A Trip to Hell von mystique (Die Leiden des Seto Kaiba ∼ KaibaxWheeler ∼) ================================================================================ Kapitel 10: Tag 6: Sch(m)erzhaft ernsthaft ------------------------------------------ Tag 6: Sch(m)erzhaft ernsthaft Ich tat mich nie schwer mit Konflikten. Der Grund dafür war zweifellos, dass ich jemand war, der sie zwar nicht voller Enthusiasmus suchte (hieß ich doch nicht Wheeler), sie jedoch auch nicht umging oder gar vermied. Es lag in der Natur der Dinge, dass man nicht jedem Konflikt ausweichen konnte. Zugegebenermaßen war es auch keine Seltenheit, dass Konflikte in meiner unmittelbaren Umgebung entstanden, sei es als Resultat meiner alleinigen Anwesenheit oder meiner präzisen Wortwahl. Ich war schonungslos, wenn es die Wahrheit war, wenn es um die Schwächen oder den Nachteil anderer ging, ich war rücksichtslos - viele nannten mich voller kindischer Naivität rückgradlos. Es waren Menschen, die mit der Wahrheit nicht klarkamen, die sie nicht wahrhaben wollten. Wheeler war einer dieser Menschen. Wheeler war der eine Mensch. Wheeler war der einzige Störfaktor in meinem kategorisch geplanten Leben, den ich nicht umgehen, geschweige denn ausweichen konnte. Wheeler war schlimmer als jede Form von Klette, er war penetrant, aufdringlich und - was ihn auf besonders negative Art und Weise von anderen unterschied - er gab einen Dreck auf die Wahrheit. Man konnte ihm sämtliche Tatsachen argumentativ oder seinem Niveau angepasst verdeutlichen, sie konkretisieren, ihm demonstrieren oder schmerzhaft genau präzisieren, er ignorierte die Fakten. Er nahm sie nicht zur Kenntnis. Als besäße er als einziger die Berechtigung, meine Worte offen anzuzweifeln. Wheeler nahm nie ein Blatt vor den Mund, nicht einmal das Wissen um die Dummheit und die daraus resultierenden Folgen seiner Worte gebot ihm Einhalt. Er hielt sich bei mir nicht zurück, er war nicht vorsichtig, wie alle anderen Menschen, ihn interessierte mein Status nicht. Das irritierte mich. Es irritierte mich die vergangenen Jahre, in denen ich gezwungen war, dieselbe Schule wie er zu besuchen. Es imponierte mir nicht, vielmehr war es störend. Wheeler war lästig, doch nichts hielt ihn davon ab, er selbst zu sein. Er hatte nichts Bewundernswertes an sich, viel eher zweifelte ich seine kümmerliche Intelligenz an, doch Wheeler ließ sich nicht erklären. Zwar war sein Handeln berechenbar, insbesondere wenn er wütend war. Er war leicht zu reizen, schnell in seinem Stolz verletzt und darum manipulierbar, doch es störte ihn nicht. Er wusste es und machte einfach auf dieselbe eigensinnige und triviale Weise weiter - er gab nie auf, renitent wie er war. Und dennoch ... - gab es noch nicht einmal ein dennoch, um Wheeler zu beschreiben. Denn das war alles, was ihn ausmachte. In Wheelers kleiner, beschränkter Welt gab es nur seine Lösung, seine Ansicht, kein „aber“, „dessen ungeachtet“ oder „trotz allem“. Wheeler war „ich denke“, „so und nicht anders“ und „und wenn dir das nicht passt, Kaiba, dann kann ich dir auch nicht helfen!“. Wheeler war so. Immer. Nein, vielmehr ... wenn es um mich ging. Verdammt. oOo „Kaiba.“ Ich ignorierte die auf unangenehme Art vertraute Stimme und starrte schweigend auf die Nässe am Boden. Er würde früh genug erkennen müssen, dass ich jetzt nicht sprechen wollte. Was fiel ihm ein, mich überhaupt noch anzusprechen? Er sollte wissen, dass er der Letzte war, von dem ich in diesem Moment einen vermeintlichen Ratschlag gebrauchen konnte. Genauso gut hätte er versuchen können, mir nach der Niederlage bei meinem Battle City Turnier mit einem Lächeln auf den Lippen zu sagen die Welt geht weiter, also Kopf hoch - ist doch nur ein Spiel. Doch es war nicht bloß Spiel, genauso wenig, wie dies hier kein Spiel war. „Ich bin alleine, Kaiba. Joey räumt die Putzsachen weg.“ Das alleinige Nennen von Wheelers Namen zog eine Woge von Wut und Frustration mit sich. Ein Zittern durchlief meinen Körper und ich strich mir grober als notwendig einige nasse Strähnen aus der Stirn. Was kümmerte es mich, dass Muto alleine war? Er könnte mit der gesamten Heerschar seines lächerlich fiktiven Pharaonenstabes vor der Tür stehen und es wäre mir egal. Ich schwieg beharrlich für weitere sich in die Länge ziehende Minuten und erwartete voller Unruhe Wheelers Rückkehr, doch meine Befürchtungen bestätigten sich nicht, stattdessen entfernten sich unerwartet Mutos Schritte. Die Spannung wich spürbar aus meinem Körper, ich stieß einen langgezogenen Atem aus und schloss die Augen. Dies hier war der falsche Moment für unnötige Gedanken, für Gedanken über Wheeler oder alles, was ihn indirekt betraf, weil es mich betraf. Und es waren zu viele Gedanken, die diese Richtung einschlugen. Mehr als ich in diesem Moment verarbeiten durfte. Ich hätte es gekonnt - unter nüchterner Betrachtung, mit weitaus mehr Fassung, als ich in diesem Augenblick besaß und mit trockener Kleidung - doch nicht jetzt. Nicht hier. „Du siehst mitgenommen aus, Kaiba.