My last chance von sterekura (... vanished into thin air) ================================================================================ Kapitel 1: Lonely Star ---------------------- My last chance ...vanished into thin air ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Such a lonely day And it’s mine The most loneliest day of my life Es war meine letzte Chance gewesen… mich zu beweisen. Allen zu zeigen, dass der leuchtende Stern Raúl noch immer hoch am Firmament stand und mit den Anderen um die Wette strahlte. Alles hing von diesem einen Spiel ab. Meine Revanche gegen Frankreich und die Überwindung des Spanien-Fluchs. Der Tag des Achtelfinales gegen Frankreich, mein 29. Geburtstag, hätte in die Fußballgeschichte Spaniens eingehen können. Gut, das tat er zwar, aber keineswegs so triumphal, wie wir das gehofft hatten. Ich habe verzweifelt die Hand nach der Chance ausgestreckt, aber bevor ich sie ergreifen konnte, hatte sie sich schon in Luft aufgelöst. Ich hatte sie verpasst. Alles vermasselt. In jeder Hinsicht schlichtweg versagt. Ich saß im Flieger zurück nach Spanien und neben mir war eigentlich Ikers Platz, aber da wir noch am Boden waren, hielt er sich irgendwo bei unseren Mannschaftskollegen auf, die alle hinter uns saßen. Ich hingegen hatte keine Lust mich mit irgendjemandem zu unterhalten. Meine Gedanken waren momentan auch nicht in diesem Flugzeug, das uns nach Hause brachte. Dorthin, wo nichts mehr sicher war und schon gar nicht meine Zukunft... Such a lonely day Should be banned It’ a day that I can't stand Seufzend legte ich meine Hand auf die kalte Fensterscheibe und sah auf die vielen Regentropfen, die sich langsam das Glas herunterquälten. Obwohl es in Deutschland heute Morgen in Strömen regnete, fielen die Tropfen an meinem Fenster irgendwie im Schneckentempo. Aber egal, wie schnell sie die Scheibe herunterliefen, ich konnte sie mit meinen Fingern nicht erreichen. Der Regen, der mir eigentlich immer ein Gefühl von wilder, unbändiger Freiheit gab, war nun trotz seiner Nähe unglaublich weit entfernt von mir. So blieb mir nur übrig zuzusehen, wie immer neue Regentropfen das Fenster herunterliefen und meine Hand unberührt ließen. Ich musste unwillkürlich an den Abend zuvor denken und augenblicklich fingen meine Augen an zu brennen. Aber ich konnte nicht zulassen, dass ich anfing zu weinen. Es gehörte nicht zu meinen Aufgaben Tränen zu zeigen. Deswegen sah ich einfach nur zu, wie der Himmel für mich weinte... The most loneliest day of my life The most loneliest day of my life ~*~*~*~*~*~ 27.06.2006, am Tag zuvor ~*~*~*~*~*~ Ein beinahe einstimmig gebrummtes Alles Gute zum Geburtstag, Raúl empfing mich, als ich mit Iker zusammen in den Tourbus einstieg, der uns nach Hannover bringen sollte. Irgendwer klopfte mir auf die Schulter und ich nahm verschwommen wahr, wie eine mir verhasste Stimme laut brüllte: „Wir feiern Raúls Geburtstag nach unserem Sieg heute Abend.“ Ich setzte mich so schnell ich nur konnte irgendwo hin und versuchte die Worte unseres Trainers zu vergessen. Heute Abend feiern. Pah, und was, wenn wir das Spiel gar nicht gewinnen würden? Dann hatte doch niemand mehr Lust auf Feiern. Das hatte sich dieser altersschwache Saftsack ja wieder gut ausgedacht. Wahrscheinlich spekulierte er sogar darauf, dass wir verlieren würden, nur um mir den Tag noch mehr zu vermiesen. Wenigstens hatte Iker es geschafft diesem Tag die nötige Bedeutung zu geben, denn von ihm bekam ich das Geschenk meines Lebens. Iker hatte alles daran gesetzt unseren Trainer zu überreden mich heute zum Kapitän der Mannschaft zu machen. Was hieß, dass er es sogar geschafft hatte diesen Zombie dazu zu bringen mich von Anfang an spielen zu lassen. Ich