Heilloser Romantiker von Pansy ================================================================================ Kapitel 40: Kapitel 40 ---------------------- Kapitel 40 „Und das sagst du mir nicht nur so?“ Ungläubig blickte Rick zu seinem Freund, der am Fuß des Bettes mit einem ernsten und zugleich erfreuten Gesichtsausdruck stand. „Nein, es entspricht der Wahrheit.“ „Ich weiß gar nicht recht, ob ich weinen oder lachen soll.“ „Entscheide dich für letzteres“, meinte Joe nun grinsend und legte sich längs neben den Dunkelhaarigen. Mit einer Hand spielte er mit der Decke über Ricks Brust, zog sie Stück für Stück von dieser zurück. Allmählich näherte er sich mit seinem Gesicht dem Kinn seines Freundes und begann es mit leichten Küssen zu benetzen, währenddessen sich seine Hand unter sein Hemd stahl und dort sanft mit seinen Fingern Berührungen ausübte. Wohlig seufzte der Kleinere auf, drückte ihn im nächsten Moment aber von sich. /Das sind zu viele Eindrücke und Emotionen auf einmal. Es scheint keinen Anfang und kein Ende zu geben… Du nickst verständnisvoll und bettest deinen Kopf auf meine Brust, obwohl ich dir noch nicht einmal gesagt habe, weshalb mir gerade nicht nach diesen unvorstellbaren Gefühlen, die du in mir auslöst, zumute ist… Ich habe Angst, ich könne mit ihnen in diesem Moment nicht umgehen und mich in einem Rausch verlieren, in dem sich all das Schlechte mischt und ich… dich nicht genießen kann…/ „Ich schätze mich glücklich, auf gewisse Weise zu deiner Familie zu gehören.“ „Was heißt hier, ’auf gewisse Weise’? Spätestens seit heute bist du vollkommen integriert.“ Der Nachdruck in Joes Stimme ließ Rick die Augen schließen. /Hätte mir jemand gesagt, dass ich mit offenen Armen empfangen werde, hätte ich es niemals geglaubt… Selbst die undefinierbaren Blicke von Steven haben sich aufgeklärt und als großes Missverständnis meinerseits herausgestellt. Er akzeptiert mich als der Freund seines Sohnes… Die Freude im Herzen darüber ist groß und ich bin glücklich, aber andererseits… wallen in mir diese abscheulichen Bilder, die mich einfach nicht loslassen können…/ Abwesend streichelte er die Wange des Blonden, dessen ebenmäßiger Atem seine Hand ab und an streifte. /Ein Traum jagt den nächsten, der eine schöner als der andere, der andere grausamer als der eine… / „Nachdem ich nun eine Familie habe, brauche ich meine eigene nicht mehr.“ „Was redest du da?“ Joe fuhr auf und sah entsetzt in die meerblauen Tiefen seines Freundes. „Rick,…“ Obgleich so viele Widerreden auf seiner Zunge lagen, verstummte er, denn der Schmerz in den Augen des Kleineren schnürte ihm die Kehle zu. Wieg’ mich, oh Schrecken der Nacht, in meinem Bette ganz sacht, dass mir der Atem vergeht und das Scheusal erlegt. Komm’, komm’ doch zu mir in mein Bettelein komm’, komm’ doch raub’ mir mein Herzelein. Nimm die Qual, nun nimm sie doch! Nimm das Leid, oh nimm es doch! Komm’, komm’ doch zu mir im Morgengrauen komm’, komm’ doch reiß ein die hoh’n Mauern. Wieg’ mich, oh Schrecken der Nacht, in meinem Bette ganz sacht, dass mir der Atem vergeht und das Scheusal erlegt. „Mit jeder Sekunde, die verstrich, wünschte ich mir drängender, von ihm entschwinden zu können“, begann Rick bewegt. „Allein seine bloße Anwesenheit reichte schon aus, um meinem Körper eine Schwere aufzuerlegen, die mir all meine Kraft nahm. Und als er dann deinen Namen sagte, gefror alles in mir, zog sich mein Herz so sehr zusammen, als ob es im nächsten Moment in Stücke zerreißen wolle. Ich werde diese verdammten Bilder und diese verdammte raue Stimme nicht los, die überhaupt nicht würdig ist, deinen Namen zu sprechen! Und nun könnte ich glücklich sein, glücklich! Und? Ich bin es nicht! Obgleich ich es bin… In mir dreht sich alles und im Endeffekt möchte der Schmerz die Herrschaft über mich erlangen. Aber ich möchte doch endlich glücklich sein! Deine Eltern sind wundervoll und ich sitze hier und werde vor Sorgen verrückt. Schrecklich ist die Angst, dass er dir was antun könnte, und ich habe keine Mittel dich vor ihm zu wahren…“ Immer leiser drangen die Worte aus seinem Mund. „Ich möchte dich doch einfach nur vor ihm bewahren.