Kami no hito de mada shianai von abgemeldet (Noch nicht vollendet durch die Hand eines Gottes) ================================================================================ Von oben hallte es herunter: >>Marco?<< Der angesprochene, 17 Jahre alte Marco, dessen hellbraunes Haar seit einer Woche keinen Kamm mehr gesehen hatte und entsprechend aussah, bastelte gerade an einem Modell eines Kampfjets. Er rief seiner Zwillingsschwester im Erdgeschoss zu: >>Was'n lo-hooos?<< Sie antwortete: >>Hast du vielleicht in letzter Zeit etwas bestellt?<< Marco rollte mit den Augen. Resigniert seufzend stand er auf, ließ das unfertige Modell liegen und ging die Treppe hoch. Je mehr Stufen er beschritt, desto heller wurde es, doch das dumpfe donk-donk-Geräusch blieb immer gleich. Er blinzelte, da es in seinem Zimmer viel dunkler als hier war und rief nach seiner Schwester, mit der er zusammen hier lebte. Schließlich betrat sie den Raum. In ihren Armen hielt sie ein großes Paket. Es war so groß, dass Sandra mit ihm klein und etwas unbeholfen wirkte, und die Art, wie sie es hielt, stimmte mit der eines kleinen Mädchens, welches eine Puppe mit sich herumtrug, überein. Marco überlegte, krauste seine Nase und erwiderte auf Sandras Frage von vorhin: >>Nö, also ich hab nix bestellt.<< Seine kluge blonde Schwester mit den feuerrot gefärbten Haarspitzen und der flippigen Brille, die auf ihrer sommersprossigen Himmelfahrtsnase saß, gab zu bedenken: >>Es steht dein Name drauf!<< Ratlos zuckte er mit den Schultern und schlug vor: >>Wir könnten's ja mal aufmachen...<< Sandra sah zuerst etwas skeptisch drein, drückte Marco dann wortlos das Paket in die Arme und räumte alles, was auf dem aus Kiefernholz gefertigten Küchentisch stand, auf die Stühle: Zwei mit Bröseln bedeckte Frühstücksteller mit jeweils einem Messer darauf, an dem Nutella klebte, zwei Tassen, die hellgelbe Schachtel von Marcos Kampfjetmodell, ein Nokia-Handy, einen Gameboy und Die unendliche Geschichte. Marco stellte das Paket auf den Tisch, nahm das kurze, scharfe Messer, das Sandra ihm reichte, und öffnete es damit. Zum Vorschein kam eine zwischen Styroporteilchen gepolsterte, anscheinend viktorianische Porzellanpuppe. Sandra grinste und kicherte in sich hinein und Marco druckste verdattert vor sich hin. Schließlich schrie er, als ob man ihn aufs Übelste beleidigt hätte: >>Ich HAB die nich bestellt!<< Sandra konnte sich nun ein Mein-Bruder-hat-eine-PUPPE-bestellt-Gekicher wie von einer albernen Zwölfjährigen nicht mehr verkneifen. Sie beäugte das zarte Kunstgeschöpf genauer. Die Puppe hatte golden schimmernde Korkenzieherlöckchen mit einem schwarzen Spitzenhäubchen darauf, das Wort morbid passte perfekt auf sie, ihre Augen waren geschlossen, ihr Mund klein und rosa wie ein Wespenstich, und das Kleid, welches sie trug, war reichlich verziert mit Schleifen, Bändern, Rüschen, Borten und Spitzen. Es war überwiegend schwarz und weiß, passen zu ihrer blass cremefarbenen Porzellanhaut. Doch sie wirkte... untypisch. Nicht viktorianisch auf alle Fälle. So wie ein Franzose kein Haiku, kein richtiges Haiku verfassen, ein Japaner keinen richtigen frankobelgischen Comic zeichnen konnte, so konnte ein moderner Künstler keine viktorianische Porzellanpuppe fertigen. Und so wirkte diese Puppe hier auch. Nicht richtig. Doch da war noch etwas anderes. Es schien, als ob die Puppe sich erheben und sprechen könnte, als ob sie lebendig wäre. Sandra sah zu Marco herüber. Sie erkannte, dass er dasselbe dachte. Und, wie um ihren Gedanken zu bestätigen, sagte er: >>Mann. Die sieht aus wie'n schlafendes Baby...<< >>...mit seltsamen Proportionen.<< ergänzte seine Zwillings-schwester. Das stimmte. Die Puppe war einen guten halben Meter groß und hatte etwa die Körpermaße eines fünfjährigen Kindes. >>Wieso sie wohl die Augen zu hat?<< fragte Marco. Sandra vermutete: >>Vielleicht hat sie Schlafaugen?