war also endlich einmal der Kapitän der A-Mannschaft und hatte so von Iker die Chance bekommen, die ich brauchte. Er wusste, wie wichtig es mir war mich zu beweisen. Wie schon so oft hatte Iker mir einen Herzenswunsch erfüllt und somit eine Tür geöffnet, durch die ich mit eigener Kraft gehen musste. Es lag also ganz allein an mir, was ich aus Ikers Gefallen machte. Und ich war zuversichtlich. Meine Bestform hatte ich zwar noch lange nicht wieder erreicht, aber ich arbeitete hart daran. Im Training schoss ich so viele Tore, bis Iker mir gefrustet den Ball an den Hintern schmiss.[1] Ich trainierte doppelt so hart wie alle anderen, stemmte im Fitnessraum mehr Gewichte, rannte deutlich mehr Runden. Kurz gesagt: Ich forderte meinem Körper alles ab. Iker meinte im Hotelzimmer, wenn ich schwitzend, ausgebrannt und vor Erschöpfung weinend auf dem Bett lag, immer wieder: „Lass es doch gut sein. Jeder weiß, was du drauf hast. Wir alle stehen hinter dir. Hör auf in so kurzer Zeit die Grenze des Ertragbaren so oft zu überschreiten, denn dann nützt dir am Ende all deine harte Arbeit nichts.“ Aber ich quälte mich weiter. Luis Aragonés sollte sehen, mit wem er sich angelegt hatte. Auf Iker hörte ich im Training schon lange nicht mehr, denn so langsam wurden die Gerüchte über uns immer lauter. Die beiden haben doch was am Laufen und nur deswegen lässt Casillas die Torschüsse von Raúl durch. Klar, dass man dem gescheiterten Geliebten helfen will, aber nicht auf Kosten der Mannschaft war extrem häufig zu hören.[2] Fernando Torres hatte mich einmal auf seine schüchterne, aber liebevolle Art nach dem Duschen auf das Thema angesprochen, da ihm die Gerüchte zu viel wurden und er Klarheit wollte. Es war ein schönes, aufmunterndes Gespräch gewesen, durch das Fernando und ich sogar irgendwie gute Freunde geworden sind. Ich erinnerte mich in schlechten Zeiten gerne an sein Lächeln, als er mich so zurückhaltend am Arm hielt und einfach kein Wort herausbrachte. „Ähm, Raúl?“ Ich spürte, wie Fernando meinen Arm wieder losließ und nahm das Handtuch von meinem Kopf. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass Iker schon längst zu Hause sein musste und ich wollte ihn nicht allzu lange warten lassen. Außerdem freute ich mich auf mein Bett, denn ich war natürlich wieder fix und fertig. „Hm?“, war also alles, was ich als Antwort noch fertig brachte und wandte mich meinem jüngeren Kollegen zu. Er wurde etwas rot und seine unzähligen Sommersprossen waren plötzlich so deutlich sichtbar, dass ich anfing sie geistesabwesend zu zählen. Erst seine stockenden Worte rissen mich wieder in die Realität zurück. „Stimmt es, dass Iker Casillas dir im Training Vorteile verschafft?“ Er war zwar schüchtern, aber wenn er mal etwas sagte, dann war es doch sehr direkt. Ich war so verblüfft, dass ich ihn einfach nur anstarrte und nicht einmal anfing zu denken, was ich auf diese Frage antworten sollte. Fernando allerdings fasste mein Schweigen negativ auf und setzte einen entschuldigenden Gesichtsausdruck auf. „Nicht, dass mir das etwas ausmachen würde, ehrlich. Ich bin nur... so schrecklich“, fing er an und endlich gehorchten mir sowohl mein Gehirn, als auch mein Mund wieder und ich unterbrach Fernando, um ihm die Peinlichkeit zu ersparen die Worte selbst auszusprechen. „So verdammt schrecklich neugierig, ich weiß schon. Nicht umsonst nennen wir dich El Niño“, meinte ich lächelnd und schüttelte kurz meinen Kopf, damit die Wassertropfen, die mir ständig auf die Schultern fielen, aus meinen Haaren waren. Fernando grinste fröhlich und legte mir mein Handtuch wieder auf den Kopf. „Entschuldige bitte, eigentlich geht es mich ja auch gar nichts an.