“ Joe schluckte und wollte eine Hand auf Ricks Schulter legen, zog sie beim ersten Versuch jedoch zurück. In den letzten Tagen hatte er darum gekämpft, dass Rick seine Gefühle preisgab, und nun hatte er es getan und das war wie ein Schock für den blonden jungen Mann. Die Gewaltigkeit seiner Worte war enorm gewesen und er brauchte erst einmal ein wenig Zeit, ihren Inhalt zu verarbeiten. Nach einem erneuten fehlgeschlagenen Versuch bekam er endlich die Schulter des Kleineren zu fassen und zog sie zu sich. Still fiel Rick in seine Arme und regte sich nicht mehr. Mit all seinen Emotionen schien all die Lebendigkeit aus ihm gewichen zu sein. „Es wird schon… alles gut werden…“ Bedächtig senkte er die Lider. „Solange wir zusammen sind, wird uns nichts geschehen… Vertraue auf das Gute… Ich liebe dich… so sehr…mein kleiner Romantiker…“ „Die Welt dreht sich unaufhörlich und das Glück möchte nach mir greifen, aber ich bekomme es nicht zu fassen… obwohl ich dich spüren kann… mit jeder Facette meines Körpers kann ich dich fühlen, deinen Herzschlag vernehmen… Es schlägt schnell, so wie meines…“ „Wir sind eins und nichts kann uns spalten…“ Einen letzten Kuss hauchte Rick auf Joes Lippen, bevor er seinen Mantel zuzog und über die Türschwelle trat. „Soll ich dich nicht doch begleiten?“ Der Kleinere schüttelte mit dem Kopf und hob die Hand zum Abschied. „Das muss ich alleine machen.“ Lange sah der Blonde seinem Freund nach und stand noch immer ungeschützt in der kalten Luft, als dieser bereits eine ganze Weile aus seinem Blickfeld verschwunden war. /Wenn du dich unwohl fühlst, dann komm’ zurück zu mir…/ Irgendwann löste sich Joe aus seiner Starre und kehrte zurück ins Haus, in dem er sich mit einem Mal vollkommen einsam fühlte. Seine Eltern saßen im Wohnzimmer, aber sie konnten den dunkelhaarigen jungen Mann einfach nicht ersetzen. War es wirklich richtig gewesen, ihn alleine gehen zu lassen? Hielt er denn die erneuten Gefühlseinstürme aus? Wie oft hatte er ihn danach gefragt, ihm dabei tief in die Augen gesehen und immer wieder eine Zustimmung erhalten. Allmählich begann er an der Richtigkeit zu zweifeln, obgleich er wusste, dass eine noch drastischere Konfrontation mit Homosexualität Ricks Eltern zu keiner Versöhnung bewegen würde. Gab es denn überhaupt eine Chance auf sie? Umso mehr er darüber nachdachte, umso unwahrscheinlicher erschien sie ihm. Er hatte den Schmerz in ihren Augen gesehen, er hatte Rick den Brief mitgebracht, aber nun erschien ihm alles als blanker Hohn. Als ein Witz, auf den er hereingefallen war. Mit seiner Rechten fuhr er sich durchs Haar und trat mit einem Fuß gegen den Mülleimer, der laut an die Wand knallte. Er hörte die Stimme seiner Mutter nach oben in sein Zimmer dringen, aber er reagierte nicht darauf. Sollte sie sich doch die Lunge aus dem Leib schreien, was kümmerte es ihn, jetzt wo Rick auf dem Drahtseil über einer tiefen Schlucht balancierte und es nicht mehr in seiner Macht lag, ihn vor dem Fallen zu hindern. Ein seltsames Gefühl beschlich ihn, was ihn seine Beine unter sich nachgeben ließ. Hart fiel er auf die Knie und eine Hand drückte er fest an seine Brust. /Ich habe ihn dazu veranlasst, ihn ermutigt, ihn gedrängt. Wenn er…/ „… fällt… dann… durch mich…“ Hohl echoten seine Worte an den Wänden