“ Nicht mit Muto vor dem offenen Fenster des Zimmers! Bei dem ungedämpften Klang seiner Stimme schoss ich in die Höhe und starrte einige Sekunden entgeistert in Mutos ernste Züge. Dann kehrte die Fassung zu mir zurück und ich beruhigte mich. Es war bloß Muto. Muto, der mich auf diese penetrante, stechende Art musterte, während er sich mit den Ellbogen vom Fensterbrett abstützte. Muto, der in diesem Moment dieselbe irritierende Ausstrahlung hatte, wie bei einem Duell. Ich fixierte ihn strafend, dafür, dass er es gewagt hat, mich zu erschrecken, in meine - seit den letzten sechs Tagen auf kärgliche neun Quadratmeter, abzüglich Wheeler, geschrumpfte - Privatsphäre einzudringen und dafür, dass er die Unverschämtheit besaß, seinen Hang für nervenaufreibende und psychotische, mit der nichtphilosophischen Ein- und Auswirkung des Schicksals einhergehende Neigung zu einem Gespräch ohne nachhaltigen Sinn, an mir auszuleben. Unglücklicherweise zeigte Muto nie eine sichtbare Reaktion auf meinen Blick, tatsächlich schien ihn in bemerkenswert vielen Momenten - bevorzugt zu Zeiten eines Duells - nichts zu beeindrucken, wohingegen Muto zu anderen Gelegenheiten den Eindruck eines besorgten Grundschülers erweckte. Jeder noch so inkompetente Arzt würde Schizophrenie diagnostizieren. Oder zumindest Stress. Doch wahrscheinlich würde selbst diese Diagnose Muto nicht beeindrucken. Das Fensterbrett knarrte unheilvoll, als er sein Gewicht leicht verlagerte. Hörte er es denn nicht? Es riet ihm ganz eindeutig, kehrt zu machen und mich alleine zu lassen. Natürlich hörte er es nicht. Muto hörte sämtliche nichtvorhandene Stimmen, aber die Warnung eines Fensters nahm er nicht zur Kenntnis. „Was willst du?“, fragte ich leise und verschränkte die Arme. Ich gab mich so würdevoll, wie möglich. So würdevoll, wie ich triefend nass, mit strähnigem feuchten Haar und hinterlassenen Wasserflecken, dort, wo ich kurz vorher noch gesessen hatte, eben sein konnte. „Ihr habt ein Problem.“ Mutos Blick war schmal und prüfend, der Grund für diese übertriebene Ernsthaftigkeit war mir schleierhaft.. „Du hast ein Problem.“ Ihm sollte klar sein, dass er mir damit nichts Neues eröffnete. Ich kannte mein Problem, es besaß ein perfides Talent, sich mir mit beunruhigender Permanenz wieder ins Gedächtnis zu rufen. Mein Problem räumte soeben das Chaos auf, das unsere nicht unbedeutende Wasserschlacht zurückgelassen hatte. „Du weißt, dass du ein Problem hast, Kaiba.“ „Muto, ich würde dir danken, wenn du es unterlassen würdest, den Raum unnötigerweise mit Dingen zu füllen, die offensichtlich sind. Spar dir deinen Atem.“ Er neigte den Kopf und seine Mundwinkel zuckten kurz. „Nicht einmal ein voller Eimer Wasser schafft es, deine Fassung ganz wegzuspülen.“ Ich gab einen abfälligen Laut von mir, doch er fuhr ungerührt fort: „Dir ist klar, dass Joey mir ... uns das meiste erzählt hat.“ Natürlich hatte ich es gewusst, auch wenn ein nicht unbedeutender Teil von mir tatsächlich die Hoffnung gehegt hatte, Wheeler besäße genug Minimalverstand, um es nicht zu tun. Es war nun offensichtlich, dass dieser Minimalverstand nie existiert hatte. Doch eine kleine Ungereimtheit ließen Mutos Worte offen. „Das meiste?“, wiederholte ich. „Er ist nicht ins Detail gegangen. Er war offenbar taktvoll genug, uns nicht mit unnötigen Kleinigkeiten zu behelligen.“ „Kleinigkeiten? An diesem Desaster ist nicht die geringste Kleinigkeit.“ Ich wünschte, es wäre so. Großartig, Wheeler hatte es seinen nervigen Freunden also tatsächlich erzählt, er hatte es ihnen gesagt, sie wussten, was zwischen uns vorgefallen war. Es war weitaus schlimmer, wenn nicht nur Wheeler es wusste. „Ich gehe davon aus, dass euch klar ist, wie ihr mit diesem Wissen umgehen sollt“, bemerkte ich, vielmehr einer Drohung, als einer Frage gleich. „Jedem von euch.“ Muto schmunzelte. „Natürlich Kaiba.“ Die nächsten Worte taten weh: „Ich verlasse mich darauf, Muto.“ Es gab nichts weniger verlässliches als das Wort eines anderen. Doch Muto war der einzige, beim dem zumindest eine fünfundachtzige Wahrscheinlichkeit bestand, dass er Stillschweigen behielt. Ich würde mir sein Versprechen so bald wie möglich durch einen Vertrag bestätigen und absichern lassen. Ich musterte Muto eindringlich. „Wenn das geklärt ist, dann steht es dir frei, zu gehen.