“ „Schon in Ordnung, das ist ja anscheinend das Thema momentan in der Mannschaft. Aber, um dir endlich deine Frage zu beantworten: Nein. Im Gegenteil, ich habe Iker sogar gebeten mich im Training mit besonderer Härte zu behandeln.“ Ich machte den Reißverschluss meiner Tasche zu und setzte mich auf die Bank in der Kabine, da ich das Gefühl hatte, dass Fernando längst noch nicht alles losgeworden war, was ihm auf der Zunge lag. Er nickte wissend und zog sich zuerst sein dunkelblaues T-Shirt an, bevor er wieder das Wort an mich richtete. „Ich wusste, dass du so etwas nicht machen würdest – also Iker um Hilfe bitten dir im Training Vorteile zu verschaffen – und dass du noch immer so gut bist...“ Er stockte und sah sich kurz um, als wolle er sicher gehen, dass wir auch wirklich alleine waren. Doch selbst, nachdem er das ganz genau wusste, sprach er nicht weiter und machte auch nicht den Eindruck, als würde er so schnell wieder den Mund aufmachen. Also ergriff ich die Initiative, sonst würden wir Morgen früh noch immer hier sitzen. „Was willst du noch hören?“ Er riss erschrocken die Augen auf und wandte sich hochrot ab, um eine Jeans anzuziehen. Erst nachdem auch der Gürtel zu war brachte er ein gehetzt klingendes Nichts heraus, was ich ihm natürlich nicht abkaufte. Ich lehnte mich an der kalten Wand an und beobachtete Fernando grinsend. „Da ist doch noch etwas, was du wissen willst – also frag schon. Ich werde dir schon nicht den Kopf abreißen, sollte mir die Frage nicht gefallen.“ Er atmete tief durch, bevor er mit seinen Fingern nervös durch die hellen Haare fuhr und sich noch einmal in der Kabine umsah. „Du und Iker... also, ihr beide... seid ihr wirklich – also, seid ihr ein Paar?“ Eine Weile herrschte eine angenehme Stille zwischen uns und plötzlich fing ich an laut zu lachen. Er war einfach unmöglich. Mir so eine Frage zu stellen, wo ihm die Antwort doch eh schon klar war und er sie nur aus meinem Mund hören wollte. Fernando brachte auch ein Lächeln zustande, aber dennoch lag in seinen braunen Augen ein bettelnder und wartender Ausdruck. Ich packte meine Tasche und stand auf. An der Tür drehte ich mich noch einmal zu ihm um. „Du bist manchmal wirklich verdammt neugierig, Fernando.“ Er lachte nun sein befreites, kindliches Lachen und rannte mir hinterher, da ich die Kabine schon verlassen hatte. Obwohl er seine Antwort nun besaß lag ihm wohl eine Sache noch immer auf der Zunge und so wartete ich, bis er mich eingeholt hatte. „Raúl.“ Wir sahen uns einen Moment lang schweigend an, bis er die Lippen zu einem angedeuteten Lächeln formte und mit allem Ernst, den er aufbringen konnte, sagte: „Es freut mich, dass du jemanden hast, der dir in diesen schweren Zeiten Halt gibt. Ich hoffe für dich und Iker, dass das auch noch eine ganze Weile so bleibt.“ Gemeinsam lachend machten wir uns auf den Weg zu unseren Autos. Mir bereiteten die Gerüchte keine Sorgen – und Fernando erweckte nicht den Anschein, als würde er ihnen zustimmen oder über unser Gespräch von neulich reden wollen. Iker störte es zwar ein wenig, dass er manchmal mit einem unzufriedenen Blick angesehen wurde, aber wir taten nichts, was die Gerüchte bestätigen konnte. Bis auf das gemeinsame Hotelzimmer natürlich. Die restliche Zeit vor dem Spiel verging wie im Flug. Kaum waren wir aus dem Bus ausgestiegen hörte ich schon den Anpfiff vom Schiedsrichter. Da war sie also: meine große Chance den Stern Raúl wieder aufleuchten zu lassen. Aber das war leichter gesagt, als getan. Denn nach nur wenigen Minuten wurden meine Beine so schwer, als wären sie aus Beton. Ich konnte sie kaum noch bewegen, geschweige denn mit ihnen einen Sprint zum Tor hinlegen. Doch nicht nur meine Beine machten mir zu schaffen. Auch meine Arme