und trugen seine eigene Stimme unbedeutend und dumpf zurück an seine Ohren. Die Liebe ließ auch ihn die Gefühle verstärkt erleben. Etwas, was er vorher nicht gekannt hatte und was ihn gerade an den Rand des Wahnsinns trieb. Er hatte doch nichts weiter gewollt, als dass Rick lächeln und von sich behaupten konnte, dass er eine Familie hatte, die ihn liebte. Und nun hatte er ihn damit geradewegs in den Abgrund geschickt. Mit zu Faust geballter Hand schlug er auf die Wand ein, was ihm nichts als Schmerzen bereitete und doch konnte er damit nicht aufhören. Als die ersten Blutstropfen das Weiß der Wand befleckten, vernahm er das geräuschvolle Schlagen seiner Zimmertür gefolgt von lautem Stimmengewirr, das für ihn nur aus sinnlosen Silben bestand, die jedwedem Zusammenhang entbehrten. Plötzlich spürte er warme Hände, die ihn hochzogen und heißen Atem, der irgendwas von ’beruhigen’ hauchte. Wie um alles in der Welt konnte man sich denn beruhigen, wenn der Mensch, der einem am meisten am Herzen lag, kurz vor dem Zusammenbruch stand? /… und es selbst zu verschulden hat…/ Widerwillig ließ sich Joe hinunter in die Küche führen, wo bereits heißer Dampf aus zwei Tassen stieg und wohligen Früchteduft im Raum verbreitete. Es roch nach Erdbeeren und Kirschen, Johannis- und anderen Beeren. Sanft wurde er auf einen der Stühle gedrückt und eine der beiden Tassen wurde ihm bestimmt unter die Nase geschoben. „Trink!“, befahl eine tiefe Stimme, die viel Härte, aber auch Güte in sich trug. Schweigend griff der Blonde nach dem Porzellan und führte es an seine Lippen. Kurz pustete er, dann nahm er einen Schluck, auch wenn ihm gerade nicht nach irgendwelchem Lebensmittelverzehr zumute war. Viel lieber wollte er Rick zurückholen, bevor es zu spät sein würde. „Gut, nun höre mir einfach zu. Derweil kannst du dich gerne weiter in Schweigen hüllen, Hauptsache du verfolgst das, was ich sage.“ Fest sah Steven seinen Sohn an und legte eine Kunstpause ein, in der er abzuwägen versuchte, ob Joe aufmerksam war oder nicht. Leise begann frisch fallender Schnee an das Fenster zu rieseln, eine Akustik, die nicht lange währte, da Steven fortfuhr: „Als ich deine Mutter kennen lernte, steckte ich noch mitten in einer Beziehung, aber es hinderte mich dennoch nicht daran, mit Veronica auszugehen. Wir trafen uns oft und verstanden uns von der ersten Minute an ausgezeichnet. Ich merkte, wie ich mich von Tag zu Tag mehr in sie verliebte und wie ich mich von meiner damaligen Freundin immer mehr entfernte. Ziemlich bald schon beendete ich die eine Beziehung und fing eine neue an. Bevor ich deine Mom getroffen habe, war ich, das weiß ich seitdem ganz sicher, nie richtig verliebt gewesen, doch Veronicas Wesen hat mich von Anfang an beeindruckt und mit jeder Facette, die ich an ihr entdeckt habe, wuchsen meine Faszination und meine Zuneigung ihr gegenüber.“ Steven schenkte sich Tee nach und rührte mit einem kleinen Löffel ein wenig Kandiszucker hinein, den er anschließend wieder beiseite legte. Indessen warf er einen kurzen Blick auf die großen, weißen Flocken, die in wilden Bahnen vom Himmel fielen. „Als Rick entschied, von hier fortzugehen, hast du keinen Augenblick gezögert und bist mit ihm gegangen. Und in diesem Moment wusste ich bereits, dass du in ihm die Liebe finden würdest, die ich in deiner Mutter gefunden habe. Wenn ich dir das gesagt hätte, hättest du mir niemals geglaubt, darum behielt ich es all die Monate für mich. Ich rechnete bei jedem Besuch von dir damit, dass du uns offenbaren würdest, dass ihr mehr als Freunde seid. Natürlich kann ich keine echten Parallelen zwischen dir und mir ziehen, aber unsere Gefühle haben dieselbe Basis und darum könnte ich eure Beziehung nicht verurteilen, selbst wenn es jemand von mir verlangen würde. Das habe ich dir vorhin bereits mitgeteilt, weshalb wir nun zu dem kommen, was ich dir unbedingt mit auf den Weg geben möchte.