“ Er rührte sich nicht und ich wurde zunehmend ungeduldiger. „Muto.“ Ich machte eine auffordernde Kopfbewegung. „Du sollst gehen.“ Es war keine rücksichtsvolle Aufforderung, es war sogar mehr als ein Befehl. Ich gab ihm keine Optionen, nur die eine Möglichkeit und wenn er sie nicht wahrnahm, dann - „Kaiba, entscheide dich, was du willst.“ Ich wollte, dass er ging, dass er verschwand, verstand er das denn nicht? Außerdem hatte er dieselben Worte bereits vor vier Tagen zu mir gesagt. Oben, auf dem Turm in Ôsaka. „Muto“, ich hob die Hand an meine Schläfe, hinter der sich erneut ein unangenehmer Druck aufzubauen drohte, „hier geht es nicht darum, dass ich mich entscheide, hier geht es darum, dass du begreifst, dass ich nicht mit dir reden will und brauche.“ „Dann weißt du, was du tun musst?“ Ich ließ die Hand ruckartig sinken. „Muto“, sagte ich schneident. „Tu nicht so, als wärst du Wheelers Amme oder mein Psychiater, du bist an diesem ...“, mir viel kein Wort für dieses einem Schmierentheater gleichenden Geschehen ein, „nur indirekt beteiligt, genau genommen noch nicht einmal das, also halte dich da raus. Wheeler weiß bereits, wo sein Platz ist, ich habe es ihm deutlich gemacht und ihm sollte klar sein -“ „Kaiba, ich bezweifle, dass ein nasser Lappen ein Äquivalent zu deutlich machen ist.“ „Würdest du mich wohl ausreden lassen?“ Meine Beherrschung schwand, je länger ich gezwungen war, diese Unterhaltung mit Muto fortzusetzen. „Ein Lappen ist vielleicht nicht unbedingt adäquat, aber wirkungsvoll.“ „Selbstverständlich.“ Er lächelte noch immer auf diese provozierende Art, die ich das letzte Mal bewusst wahrgenommen hatte, kurz bevor er mich im Halbfinale besiegt hatte. Ich war mit wenigen Schritten am Fenster. Ohne ein weiteres Wort schob ich es zu, er wich rechtzeitig einen Schritt zurück. Beinahe hätte ich diesen Umstand bedauert. Zu meinem Missfallen lächelte er noch immer, wirkte nun regelrecht belustigt und formte mit den Lippen voller Unverschämtheit das Wort Schicksal. Meine Hand verkrampfte sich um den Fenstergriff. Muto, dieser elende -! Ich wandte mich ruckartig ab und kehrte ihm den Rücken. Das Fenster besaß keine Vorhänge mehr, ich hatte sie selbst vor Tagen in einem ähnlichen Moment der Unachtsamkeit herunter gerissen. Als ich einen flüchtigen, prüfenden Blick über die Schultern warf, stellte ich jedoch fest, dass Muto nicht mehr da war. Zurück blieben seine Worte - störend und überflüssig. Dieses Gespräch hatte genauso wenig Inhalt besessen, wie ich erwartet hatte. Es bestand kein nachhaltiger Sinn. Muto hatte meine Vermutungen nur bestätigt. Ich verzog missgestimmt den Mund, und begann, mich umzuziehen. oOo Zum ersten Mal auf dieser mehrtägigen Höllenfahrt war ich froh über einen Ausflug. Er bedeutete Ablenkung - oder zumindest konnte ich mir einreden, dass er ablenkende Aspekte mit sich bringen würde. Heute war der letzte Tag der Fahrt, morgen stand die Heimkehr an. Doch momentan waren meine Gedanken nicht bei diesem befreienden Lichtblick, vielmehr war ich damit beschäftigt, Wheeler zu ignorieren. Unsere Eskapade im Flur blieb weitgehend unkommentiert, woran mein unmissverständlicher Blick und einige gezielt gewählten Worte nicht unbeteiligt waren. Selbst Aoyagi-sensei zog es vor, Wheeler und mich nicht darauf anzusprechen. Meine Haltung schien Antwort genug zu sein. Stattdessen erklärte sie uns den Tagesablauf. Zunächst würden wir mit einem gemieteten Bus zum Ôsaka Schloss fahren und es besichtigen. Anschließend hätten wir freie Zeit, um uns das Gelände des Schlosses anzusehen. Es klang zumindest akzeptabel. Unter anderen Umständen hätte ich vermutlich auch gewisses Interesse gezeigt, doch meine Gedanken wurden von anderen Dingen beherrscht. Dinge, die ich mit Freuden aus meinem Kopf verbannt hätte, wenn es möglich gewesen wäre. Der Tag konnte zumindest nicht schlimmer werden, als er bereits war. Ich hätte nicht derart optimistisch sein dürfen. Den Weg zum Bus überstand unsere Gruppe weitgehend unbeschadet - sah man von der Übermütigkeit einiger Schüler ab, die es mit ihren primitiven Kindereien provozierten und von Gardner mitsamt weiblicher Rückendeckung eine schlagfertige Erwiderung bekamen. Von dem Punkt an war unsere Gruppe lediglich halb so laut wie vorher - oh Wunder! - und angstvolles Schweigen dominierte einige zuvor nicht belanglose Lärmquellen. Hinzu kam, dass Wheeler sich außerordentlich still verhielt. Der Bus überzeugte durch seine fehlende Präsenz. Die darauf folgenden Minuten gingen in allgemeiner Unruhe unter, während Aoyagi-sensei darum bemüht war, der Busvermietung am Handy logisch