<< Sie nahm die Puppe vorsichtig um die Hüften und stellte sie hin. Sie blieb von alleine stehen, doch ihre Augen öffneten sich nicht. Marco fuchtelte mit der Hand vor ihrem Gesichtchen herum, als ob sie ein unter Hypnose stehender Mensch wäre und rief ungeduldig: >>Hallo-hooo! Werd mal wach, ey!<< Auf einmal geschah etwas, das ihn und seine Schwester erschrocken gut zwei Meter zurückweichen ließ, sodass sie fast ans Spülbecken knallten: Die unviktorianische, aus totem Porzellan gefertigte Puppe schlug ihre strahlend blitzblauen Glasmurmelaugen auf, rieb sich mit ihrer kleinen Hand das linke und nuschelte mit einer lieblichen Kindchenstimme wie von einer silbernen Glocke: >>Meine Schwester...<< Sandras und Marcos Augen waren schreckgeweitet, ersterer rann Angstschweiß von der Stirn, sie keuchte, hechelte und kreischte schließlich: >>WAS IST JETZT?! Wieso... wieso... was...<< Marco schüttelte nur vollkommen verstört den Kopf. Die großen Augen der Puppe blickten die Zwillinge herzzerreißend an. Sie fragte mit ihrer Silberglöckchenstimme: >>Habt ihr Angst vor mir? Wieso nur haben alle Angst vor mir?<< Sandra fing sich langsam wieder, doch sie vermochte die Frage der lebenden Puppe nicht zu beantworten. Sie fing an, ihr leid zu tun. In krassem Gegensatz brüllte Marco: >>Die Puppe spricht! Sie SPRICHT! Und fragt uns dann SOWAS?!<< Sandra näherte sich der Puppe wieder. Sie streckte ihre Hand aus. Sie berührte die Puppe. Sie stellte fest: >>Ich kann dich anfassen. Du bist keine Halluzination.<<. Die Puppe fasste Sandras Hand sanft an und sagte: >>Danke.<< Sandra definierte: >>Angst ist rational und eine völlig natürliche Reaktion auf etwas unbekanntes.<< Marco sah seine Schwester verständnislos an: >>Das versteht die doch nicht. Die ist bloß...eine Babypuppe!<<, doch die Puppe schien sehr wohl verstanden zu haben, denn sie fragte: >>Wieso sagst du mir das?<< Sandra erklärte: >>Damit du nicht mehr traurig sein musst, wenn jemand Angst vor dir hat. Lebende Puppen wie du sind uns eben Unbekannt.<< Die Puppe schloss die Augen: >>Oh.<< Dann öffnete sie sie wieder. Zwei blitzende Diamanten in dem fast farblosen Gesicht. >>Aber es gibt noch mehrere wie mich, da wo ich herkomme. Ich habe von jemandem geträumt, den ich nicht kannte...<< Plötzlich erinnerte Marco sich an etwas: >>Deine Schwester! Als du aufgewacht bist, haste irgendwas mit ner Schwester gesagt!<< Die Puppe antwortete etwas sehr Kryptisches: >>Ja, ich glaube, es war eine meiner Schwestern. Sie war noch nicht fertig und dem Meister egal...Vielleicht habe ich es nur geträumt, aber sehr lange. Ich vermisse sie, obwohl ich noch nie ihr Gesicht gesehen habe...<< Sandra wurde ernsthaft neugierig: >>Was redest du da?<< Die Puppe meinte: >>Das weiß ich nicht.<< Sandra bohrte weiter: >>Wie heißt du eigentlich?<< >>Wie unhöflich von mir...Ich heiße Dáiya Mondo.<< Marco prustete: >>Dáiya Mondo? Was'n das für'n Name?! Ich finde, Claudia würde besser passen. Claudia, wie die Kleine aus Interview mit einem Vampir, die, die Lestat gekillt hat!<< und gestikulierte, als würde er jemandem die Kehle durchschneiden, der doppelt so groß war wie er selbst, doch Sandra überlegte kurz, bis sie fragte: >>Ist dieser komische Meister vielleicht ein Japaner?<< Mit ihrer Stimme, die so klar wie Quellwasser war, erkundigte sich Dáiya Mondo: >>Warum fragst du das?<< Sandra begründete: >>Weil daiya mondo das japanische Wort für Diamant ist. Es wird vom englischen diamond abgeleitet.<< Die Augen, die vermutlich der Grund für diesen Namen waren, weiteten sich: >>Wirklich?<< Zur Bekräftigung nickte Sandra, während sie: >>Ja, ja!<< sagte. Dann forderte sie Dáiya Mondo auf: >>Erzähl mir von diesem Meister!<< Die engelhafte Porzellanpuppe antwortete kurz: >>Der Meister hat mich erbaut.<< Wenig beeindruckt, als wäre es vollkommen natürlich, eine rätselhafte Bemerkungen von sich gebende lebendige Puppe im Haus zu haben, bemerkte Marco: >>Geil. Jetz ist ja echt aaaalles klar.<< Dáiya Mondo überhörte es und fragte seine Zwillingsschwester mit ihrem Glöckchen von einer Stimme: >>Darf ich schlafen? Ich will meine Schwester wiedersehen...