“ Er streckte seinen linken Arm über den Tisch hinweg und legte seine Finger um Joes Kinn, das er lediglich berührte, nichts weiter. „Sieh mich bitte an.“ Obwohl er es bevorzugt hätte, weiterhin die zartgelben Fließen anzublicken, kam Joe der Forderung nach. Steven verlangte ansonsten nichts und zog seine Hand wieder zurück. „Manchmal gibt es Situationen, in denen selbst der Partner keine Möglichkeit hat zu helfen und denkt er versage. Es gibt kaum etwas Nervenaufreibenderes als tatenlos herumzusitzen und ohnmächtig aller Optionen zu sein. Ohne dich wäre Rick nicht so weit gekommen und du solltest ihn einzig darin unterstützen, auf seine Eltern zuzugehen. Und das kannst du nur, indem er weiß, dass du hier auf ihn wartest, dass er jederzeit hierher zurück kann, weil hier Menschen leben, die ihn lieben. Ich konnte die Reaktion seiner Familie niemals auch nur in irgendeiner Art und Weise begreifen, doch auch sie haben zwei Jahre leidvolle Erfahrungen sammeln können. Räume ihnen die Chance ein, die du uns gewährt hast. Vielleicht verstehen sie es.“ „Und wenn nicht?“, entgegnete Joe matt. „Dann wird dich Rick noch vielmehr brauchen als du dir vorstellen kannst. Ich hoffe, dass du für diesen Fall gewappnet bist.“ „Ich muss zu ihm!“, meinte der Jüngere entschlossen und sprang regelrecht vom Stuhl. „Lass es sein.“ „Nein, ich muss. Ich habe schon viel zu viel Zeit vergeudet!“ Während er durch den Flur lief, merkte er, dass sein Atem nur stoßweise seinen Mund verließ. Tief sog er daher die Luft ein, schloss für einen Moment die Augen und versuchte, Ruhe in sein aufgewühltes Inneres zu bringen. Festen Schrittes lief er gen Ricks Elternhaus; ein Weg, den er als Kind schon im Schlaf gefunden hatte. Gedankenverloren stand Rick vor dem Haus seiner Kindheit. Hinter den Fenstern sah es dunkel aus und keine Schatten schienen sich darin zu regen. Wie lange er bereits nur wenige Meter entfernt verharrte, war schwer zu sagen, denn so fern sein Blick war, so fern erschien ihm auch die Zeit. Ob die Sekunden zu Minuten wurden oder die Stunden zu Minuten oblag ihm vollkommen; er hatte mit sich zu kämpfen, das war das einzige, was für ihn in diesen Momenten zählte. Sollte sich der Zeiger doch schneller drehen oder langsam dahin kriechen, das war doch nicht von Belang. In sanftem Rhythmus sog er die frische Luft ein und aus. Die Nässe, die sich allmählich durch seine Kleider fraß, zog seine Aufmerksamkeit nicht auf sich, denn das tat etwas völlig anderes. Unentwegt betrachtete er die helle Fassade, die viel trüber als üblich wirkte aufgrund des reinen Weißes des Schnees, der vor ihr tanzte. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf, Erinnerungen, Erlebnisse und Gespräche aus vergangenen Tagen. Vieles geprägt von Schönheit, Freude und anderen positiven Prädikaten. Weniges mit Leid und Trauer geartet. Aber dieses Wenige barg Intensität in sich. Vergangen war vergangen. Aber vergangen hieß nicht verblichen. In Ricks Innerem focht ein Kampf zwischen den guten und den Schattenseiten des Lebens. Er wog den Rausschmiss mit den freudigen Ereignissen ab. Und immer wieder kam er zu dem Entschluss, dass er endlich auf sich aufmerksam machen solle. Dennoch stand er weiterhin wie angewurzelt auf dem weißen Asphalt und erweckte nicht den Anschein, als ob sich das so bald ändern würde. Zu lebhaft war das Bild von den wütenden, funkelnden Augen und dem herrischen Gesicht, das tiefe Enttäuschung in sich barg. Nein, er würde nie vergessen können, wie ihn sein Vater angesehen hatte. Wie