darzulegen, dass ein nicht anwesender Bus keinesfalls eine Bezahlung bedeuten würde. Ihr Gesprächspartner schien anderer Auffassung zu sein, verlangte offenbar trotz allem nach der ursprünglichen Summe, denn der Bus sei, wie ich aus den Worten erschloss, die sie Kaidou-sensei aus den Mundwinkeln zukommen ließ, pünktlich losgefahren. Es vergingen weitere fünfzehn Minuten, bis schließlich bekannt wurde, dass der Bus auf halber Strecke einer Reifenpanne erlegen war. Ein Ersatzbus stünde nicht zur Verfügung. Aoyagi-sensei verzweifelte. Beinahe hätte ich so etwas wie Mitleid mit ihr gehabt. Das war es dann wohl gewesen. Soviel zu meiner willkommenen Ablenkung. Doch ich hatte die Pädagogin unterschätzt. Sie ließ sich nicht von einer derartigen Fügung des humorlosen Schicksals aus der Bahn werfen. Und sie hatte sich nicht umsonst eine teure Rechnung für ein zwanzigminütiges Gespräch mit dem Handy innerhalb Ôsakas aufgebürdet, um eine ebenso teuer Rechnung der Busvermietung zu annullieren. „Wenn es einfach nicht geht, dann eben auf Umwegen“, eröffnete sie mit ernster Miene, als stünde sie kurz davor, ihre Schüler in die endgültige Schlacht zu schicken. Sie verwechselte da offenbar etwas. „Wir fahren mit der Bahn.“ Oder auch nicht. Wir hatten die Bahn benutzt, um zum Aquarium zu kommen und zum Strand zu fahren, doch wir waren nicht zur Zeit der Rush Hour gefahren. Und selbst dann waren die Abteile voll gewesen. Doch jetzt, zu diesem Zeitpunkt, kehrten sämtliche Arbeitskräfte von ihrer Mittagspause zurück. Ich wusste es, weil in meiner Firma die gleichen Zeiten herrschten. Ob man Aoyagi-sensei darauf aufmerksam machen sollte? Ich zog es vor, meine Mühe nicht erst zu verschwenden. Nicht einmal wissenschaftlich prognostizierende Aussagen hätten sie von ihrer Entscheidung abgebracht. Ich griff in meine Jackentasche und setzte mir die Sonnenbrille auf. Wenn wir nun doch unter eine derart große Menge Menschen gehen würden, sollte ich kein Risiko eingehen. Roland hatte nur mit Mühe die Information zurückhalten können, dass ich mit meiner Klasse eine Fahrt nach Ôsaka unternahm, die PR-Abteilung hatte offiziell bekannt gegeben, ich befände mich derzeit auf einer Tagung in London. Wenn nun aber Gerüchte über mich in Ôsaka aufkommen würden, käme das meinem Ruf nicht zugute. Widerwillig setzte ich die Kappe ebenfalls auf, die in den vergangenen Tagen zunehmend meine Abneigung auf sich gelenkt hatte. Was tat man nicht alles, für die eigene Firma. Während wir die Herberge hinter uns ließen und die nächste Bahnstation anstrebte, war ich darum bemüht, den reflexartigen Drang, ein Taxi zu rufen, bloß um der wertlose Erfahrung einer überfüllten Bahn zur Nachmittagszeit entgehen zu können, nieder zu kämpfen. Im dichten Gedränge der ein und aussteigenden Menschen versuchten unsere Lehrkräfte die Pläne zu interpretieren und unsere Route zu finden. Hilfe erhofften sie sich dabei auch von Kaidou-senseis Stadtplan, der, nach seinem Aussehen zu urteilen, mindestens zwanzig Jahre alt sein musste. „Hört genau zu“, schrie Aoyagi-sensei geradezu über den allgemeinen Lärm um uns herum - es war schon außergewöhnlich, dass eine derart große Schülerzahl sich um den Plan hatte scharren können - und formte dabei die Hände zu einem Trichter. Sie hätte sich bloß ein Megaphon mitnehmen brauchen. Ich erschauderte bei dem Gedanken. Nein, lieber doch nicht. „Wir nehmen erst den Zug zu Tennoji Station -“ „Da geht es zum Rotlichtviertel“, rief Taylor dazwischen und stieß Devlin den Ellbogen in die Rippen. Ich wollte lieber nicht wissen, woher er diese Information hatte. „Dann fahren wir weiter, bis zu Namba Station “, fuhr Aoyagi-sensei unberührt fort, strafte Devlin jedoch mit einem bösen Blick. „Dort steigen wir um und fahren zur Honmachi Station, wo wir erneut umsteigen werden und zwar in die Linie des Hoenzaka Interchanges. Dort steigen wir aus und werden den Rest des Weges zu Fuß gehen.“ Wenn auch nur einer von den Dilettanten sich den Weg tatsächlich gemerkt hatte, würde ich auf der Stelle vor Wheeler zu Kreuze kriechen. Lachhaft. Man konnte jetzt bereits Vermutungen darüber anstellen, wie viele Schüler es zum Hoenzaka Interchange schaffen würde, nachdem die Hälfte bereits beim ersten Umsteigen verloren gegangen war. Mein Mund verzog sich boshaft. Auf ins Gefecht. oOo Das Schicksal hasste mich. Es gab in dem überfüllten Abteil so wenig Platz, dass sich physikalisch gesehen lediglich drei Personen unter Aufbietung sämtlicher Dehnübungen noch hätten dazugesellen können. In unserer heutigen Zivilisation passen zehn Personen in diesen Freiraum. Oder - um es zu präzisieren - werden diese zehn Personen in den Freiraum gepasst. Denn von aktiver Handlung kann hierbei nicht die Rede sein. Alles geschieht passiv, wir einem zugefügt. Einer dieser, zu bemitleidenswerten Wesen gemachten, war ich. Das andere Etwas Wheeler. Er war nicht zu bemitleiden. Er war zu ignorieren. Zwecklos, wenn man auf einem für eine halbe Person gedachten Raum aneinander gepresst wurde. Äußerst zwecklos und unangenehm. „Pass doch auf, Kaiba.