Seufzen war zu hören und Iker stützte den Kopf auf seinen Handgelenken ab. „Glaub mir, wenn ich das wüsste, würde ich alles dafür tun, dass es nun anders wäre.“ Ich nickte und setzte mich neben Simão, der nun peinlich berührt auf seinen Bauch starrte. Einen Moment später hörte man auch den Grund dafür. Die Küche war erfüllt von einem Donnergleichen Grummeln, das seinen Ursprung in Simãos Magen hatte. „Sorry, let’s have breakfast”, stammelte Iker und tischte in Windeseile spanische Köstlichkeiten auf, die Simão kritisch beäugte. „Is that tasty?“ Iker und ich nickten gleichzeitig und keine Sekunde später schaufelte mein Freund in Rekordzeit alles in sich hinein, was er in die Finger bekam. „Fütterst du ihn nicht?“, lachte Iker und wurde wieder ernst, als ich mit dem Finger Richtung Wohnzimmer zeigte. Ich wartete noch immer auf seine Antwort. „Nach dem Spiel gegen Frankreich habe ich ihn vom Feld aufgegabelt und am nächsten Morgen ins Flugzeug verfrachtet. Da war er schon sehr abwesend. In Madrid hat er noch ein paar Interviews gegeben – und die waren die Hölle für ihn, das konnte man sehen.“ Ich stoppte ihn und hakte an dieser Stelle genauer nach. „Was waren das für Interviews?“ Iker deutete mit einer Handbewegung an, dass es wohl Unwichtige waren. „Nun, das Übliche eben. Was mit Spanien los war, warum wir gegen Frankreich versagt haben, was mit ihm persönlich nicht stimmte und so weiter. Raúl war zwar nicht wortkarg, aber doch sehr zurückhaltend. Er antwortete, dass die Mannschaft noch jung sei und in Zukunft viel erreichen würde. Er persönlich hoffte auf die Europameisterschaft 2008, da das auch sein letztes großes Turnier werden würde.“ Beinahe hätte ich meinen Kaffee auf den Tisch gespuckt. Das konnte er doch nicht tatsächlich gesagt haben. „Du machst Witze, oder?“ Iker schüttelte traurig den Kopf. „Ich wünschte, es wäre einer.“ „Wie kommt er auf die wahnwitzige Idee mit 30 oder 31 Jahren seine Karriere in der Nationalmannschaft zu beenden? Das kann er doch nicht machen – ganz Spanien liebt Raúl.“ Wieder schüttelte Iker traurig den Kopf. „Es hat sich vieles verändert.“ Aber das bestimmt nicht. Raúl war der Publikumsliebling – egal, was passierte. „Spanien liebt Helden, Luis. Raúl hat in den letzten Jahren seine Stellung als primärer Held verloren. Er ist nur noch der Held aus der zweiten Reihe. Einer, der kommt, wenn es keine Hoffnung mehr gibt.“ Oh, wie ich die Spanier manchmal hasste! Verstanden die denn gar nichts? „Gerade so ein Mensch ist ein ganz besonderer Held. Wenn nur er alles noch retten kann, dann ist das eine ganz außergewöhnliche Leistung.“ Iker nickte und beobachtete mit einem amüsierten Blick Simão, der noch immer alles in sich stopfte, was in diesem Haus vorrätig war. „Das weiß ich doch. Aber sag das mal Raúl. Er denkt, dass er der pensionierte Held ist, der von Aragonés gerufen wird, um verspottet zu werden, egal, welche Leistung er bringt.“ Natürlich. Dieser Luis Aragonés... ich hatte schon viel von ihm gehört – von Raúl eigentlich fast nichts Gutes – aber das hier ging mir ehrlich zu weit. „Raúl denkt, dass er abgeschoben wurde. Und das macht ihm Sorgen. Real Madrid hat seinen Vertrag noch nicht verlängert und kein Club der Welt hat das Interesse an ihm geäußert. Er glaubt, dass niemand ihn mehr braucht und vor allem, dass niemand ihn überhaupt noch will.“ Mir war schlecht. Sogar richtig schlecht. „Das ist doch Schwachsinn. Er ist ein großartiger Spieler – einer der Besten, die Spanien und die Welt je hatte. Niemand sollte ihm etwas anderes weismachen.“ Iker stand auf und ging zur Tür, die zum Wohnzimmer führte. Er betrachtete einige Augenblicke seinen Freund auf dem Sessel, von dem er momentan nur den Rücken sehen konnte. „Weißt du, Luis, wir alle wissen das. Aber er hat sich aufgegeben.“ Und genau darin lag das Problem... ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ [1]Aber ich bin sicher, wenn ich mein Leben für Raúl gab, würde Iker seine Seele opfern und mich aus der Hölle zurückholen. Sind ja alles Katholiken und glauben deswegen daran, dass Selbstmord einen in die Hölle bringt. [12] Buenos días = Guten Morgen (ESP) [13] Boa amanha = Guten Morgen (PT) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)