despotisch er ihn des Hauses verwiesen hatte. /Aber ich habe ihnen doch vergeben… Entsprach das nur Illusion?... Ich habe ihnen in der Tat verziehen und doch schaffe ich es nicht, die letzten Meter zu überwinden. Allein schon der Anblick unseres Hauses schnürt mir die Kehle zu und möchte mich als Feigling entlarven. Als jämmerlichen Sohn, der es nicht wagt, seinen eigenen Eltern gegenüberzutreten. Dabei haben sie mich in diese Welt geboren, ich bin ein Teil von ihnen, ihr Fleisch und Blut. Ein zweites Mal können sie mich doch gar nicht verstoßen!... Ha, natürlich können sie das. Der Brief war keine Garantie dafür, dass sie es nicht tun würden. Vielleicht sollte ich einfach wieder gehen ohne sie gesehen zu haben. Vielleicht sollte ich einfach Joes Familie zukünftig als meine erachten und meine Eltern auf immer vergessen…/ Spott zierte seine Gesichtszüge. Sich selbst meinend schüttelte er mit dem Kopf. Er hatte auf den Brief vertraut. Bedingungslos all seine Hoffnungen in das Wort ’Mom’ gelegt. /Wie immer habe ich das Gute in all den Worten sehen wollen, den Funken Hoffnung, der mein Herz berührt. Dabei kann selbst dieses kleine Wort eine reine Floskel sein, ein Ausdruck der Gewohnheit, einer, der lediglich den Fakt beschreibt, dass sie mich auf die Welt gebracht haben. Wie kam ich auf die Idee, dass er die Liebe zu mir symbolisiert? … Joe hat diese meine These bekräftigt und ich konnte nur Wahrheit in seinen Augen erblicken. Aber was wäre, wenn selbst er sich getäuscht hat? Oder schlimmer noch, sich täuschen ließ? Dass meine Eltern ihm nur etwas vorgemacht haben, von wegen Reuegefühl und Bedauern? … Wer einmal seine Macht ausspielt, tut dies immer wieder. Und mein Vater hat dies eindeutig getan. Ob er es erneut machen wird? Würde er ein weiteres Mal derart grausam sein? … Würde meine Mom wieder tatenlos zusehen, wie man mich verstößt? Etwaige Trauer geschickt verbergen und keine Regung beim Abschied zeigen? … Eure Mauern wirken grau, euer Garten verlassen, so als ob hier nie jemand wirklich gelebt hätte. Dabei kommt es mir so vor, als wäre es erst gestern gewesen, wo Joe und ich uns hier eine wilde Schneeballschlacht geliefert haben. Es schneite genauso wie heute, die Flocken stoben in gleichem Maße unkontrolliert und leicht vom Himmel./ Ricks Blicke suchten das gesamte Grundstück ab. /Nichts weist hier auf Lebendigkeit hin. Nicht einmal die Wildheit des Schnees vermag diesem Ort Vitalität zu verleihen. Seit meinem Auszug ist viel geschehen. Aber euer Anwesen erweckt mir den Eindruck, als hätte es in eurem Leben keine Neuerungen gegeben. Außer Disharmonie und Gleichgültigkeit. … Kennt ihr das tiefgehende, wärmende, leidenschaftliche Gefühl der Liebe nicht? Habt ihr es denn gänzlich begraben als ihr mich ächtetet? Die Natur kann nichts für eure Unzufriedenheit, die ihr mir gegenüber hegtet, und doch habt ihr sie leiden lassen. Es ist nicht die Kälte, die den Bäumen und den Sträuchern zu schaffen macht, sondern euer erstarrtes Herz. Habt ihr die Urkraft unseres Seins aus Trotz vernachlässigt? Weil euer Sohn eure Maßstäbe nicht erfüllte? … Wenn dem so wäre, dann wärt ihr diejenigen, die den hohen Gesetzen der Menschlichkeit widersprächen. Zu euren Tugenden zählten einmal auch Eifer und Hingabe. … Habt ihr eure eigenen Normen vergessen?