“ „Nimm deinen Fuß von meinem.“ „Du stehst auf meinem Fuß.“ „Atme mir nicht den Sauerstoff weg, Wheeler.“ „Welchen Sauerstoff, bitte?!“ „Und nimm deine Nase aus meinem Gesicht.“ „Nimm deine Visage lieber von meiner Nase, Geldsack!“ Wheeler war nicht minder gereizt als ich. Wenigstens hatten wir so eine Option, um die übermäßigen Aggressionen abzubauen. Oder es zumindest zu versuchen. „Komm mir nicht so nahe.“ „Denkst du mir gefällt es, Wheeler? Ich lege keinen Wert darauf, deine Flöhe -“ Der Rest des Satzes ging in einem erstickten Keuchen unter. Wheeler hatte mir seinen Ellbogen in den Magen gerammt. „Oh, entschuldige, gehörte das zu dir? Ist etwas eng hier ...“ „Du ... elender ...“ Ich verschluckte mich an meinen eigenen Worten und wurde von heftigem Husten geschüttelt. Meine noch von dem Beinaheertrinken und dem daraus resultierenden Husten gereizte Kehle reagierte darauf mit einem schmerzhaften Ziehen. „Wenn ... dich -“ Wheeler trat mir fest auf den Fuß und ich wäre zurückgezuckt, wenn dafür der Platz vorhanden gewesen wäre. „Ups.“ „Wheeler!“ Ich packte ihn am Kragen seines Shirts, als ein Ruck unvermittelt durch den Wagon ging und ich dem Köter rücklings in die Arme fiel. Eine Erfahrung, auf die ich gut und gerne hätte verzichten können. Wheelers Hände lagen auf meinen Hüften, unsere Nasenspitzen berührten sich beinahe. Erinnerungsstücke geisterten durch meinen Kopf, meine Augen weiteten sich, ich versuchte ihn von mir zu drücken, doch es gab keinen Platz dafür. „Verdammt, Wheeler.“ Schlecht, das alles entwickelte sich gegen mich. Ich hatte keine Kontrolle über die Situation - der Schalter für die Notbremse war außer Reichweite, ebenso die Türen. Ich konnte nirgendwo hin. Als hätte Wheeler meinen Gedanken gehört, kam er mir noch näher. „Na, wie fühlt sich das an, wenn man nicht weglaufen kann?“ Es war falsch, dass er den Spott, den ich mir immer für ihn aufhob, nun gegen mich verwendete. Ich starrte ihn durchdringend an, als ob ich ihn alleine dadurch zum Rückzug bewegen könnte. Natürlich blieb Wheeler ungerührt. Sein Gesichtsausdruck war ruhig, selbstsicher, fordernd. Und dann wurde mir bewusst, dass Wheeler wollte, dass ich defensiv reagierte, dass ich vor ihm zurückzuweichen versuchte. Wheeler war auf Kontrolle aus. Kontrolle, die mir gehörte. Kontrolle die ich in diesem Moment nicht besitzen konnte. Nicht mit Wheeler unmittelbar vor und an mir in einem beengten U-Bahnabteil, nicht mit seinen Händen derart weit unten, seinem Atem in meinem Gesicht. „Wheeler, ich warne dich.“ Nichts als leere Worte, das war mir bewusst, aber ihm musste es nicht bewusst sein. Er kam mir noch näher. „Du hast mich heute Morgen aus dem Zimmer geschmissen.“ Oh nein. Wheeler wollte immer noch darüber reden. Jetzt. Hier. Aber ohne mich. Er starrte mich konzentriert an, sein Gesicht bei dieser für ihn so Charakter untypischen Regung beinahe schmerzhaft verzerrt. „Aus dem Bett, um genau zu sein.“ Bei allen - war dieser Möchtegern-Klarsteller wirklich so erpicht darauf, es in einer U-Bahn in Ôsaka auf einem Raum von einem fünftel Quadratmeter mit mir zu klären? Und hatte ich ihm nicht vor wenigen Stunden unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass es nichts zu klären gab?! Und besonders nicht in einer U-Bahn! „Reiß dich zusammen Wheeler und heul nicht rum. Vergiss es einfach.“ „Denk nicht, ich würde es dir jetzt noch so leicht machen“, zischte er und kam mir - so unmöglich es eigentlich auch war - noch näher. „Nicht nachdem du dich wie der letzte Arsch verhalten hast.“ Gerade weil ich mich so verhalten hatte, müsste er mehr Grund denn je dafür haben, nicht mit mir darüber sprechen zu wollen. Er sollte nicht mehr mit mir darüber sprechen wollen. Dieser dumme Köter verstand selbst die simpelsten Absichten hinter meinem Handeln nicht - ich konnte es für ihn noch so leicht machen. „Du weißt, wir müssen darüber reden.“ „Wie oft soll ich es dir noch sagen: Es ist nichts passiert, worüber es sich zu reden lohnt. Vergiss es.