waren unnatürlich schwer und nach einer viertel Stunde wurde mir plötzlich schwindlig. Ich hatte die unangenehme Befürchtung, dass Ikers warnende Worte nun Realität wurden. Ich war am Ende, mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Er verlangte nach Ruhe. Such a lonely day Shouldn't exist It’s a day that I’ll never miss Aber doch nicht in so einem wichtigen Spiel. Ich hatte mit Frankreich noch eine Rechnung offen, verdammt! Ich wollte meinen Fehler von damals wieder gutmachen, als ich damals den entscheidenden Elfmeter zum 2:2 Ausgleich verschoss. Gegen Frankreich hatte Spanien seit Jahren bei großen Turnieren nur noch verloren und es musste endlich einmal ein Sieg her. Wir waren eine gute Mannschaft – jung und dynamisch. Anders als Frankreich, die eher auf alteingesessene Spieler setzten. Fußballer, wie mich, wie unser Trainer immer wieder gerne betonte. Ich konnte jetzt nicht aufgeben, selbst, wenn mein Körper etwas anderes sagte. Zu viel hing von diesem Spiel ab. Wir durften nicht schon wieder aus dem Turnier ausscheiden, wo wir doch jetzt so beliebt und hochgelobt waren. Der sogenannte Spanien-Fluch musste nun endlich einmal gebrochen werden. Es würde eine nationale Katastrophe geben, sollten wir verlieren. Ich wollte gar nicht daran denken, was in Spanien los sein würde, wenn wir Morgen schon wieder aus Deutschland abreisen müssten. Viele junge Spieler würden mit der Niederlage nicht zurecht kommen, unter anderem auch Fernando. Schließlich war er der Star der Mannschaft in dieser Weltmeisterschaft geworden und dem deutschen Torjäger Miroslav Klose dicht auf den Fersen. Fernando hatte das Zeug dem Mann den Titel wegzunehmen. Aber dazu mussten wir heute gewinnen. Außerdem hatte ich nicht die geringste Lust dazu weiterhin der Seelsorger der Mannschaft zu sein. Ich konnte schon längst nicht mehr gute Laune vortäuschen, die ich nicht hatte, nur um den jüngeren Teamkollegen eine heile und sorglose Welt vorzuspielen. Ich wollte wieder aus vollem Herzen lachen können, so wie früher. Doch mein Körper hatte andere Pläne als mein Geist. In der Halbzeitpause nahm mich unser Trainer mit vor die Tür und ließ ein Donnerwetter auf mich nieder, das mir Kopfschmerzen bereitete. Warum ich nicht Torgefährlich wurde, weswegen ich mir keinen Ball holte und weshalb zum Teufel ich so verdammt schlecht war. Ich konnte ihm doch wohl kaum sagen, dass ich schon seit der ersten Minute keine Kraft mehr hatte. Mit zusammengepressten Zähnen quetschte ich eine wütende Entschuldigung hervor und Luis Aragonés ließ mich kopfschüttelnd vor der Kabine stehen. Er holte mich auch nicht dazu, um dem ganzen Team das weitere Vorgehen zu sagen. Und ich war zu stur, um die Kabine zu betreten. Schließlich kam die Mannschaft wieder heraus und Luis hielt mich noch einmal zurück. „Solltest du dich nicht bessern, werde ich dich auswechseln. Egal, was Iker sagt, mir bist du schlichtweg zu schlecht. Ich dulde keine weiteren Fehler von dir, ist das klar?“ Such a lonely day And it’s mine The most loneliest day of my life Als ob ich in dieser Situation das Gesabbel von dem alten Mann noch gebraucht hätte. War es nicht schon schlimm genug, dass mir das Treppensteigen zum Fußballfeld alle Luft raubte, die ich besaß? Iker lief neben mir und sah mich immer wieder besorgt an. „Du siehst blass aus, alles in Ordnung?“, flüsterte er, als niemand auf uns achtete. Ich nickte und winkte mit der Hand ab. „Alles bestens.“ Iker sah zweifelnd zu mir herunter und zog sich seine Handschuhe an. „Du spielst aber nicht so, als wäre alles bestens.