/ Einen Arm von sich streckend bückte sich Rick und griff nach dem Schnee, der sich ziemlich feucht anfühlte. Er nahm eine Hand voll und formte ihn zu einem kleinen Ball, den er anschließend hart die Straße entlang warf. Schon während des Fluges zerfiel er und auf diese Art folgten drei weitere misslungene Kugeln, doch dem Dunkelhaarigen diente das zur Besänftigung seines aufgewühlten Inneren. Als er aber das vierte Mal dabei zusah, wie nur einzelne Flocken ihr Ziel, das Weite, erreichten, hielt er in allem inne und schaute mit zusammengepressten Lippen gen Haustür. /Gut, ich gehe nun zu euch, aber glaubt nicht, dass ich mich von euch noch einmal wie einen Verbrecher behandeln lasse, denn das bin ich nicht! Wenn, dann breche ich einzig und allein eure Gesetze und die sind unnütz und damit vollkommen überflüssig!/ Energisch setzte er einen Fuß vor den anderen, aber sanfte Vibrationsstöße ließen ihn vor der Haustür in seinem Fortschreiten innehalten. Er war davon überzeugt, dass der Anruf von Joe kam und er wollte ihm auf alle Fälle mitteilen, dass es ihm gut ging, deshalb drückte er sofort die Taste ’Abheben’ ohne vorher auf das Display zu schauen. „An deiner Stelle würde ich eine Flucht nie wieder in Erwägung ziehen“, ertönte es rau noch ehe er selbst ein Wort sprechen konnte… Als der Schnee immer dichter wurde, war Joe nur noch zwei Straßen von Ricks Elternhaus entfernt. Eilig lief er über die weiße Decke, die sich mittlerweile unter ihm gebildet hatte und noch rein und unberührt aussah. Einzig seine Abdrücke zeichneten sich hinter ihm ab. Ein ungutes Gefühl breitete sich zunehmend in seinem Bauch aus, das er zuvor allein der Sorge um Ricks Gesundheit zuschrieb. Doch allmählich begann er daran zu glauben, dass mehr dahinter steckte. /Deine Eltern werden dir körperlich nichts antun, da bin ich mir eigentlich sicher. Und doch bestärkt sich in mir die Vermutung, dass du in Gefahr schwebst und mich dringend brauchst. Meine Füße tragen mich nicht schneller, obwohl mein Herz bereits rast… Dein Vater darf dich nicht erneut vor den Kopf stoßen. Du würdest wie ein Schiff an einem Berg zerschellen. Das darf ich nicht zulassen!/ Er rannte, bog um die Ecke und kam keuchend vor einem ihm bekannten Grundstück zum Stehen. Nach Luft ringend besah er kurz das zweistöckige Haus, das auf ihn verlassen wirkte. Einen Augenblick später streifte sein Blick den Gehweg, auf dem sich viele Fußabdrücke abzeichneten. /Du konntest dich nicht dazu durchringen, gleich hineinzugehen. Wer könnte dir das verdenken./ Er folgte den Spuren seines Freundes, die sich mit einem Mal in nichts aufzulösen schienen. Wenige Meter vor der kleinen Treppe, die zum Eingang führte, gab es keine Fußstapfen mehr. Joe konnte noch dutzend Mal den Weg absuchen, er würde immer wieder dasselbe erblicken: unangetasteten Schnee. Unentschlossen verharrte er. Weshalb endeten die Spuren abrupt? War Rick wieder gegangen? Falls ja, wohin? Wäre er ihm dann nicht begegnet? Hätten sie nicht unausweichlich aufeinander treffen müssen? Nervös holte Joe sein Handy hervor und wählte Rick an. /Unentwegt läutet es ohne von dir unterbrochen zu werden. Warum gehst du nicht ran? Magst du nicht mit mir reden? Was ist geschehen, dass du mich ignorierst?/ Während er stumm das Tuten verfluchte, kehrte er dem Haus den Rücken zu und entfernte sich ein paar Schritte. /Bitte geh doch ran!/ Zermürbt klappte er sein Handy wieder zu und steckte es zurück in die Hosentasche. Als er sich dafür entschied, einen anderen Weg zurück nach Hause zu gehen, stockte ihm mit einem Mal der Atem. Zeitlupenartig verfolgte er die Ereignisse, die sich hier zugetragen haben mussten. In dem Schnee erkannte er die Fußabdrücke von mehr als einer Person. Ricks und die eines anderen Mannes, er konnte sie als solche identifizieren, da sie für eine Frau zu groß waren, überlappten sich, daneben Schleifspuren, die darauf hinwiesen, dass jemand gewaltsam hinter jemand anderem hergezerrt worden war. Sein Körper fühlte sich wie Blei an. Sein Herz schlug wild. /Nein… nein!/ „Riiiiiiiiiiiick!!!!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)