“ Ich hätte ihm den Rücken gekehrt, wenn ich bloß genug Platz für diese Reaktion gehabt hätte, stattdessen musste ich mich damit begnügen, den Kopf geringfügig in eine andere Richtung zu drehen und Wheeler mit Nichtachtung zu strafen. Nicht annähernd so eindrucksvoll wie die geplante Reaktion gewesen wäre, aber besser als nichts. „Wheeler, wirklich“, mein Blick richtete sich für einen Moment verächtlich auf ihn, bis ich ihn dessen nicht mehr für Wert erachtete und stattdessen den Finanzteil der Zeitung eines unbeteiligt wirkenden Geschäftsmannes neben uns fixierte. „Man könnte meinen, du würdest ernsthaft an mir hängen, so stark wie du darauf beharrst.“ Ich wollte ihn verletzen, ihn angreifen, ihn - wenn ich es schon nicht praktisch tun konnte - verbal aus dem Abteil schubsen. „Ich kann ja verstehen dass du dich geehrt fühlst, weil immerhin ich es war und es sicherlich für dich auch bei dieser einen Erfahrung bleiben wird, aber bitte - dräng sie mir nicht auf. Eigentlich erinnere ich mich bereits heute nicht mehr wirklich daran und spätestens Morgen habe ich es vergessen, denn es gibt bedeutenderes für mich - anders als bei dir.“ Ich spürte, wie Wheeler sich neben mir verspannte, spürte, wie meine Worte ihn trafen, doch es kümmerte mich nicht. Ich hatte erreicht, was ich wollte. Er schwieg, betroffen und sicherlich durch die präzise gewählten Worte verletzt. Die Aktien der Kaiba Corporation waren gestiegen. Ich spürte bloß nicht ganz dieselbe Befriedigung wie sonst. Zu meiner maßlosen Enttäuschung ignorierte Wheeler mich von dem Zeitpunkt an nicht, obwohl er jedes Recht dazu gehabt hätte. Er hätte genau genommen die Pflicht dazu gehabt. Es war frustrierend, heute Vormittag hatte es mich gestört, dass Wheeler mich ignoriert hatte, jetzt wünschte ich es mir. Wurde ich etwa schon genauso sprunghaft in meinen Entscheidungen wie er? Natürlich, es war doch bloß eine Frage der Zeit, bis Wheelers Verhalten in dieser Woche über kurz oder lang auf mich abfärben würde, so eng wie wir aufeinander hockten. ... schlechte Wortwahl. Grauenvoll, um genau zu sein. „Wir müssen die nächste raus“, bemerkte Wheeler und stieß mir versehentlich sein Knie gegen mein Schienenbein. Ich zuckte nicht einmal, die Genugtuung wollte ich ihm nicht gönnen. Erst recht nicht das letzte Wort. „Korrigiere, Wheeler, wir hätten jetzt raus gemusst.“ Das Zischen hinter uns verdeutlichte, dass die Türen sich soeben wieder geschlossen hatten. Es war faszinierend, die Fassungslosigkeit sich auf seinem Gesicht ausbreiten zu sehen. „Warum hast du das nicht gleich gesagt?!“ „Du hast nicht gefragt.“ Ich war nicht versessen darauf, mir Aoyagi-senseis Kulturprogramm zu gönnen, genau genommen war der letzte Funken Interesse verloschen, als der Bus nicht aufgetaucht war. „Nicht gefragt?“ Wheeler wurde wütend. Na bitte, endlich ein Erfolg an diesem ach-so-tristen Tag. „Nicht gefragt?! Sag mal Kai-“ „Schrei den Namen noch lauter durch das Abteil“, fuhr ich ihm mit leiser Stimme dazwischen, „und wir werden bis heute Abend diesen Witz von einem Stehplatz nicht verlassen können. Nur dass dann noch weniger Rücksicht auf dich genommen wird als jetzt, was für mich - offen gesagt - von Sekunde zu Sekunde verlockender klingt.“ „Du hältst echt verdammt viel von dir, was?“, knirschte Wheeler mit zusammengebissenen Zähnen. „Ich bin realistisch, das ist alles.“ „Größenwahnsinnig trifft es eher.“ „Trotzdem hätten wir die Bahn bei der letzten Station verlassen müssen.“ „Das hilft uns jetzt viel.“ „Warum so schlecht drauf, Wheeler? Freu dich doch, dass zur Abwechslung deine falsche Behauptung zutrifft. Jetzt müssen wir wirklich an der nächsten Station raus.“ „Echt, Kaiba ... du bist doch ... aber wirklich.“ Und damit brachte Wheeler es für heute tatsächlich auf den Punkt. Ausnahmsweise. Aus der Bahn und in die richtige Richtung schafften wir es einzig durch mich. Ich hatte allerdings kurzzeitig mit dem Gedanken gespielt, Wheeler mit einer lachhaften Ausrede (die er, beschränkt wie er war, ernst genommen hätte) zur Übersichtskarte für die Bahnlinien zu schicken und dann einfach dort stehen zu lassen, nur um zu sehen, wie viele Wochen es brauchen würde, bis die Suchtrupps ihn auf Hokkaido auflesen würden. Jedoch hatte ich nicht genügend Restgeduld übrig, um Aoyagi-sensei zu erklären, wieso ich, der ich nie etwas verlor, Wheeler verlor. Darum lotste ich uns zurück zur richtigen Station, sonnte mich in Wheelers Überraschung darüber, dass ich den Weg von der Hoenzaka Interchange zum nord-westlichen Abschnitt des Schlossparks, dem Ôsaka Business Park, ohne große Mühe fand (Ich verlief mich schließlich nie). Eine schlechte Idee, dieser Weg. Dass sie von mir kam, machte es nur umso erbärmlicher. „Naa, Kaiba“, neckte Wheeler von links, „vermisst du es nicht? Schon sechs Tage so ganz ohne Gleichgesinnte?