“ Mein Kopf dröhnte, mein Herz raste wie verrückt, mir fehlte die Luft zum Atmen und in genau diesem Moment musste gerade Iker mir auch noch sagen, wie schlecht ich spielte? Mir wurde das alles einfach zu viel. Ich löste mich ein wenig von ihm und erwiderte – für meinen Geschmack etwas zu bissig und beleidigt: „Hast du im Tor etwa so viel Zeit, dass du mich die ganze Zeit beobachten kannst? Kein Wunder, dass die Franzosen ein Tor schießen konnten!“ Iker sah mich einen Moment lang schweigend, aber doch sichtlich verletzt, an, flüsterte dann ein heiseres Du bist einfach nicht mehr der Raúl, den ich kenne und liebe und wandte sich von mir ab, um sich auf den Weg zum Tor zu machen. And if you go, I wanna go with you And if you die, I wanna die with you Take your hand and walk away Verdammt, was war denn nur mit mir los? Man konnte ja vieles über mich sagen[3] – und meistens stimme es auch noch – aber niemals zuvor hatte ich Iker so angefahren. Ich wusste, dass jedes Gegentor an seinem Stolz kratzte und war eigentlich der Letzte, der ihm einen Vorwurf machte, sollte dann doch mal ein Ball ins Tor fliegen. Ich hatte mich wirklich verändert und das nicht zum Guten. Man konnte sagen, ich war verbittert geworden. Aber das musste ich ja nicht an dem Menschen auslassen, der mit aller Macht versuchte gegen meine schlechte Laune anzukommen. Was für ein Volltrottel war ich eigentlich? Wenn ich schon viel früher auf Iker gehört hätte, dann wäre ich jetzt nicht so unter Druck und vor allem nicht so fertig. Wieso war ich nur so stur und verzichtete auf seine guten Ratschläge? Wo ich doch sonst immer auf ihn hörte und niemals etwas anzweifelte, was er sagte. Ich hatte nicht nur meine Fans und mich selbst, sondern vor allem auch Iker enttäuscht. Das war das erste Mal gewesen, dass ich ihn so angemeckert hatte. Dabei wollte ich im Grunde doch nur seine Nähe, seine Unterstützung und ein aufmunterndes Wort aus seinem Mund, das mir die nötige Kraft für die zweite Halbzeit geben konnte. Aber was machte ich? Versaute mir selbst alles. Ja, darin war ich Weltmeister. Im Enttäuschen und alles verbocken. Super, Raúl. So bewies man der ganzen Welt, wie erwachsen man doch war und wie gut man neuerdings mit Druck von außen und innen umgehen konnte. Wirklich wunderbar. Die Franzosen schufen sich eine gute Torchance nach der anderen und ich hatte noch nicht einmal einen Ballkontakt. Mein Spiel wurde immer schlechter und so war es keine große Überraschung, dass ich in der 54. Minute zusammen mit David Villa ausgewechselt wurde. The most loneliest day of my life Und obwohl ich so unzufrieden, wütend auf mich selbst und gefrustet war, übernahm ich ganz automatisch die Rolle des Seelsorgers, die ich so hasste. David war fertig mit den Nerven, er war genauso schlecht auf dem Feld gewesen, wie ich und das machte ihm zu schaffen. Als ich das sah, klopfte ich ihm aufmunternd auf den Oberschenkel und lächelte ihn vage an. „Wir schaffen das auch ohne uns“, sagte ich – nach außen hin – zuversichtlich und David brachte ein hoffnungsvolles Lächeln zustande. „Du hast Recht“, war seine Antwort, bevor wir beide in Schweigen verfielen. Aber mir war klar, dass das Spiel verloren war. Iker schien zunehmend unkonzentrierter zu werden, auch wenn er zwischendurch wirklich gute Momente hatte, in denen er gefährliche Torschüsse parierte, aber dennoch fielen für Frankreich noch zwei weitere Tore. Damit war Spaniens Schicksal besiegelt. Wir hatten wieder verloren, waren erneut schon früh im Turnier gescheitert und nur in der Vorrunde begabt. Unser Trainer war der Erste, der den Platz verließ. Ihm folgten alle Spieler, nur ich blieb auf der Bank sitzen und sah den Franzosen zu, wie sie jubelten und feierten. The most loneliest day of my life Einem plötzlichen Impuls folgend stand ich auf und ging zu meinem ehemaligen Teamkollegen von Real Madrid, um ihm zum Sieg und seinem 3:1 Tor zu gratulieren. Lächeln konnte ich dabei nicht, aber Zinedine Zidane übernahm das liebend gerne für mich. Ich verstand kaum etwas von dem, was er mir ins Ohr brüllte – so sehr feierten alle um uns herum. Niedergeschlagen setzte ich mich wieder auf die Bank und beobachtete den Jubel der Franzosen und ihrer Fans. Das war es also gewesen. Mein großer Tag, meine Revanche, mein Triumph. Irgendwie hatte ich den wohl übersehen oder er war mir in einem hektischen Moment doch glatt entwischt. Natürlich war mein Geburtstag die reinste Hölle geworden. Wieder musste ich zusehen, wie Frankreich feierte und erneut war es meine Schuld. Ich wollte gar nicht wissen, wie mich die Welt nun beschimpfte, wo ich doch eh schon der Sündenbock und Prügelknabe der internationalen, aber vor allem der nationalen Presse war. Ich starrte fassungslos auf den Rasen, so als würde er plötzlich mit mir reden und sagen, was schief gelaufen war. Aber dazu musste niemand mit mir reden – das konnte ich mir selbst beantworten. Wie hieß es so schön? Hochmut kam vor dem Fall. Und wie ich gefallen war. Den Tränen nahe beobachtete ich, wie die Franzosen langsam in Richtung Kabine verschwanden und auch die französischen Fans gingen. Die Spanischen waren schon lange weg – sie schämten sich für uns, was ich sehr gut verstehen konnte. Wir hatten ihnen so viel Hoffnung gegeben und sie bitter enttäuscht. The most loneliest day of my life Es wurde ruhig im Stadion und nach und nach gingen die Lichter um mich herum aus. Aber ich schaffte es einfach nicht mich von der Bank zu erheben. Noch nie hatte ich mich nach einer Niederlage so schlecht gefühlt. Ich verstand einfach nicht, warum mein Körper nicht mehr in der Lage war richtig Fußball zu spielen. Ich war im besten Fußballalter und doch schon so verbraucht wie einer der ganz alten Spieler. Wenn ich verdammt viel Pech hatte, dann war das hier mein letztes großes Turnier. Dieser Gedanke hob meine Stimmung aber auch nicht gerade. Ich wäre ewig dort sitzen geblieben – alles war besser, als nach Spanien zurück zu kehren – aber irgendwann, als es schon dunkel war, legte jemand seine Hand auf meine Schulter und setzte sich neben mich. „Komm mit mir nach Hause, Raúl.“ ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Ich hörte, wie in weiter Ferne die Turbinen starteten und dass sich jemand neben mich setzte. Ein leises und extrem besorgtes Raúl? drang mit einiger Verzögerung an mein Ohr, aber ich war unfähig zu antworten. Noch immer berührte meine Hand das kalte Glas, auf das der Regen nun mit voller Wucht prallte. Mein Kopf platzte beinahe vor Sorge und Angst vor dem, was mich in Spanien erwartete. Da war es selbst mir nicht möglich mich auf denjenigen zu konzentrieren, der mich gestern ins Hotel gebracht, umgezogen, schlafen gelegt, meine Sachen gepackt und mich ins Flugzeug verfrachtet hatte. Ich konnte alleine nur noch atmen und denken – und selbst das war schon zu viel für mich. Ich spürte, wie jemand meinen Gurt anlegte und mir sanft über meine Hände fuhr. Dieser Jemand schaffte es mit leichter Gewalt auch meine rechte Hand von dem Fenster zu lösen, um sie in meinen Schoß zu legen. Ein Blick dorthin genügte, um festzustellen, dass meine zitternden Finger von zwei hellen, schützenden Händen umgeben waren. Es waren Hände, die mir in den letzten Jahren all das gegeben haben, was ich so dringend brauchte: Zuversicht, Hoffnung, Halt und vor allem Liebe. Aber jetzt, in genau diesem Moment, wirkten diese Hände einfach nur bezaubernd schön und auf eine grausame Art jung. Unerreichbar jung... Es waren Ikers sanfte Berührungen mit seinen schlanken Fingern, die mich in die unabwendbare Realität zurückholten. Das Flugzeug startete und mein Herz setzte ein paar Sekunden aus. Es gab kein Zurück mehr für mich – mein einziger Weg führte jetzt nach Madrid, wo eine wütende Meute von Fans darauf wartete ihren Frust abzulassen. Wieder fingen meine Augen an schmerzhaft zu brennen und jetzt war es schon erheblich schwieriger für mich die Tränen zurückzuhalten. Doch erneut war es Ikers Stimme, die alle schlechten Gedanken aus meinem Kopf verdrängte. „Raúl?