“ Sein Blick glitt verächtlich über die Anzug tragenden Angestellten, die an uns vorbeieilten, den Griff ihrer Aktenkoffer umklammernd, ein Handy mit der freien Hand ans Ohr gepresst. Sie nahmen keine Notiz von uns. Ich wollte Wheeler mit einem scharfen Kommentar über den Mund fahren, doch eine viel zu vertraute Gelassenheit ergriff mich, als ich diese Beschäftigung und Eile beobachtete. Sechs Tage, Wheeler hatte tatsächlich Recht. In beiderlei Hinsicht, wie ich widerwillig feststellen musste. Und Wheeler wusste sicher nicht einmal, wie man eine Krawatte band ... „Kaiba, noch da?“ Seine Stimme drang dumpf zu mir vor, ich wollte ihn nicht beachten. Wheeler war eine störende, lästige Lärmquelle. „He, ich rede mit dir, du kannst nicht einfach -!“ Ich ignorierte ihn. Erst das plötzliche Gekreische von Wheelers Jackentasche richtete meine Aufmerksamkeit schlagartig auf ihn. Ich verzog angewidert den Mund, als die barbarischen Laute anschwollen. Was. War. Das? „Oh.“ Wheeler beließ es bei einem äußerst sparsamen Kommentar und fingerte sein Mobiltelefon aus der Tasche. Der Köter besaß tatsächlich nicht einmal in der Wahl seiner Klingeltöne Geschmack. Keine Überraschung, wenn man es genauer bedachte. Der Lärm erstarb. „Ja?“ Ein neuer Lärm setzte ein. Selbst von meiner Position aus konnte ich Gardners augenblicklich einsetzenden Anschuldigungen und Beschimpfungen vom anderen Ende der Leitung hören. Wheeler kam nicht einmal dazu, nach Luft zu schnappen. „T-Téa“, versuchte er einzuwenden, „ich da- ... nein, wir hab- ... ich wollte ni- ... Téa!“ Sie ließ sich nicht unterbrechen. Wheelers Hilflosigkeit erfüllte mich mit Schadenfreude. Er starrte mich finster an, während Gardner unbeirrt weiter zeterte, dann hellte sich Wheelers Gesichtsausdruck unvermittelt auf. „Warte, Téa, ich geb’ dir Kaiba.“ Ich konnte nicht schnell genug reagieren, da hatte ich Wheelers (billiges und mit überaus lächerlichen Duel Monsters Anhängern behängtes) Handy am Ohr. Reflexartig griff ich danach und bemerkte zu spät meinen Fehler. „- soll das heißen, du gibst mir Kaiba? Joey? Verdammt Joey, was soll das? Kaiba, bist du das?“ „Gardner“, brachte ich mit aller Beherrschung, die ich allein nach ihren wenigen Worten noch besaß, heraus. „Ach Kaiba, was bin ich froh, dich zu sprechen. Ich hoffe, Joey war keine zu große Belastung. Wir haben uns ja alle solche Sorgen gemacht, Aoyagi-sensei ist vollkommen außer sich, weil sechs Schüler weg waren und dann ausgerechnet auch noch du. War es Joeys Schuld? Kaiba, ich bitte dich, sei nicht zu hart zu ihm, du weißt, wie er ist, und was immer er gesagt hat, gerade sagt oder noch sagen wird, er meint es nicht so, okay? Wo seid ihr gerade? Wir stehen am Sakura Gate, wir können euch entgegen kommen, wenn ihr wollt. Oder wir schicken jemanden, der euch abholt und -“ Ohne ein weiteres Wort legte ich auf. Wheelers Blick war es sogar wert. „Äh ... hast du Téa gerade abgewürgt?“ „Sie hat es provoziert“, stellte ich klar, mein Blick glitt über das Mobiltelefon in meiner Hand. Die übergroßen Augen eines Kuribohs blickten mit geradezu beleidigend wehleidig entgegen und ich schnaubte. Ich war noch immer der Ansicht, Pegasus musste nicht ganz bei Sinnen gewesen sein, als er diese Staubkugel entworfen hatte. „Ein Geschenk von Yugi“, bemerkte Wheeler peinlich berührt. Ich gab ihm das Telefon, nicht ohne spöttisch zu lächeln. „Natürlich, Wheeler.“ Die Anhänger klimperten leise, als Wheeler das Telefon an sich nahm. Wie ein Mädchen, dachte ich dabei. „Und ... was hat sie gesagt?“ Er versuchte, sich unbeteiligt zu geben. Nicht einmal gut schauspielern konnte er. „Viel“, bemerkte ich nüchtern, wandte mich um und ging weiter. Wheeler würde mir schon folgen, wenn er ankommen wollte. „Wie ‚viel’?“, fragte er, darum bemüht, mit mir Schritt zu halten. „Das beantwortet meine Frage nicht!“ „Das hatte ich auch nicht vor.“ Sollte er versuchen, sich an mir die Zähne auszubeißen. Ich konnte ihn schon regelrecht wütend bellen hören. „Versnobter Mistkerl.“ Ich konnte doch nicht widerstehen. „Sie hat sich vorsorglich für alles entschuldigt, was du bis jetzt gesagt hast.“ Ich warf ihm im Gehen einen hämischen Blick zu. „Sie gibt eine wunderbare Mutter für dich ab, Wheeler. Vorbildlich.“ „Téa ist nicht meine Mutter“, stellte Wheeler überflüssigerweise klar. „Und ich brauche niemanden, der für mich die Verantwortung übernimmt.“ „Bist du dir sicher?“ Unvermittelt änderte sich Wheelers Haltung. Selbstsicherheit kehrte in seinen Blick zurück. „Und was ist mit dir, Kaiba?“ Meine Miene gefror. Nein Wheeler, das würdest du nicht wagen! „Wieso bist du so sicher, dass du niemanden brauchst, der für dich die Verantwortung übernimmt?“ „Weeler, ich bin -“ „Seto Kaiba, ich weiß“, unterbrach er mich. Mit wenigen Schritten überholte er mich und stellte sich mir in den Weg. Er wirkte so lächerlich mit seiner gewöhnlichen Kleidung, seinen unordentlichen Haaren, seinem ganzen Auftreten - um ihn herum prunkvoll und teuer das Businessviertel Ôsakas. Ich blieb trotzdem stehen. „Du bist Seto Kaiba, du bist genau genommen mehr Kaiba als alles andere, Kaiba. Das ändert nichts daran, dass ich dich davor bewahrt habe, aufzufliegen, dass ich es war, der dein Leben gerettet hat. Wie viel Verantwortung davon hättest du in den jeweiligen Momenten übernehmen können, wenn ich nicht da gewesen wäre? Seien wir doch mal ehrlich, Kaiba, du hältst viel von dir, dein Ego ist an den meisten Tagen größer als das Riesenrad im Habour Village, aber wenn es darum geht Verantwortung zu übernehmen, dann bist du einmalig darin, dich zu drücken.“ Ich setzte bereits an, ihm zu widersprechen, doch er brachte mich mit einer resoluten Handbewegung zum Schweigen. Ich war für einen Moment so verblüfft über diese Dreistigkeit, dass ich Wheeler noch nicht einmal zurechtwies. „Nein Kaiba, kein aber oder eine hochgestochene Kaiba-Version davon. Du drückst dich vor der Verantwortung, ich hab die Nase voll von deinem ewigen ‚Was man totschweigt, ist auch nie passiert’ und ‚Ach ich ziere mich ja so, darüber zu sprechen’-Getue. Du benimmst dich wie eine verdammte Prinzessin!“ Prinzessin. Prinzessin, hatte er gesagt. Prinzessin?! Ich war in meinem Leben schon vieles genannt worden, aber als Wheeler mich an diesem Nachmittag, an diesem Ort, zu diesem Zeitpunkt Prinzessin nannte, geschah etwas mit mir. Ich erlangte keinen bahnbrechenden Geistesblitz, auch keine unverhoffte Einsicht - etwas schien zu reißen. Ich griff nach dem Telefon, dass er noch immer in der Hand hielt, ließ es auf den Boden fallen und beinahe im selben Augenblick - ohne auch nur mit der Wimper zu zucken - meinen Fuß darauf niederfahren. Mit einem wehleidigen Knirschen hauchte es sein Leben aus, der kitschige Abklatsch von einem Kuriboh wurde unter seinen Überresten begraben. Meine Lippen verzogen sich boshaft und ich verschränkte die Arme, den Fuß dabei noch einmal einige Zentimeter bewegend, die Geste mit dem leblosen Knirschen unter meiner Schuhsohle dramatisierend. Ich sah Wheeler an, registrierte den fassungslosen Ausdruck mit Genugtuung. Sollte er bloß noch einmal auf die Idee kommen, mich Prinzessin zu nennen. Beim nächsten Mal wäre es nicht sein Telefon, das meinem Fuß nachgeben würde. Ich würde ihm zeigen, wie viel Prinzessin ich war. „Ich werde dich dafür so zum Weinen bringen, Wheeler.“ Ohne es eigentlich beabsichtig zu haben, sprach ich den letzten Gedanken laut aus. Wheeler verspannte sich, schien nun seinen Fehler zu begreifen. Er ballte die Fäuste, dann grinste er nicht minder unheilvoll als ich. „Versuch es.“ Er deutete mit dem Daumen auf sich. „Ich warte.“ Damit hatte ich nicht gerechnet. Mit einem Schritt stand er unmittelbar vor mir, sah mich durchdringend an. „Versuch es, Kaiba“, sagte er leise und eindringlich. „Dir fehlt doch die Fähigkeit, im Nachhinein Verantwortung dafür zu übernehmen.“ Wheeler feixte, ich verengte die Augen. „Leg es nicht drauf an, Wheeler.“ „Doch Kaiba, genau das tue ich. Trau dich!“ die letzten Worte waren geflüstert, doch ich hörte sie klarer als alles andere. Und dann überraschte ich Wheeler, mich selbst und sämtliche Businessangestellte, die bis dahin ohne uns Aufmerksamkeit zu schenken, an uns vorbeigegangen waren. Im Schatten eines zwanzigstöckigen Bürogebäudes packte ich Wheeler am Kragen seiner verwaschenen Jeansjacke und zog ihn zu mir. Ich spürte seinen Atem auf meinem Gesich. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich meinen können, in Wheelers Blick ein Ich hab’s dir ja gesagt, Kaiba zu sehen. Und dann hielt ich inne. „Glaubst du allen Ernstes, ich wäre so leicht zu manipulieren, Wheeler?“, fragte ich leise. Und mit dieser Verweigerung von Wheelers direkter Forderung, diesem Innehalten kurz bevor er bekam, was er offenbar wirklich gewollt hatte, schockierte ich ihn mehr, als mit der mutwilligen Zerstörung seines Handys. Es war für mich bei weitem der schönste Moment des ganzen Tages. Hätte ich allerdings gewusst, wie Wheeler sich noch dafür revangieren würde, hätte ich ihn vielleicht doch einfach geküsst. ~*~*~ Now, I don't know and its hard to explain, but it seems like things are just kind of insane because the world is crying but nobodys listening so please leave a message on my cell phone ~*~*~ (Stuff Is Messed Up - The Offspring) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)