“ Dieses Mal antwortete ich mit einem angedeuteten Nicken. Nach Sprechen war mir nicht zumute. Ich erinnerte mich noch gut an die EM 2004 in Portugal, wo ich nach unserem Ausscheiden nach der Vorrunde zwei Tage lang nicht mehr gesprochen hatte. Zu dem jetzigen Zeitpunkt war ich mir aber nicht sicher, ob ich überhaupt jemals wieder sprechen wollte. Ich hatte sie verpasst. Die Chance mich an Frankreich zu rächen, meinen Ruf wieder herzustellen... zu zeigen, wer ich war und was ich konnte. Der Stern Raúl leuchtete noch, aber andere schienen einfach deutlich heller. Ich hatte keine Kraft mehr, um noch prachtvoller am Firmament zu stehen. Iker fuhr mir liebevoll durch meine Haare und legte behutsam meinen Kopf auf seine Schulter. In einem beruhigenden Rhythmus strich er mir immer wieder über meine Wange und gab mir so endlich die Erlaubnis den Schmerz aus meinen Augen zu verbannen. Zusammen mit einem strahlenden Stern an meiner Seite und unzähligen auf den Sitzen hinter mir flog das Flugzeug unbarmherzig schnell in meine ungewisse Zukunft in Spanien... ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Such a lonely day And it’s mine It’s a day that I'm glad I survived ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ ~ Wenn ein funkelnder Stern erlischt, was geschieht dann mit ihm? ~ ~ Der Stern an seiner Seite leuchtet so stark, dass es für beide reicht. So lange, bis der angeschlagene Stern genügend Kraft hat wieder von alleine zu strahlen. ~ ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ [1]Er konnte ihn mir nicht an den Kopf werfen, da das zum einen sehr schmerzhaft war und zum anderen hätte es für Iker Ärger gegeben. Außerdem war das manchmal richtig aufheiternd und brachte ein heiteres und somit befreiendes Lächeln meinerseits zustande. [2] Seltsamerweise bekam ich folgendes weniger oft mit: Was? Iker und Raúl sind schwul? oder Deswegen immer die gemeinsamen Hotelzimmer und, was mich am meisten überraschte, Das weiß doch jeder, aber das hat nichts mit Raúls Leistungen zu tun. Letzteres kam übrigens eher von den jüngeren Kollegen. [3] In Spanien war es ja landesweit bekannt, dass ich ein ziemlich temperamentvoll und verdammt nachtragend war. Für beides schämte ich mich eigentlich nie. Bisher hatte mir das im Fußball auch eher Vorteile verschafft. Zudem galt ich als der perfekte Mann, wenn es um das Lachen ging. Früher gab es eigentlich nur Fotos von mir, auf denen ich lachte. Mittlerweile findet man solche Bilder von mir so gut wie gar nicht mehr, da mir das Lachen gründlich vergangen ist. ================================================================== Übersetzungen El Niño = das Kind [Spitzname von Fernando Torres – wegen seinen braunen Hundeaugen, dem kindlichen Gesicht und den Sommersprossen] Fakten Zinédine Zidane ist deswegen der Ex-Teamkollege von Raúl und Iker, da er nach Abschließen dieser Saison in der Primera Divisíon seine Karriere bei Real Madrid beendet hat. Das Ende seiner Karriere in der Nationalmannschaft erfolgt nach dem Ausscheiden Frankreichs bei der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland. Songetxt: System of a Down – Lonely Day [empfiehlt sich auch das Lied beim Lesen zu hören ^w^] Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)