<< Leicht überrumpelt stotterte Sandra: >>Eh...ja...warum nicht?<< Sofort legte die Puppe sich mit unendlich anmutigen Bewegungen hin und schloss die diamantengleichen Augen. Sie wirkte wieder wie die normalste Puppe der Welt mit dem gewissen nicht richtigen Touch. Unsicher sahen Marco und Sandra sich an. Als wäre alles nur ein übler Traum gewesen, fragte Marco: >>Ähm...was war jetzt?<< Sandra schien ebenfalls nicht ganz sicher, ob das ebengeschehene wirklich das ebengeschehene war und nicht das ebengeträumte. Doch sie fasste sich kurzerhand ein Herz und stellte Dáiya Mondo wieder auf ihre Füße mit den kleinen schwarzen Mary Janes. Wie vorhin wurde die Porzellanpuppe wach, streckte sich auf sehr damenhafte Art und berichtete: >>Ich habe von meiner Schwester geträumt. Aber sie ist kein Traum.<< Flüsternd fügte sie hinzu: >>Und ich habe Angst vor ihr...<< Sandra war bestürzt: >>Warum das denn?<< Auf einen Schlag schien Marco zu begreifen, was hier überhaupt vor sich ging: >>Ja, ja, Sandra, lad doch die Puppe ein auf Kaffee und Kuchen, dann könnt ihr euch sicher gut unterhalten! Sandra, das ist eine lebende PUPPE!!!<< Sandra schien jedoch den größten Teil von Marcos Kommentar überhört zu haben und fragte Dáiya Mondo nur: >>Hast du...vielleicht Hunger?<< Sanft schüttelte die Angesprochene ihren Lockenkopf: >>Wie er bereits sagte, ich bin eine Puppe...<< Sandra fragte noch einmal: >>Wieso hast du Angst vor deiner Schwester?<< Apathisch erwiderte Dáiya Mondo: >>Wir wollen Liebe...<< Marco fuhr sie an: >>Was redest du immer für'n Kack?! Was ist das für 'ne Antwort auf Sandras Frage?<< Ungerührt kombinierte Sandra: >>Sie sagte, ihre Schwester sei noch nicht fertig und diesem komischen Meister egal, und das heißt, dass sie keine Liebe bekommt. Aber was ist das für ein Grund, Angst vor ihr zu haben?<< >>Sie wird mir folgen. Meine Schwestern schlafen oder sind kaputt...ist das nicht traurig?<< Ohne auf eine Antwort zu warten, obwohl sie sah, dass den Zwillingen welche auf den Lippen lagen, wobei sie bei Marco vermutlich wesentlich sarkastischer ausgefallen wäre als bei Sandra, fuhr die hübsche Puppe flüsternd fort, doch ein Angstschrei hätte nicht eindringlicher sein können: >>Sie kommt zu mir. Ich spüre es. Sie ist vom Meister geflohen, weil er sie ignoriert. Sie ist nicht fertig. Sie kommt immer näher. Sie will mein Schicksal...<< Sie drehte sich zum Fenster. Draußen war ein gräulich-verschwimmender unschöner Sonnenuntergang. Marco und Sandra wandten sich ebenfalls um. Am Fenster war ein nackter Porzellanarm zu sehen, der einen ganzen Körper hochzog, auf dem Kopf unfrisiertes hellblondes Haar, keine Wimpern an den Augen, die nicht minder faszinierend als die von Dáiya Mondo waren, unbemalte Lippen, die sie wie eine Dämonin wirken ließen, keine Kleidung außer einem sehr dünnen, ehemals wohl weißen, schmutzigen Unterkleidchen. Sie starrte ihre Schwester an. Marco flüsterte wie als Entschuldigung: >>Die ist wie Claudia.<< Sie wussten nicht, was sie tun sollten. Das dünne Kunstgeschöpf da draußen wirkte so mitleiderregend, doch Dáiya Mondo schien höllische Angst vor ihm zu haben. Sandra schüttelte langsam den Kopf, öffnete das Fenster und nahm die unfertige, lieblos behandelte Porzellanpuppe mit hinein. Diese hörte nicht auf, Dáiya Mondo anzustarren. Schließlich sagte sie mit einer Stimme, die wesentlich rauchiger war als die ihrer Schwester: >>Ich wollte sein wie du...<< Dann tat sie, was niemand erwartet hätte: Mit ungeheurer Kraft stieß sie sich von Sandra ab und schnellte direkt auf Dáiya Mondo zu. Sie schlug sie heftig, doch ihre Schwester versuchte den Schlag aubzuwehren und ein Splitter ihrer rechten Hand flog erst gegen die Wand, dann auf den Boden. Sandra und Marco waren entsetzt. Dáiya Mondo fiel fast nach hinten um, ihre Schwester stürzte sich auf sie und zusammen knallten sie auf einen der Stühle. Die Zwillinge waren vor Schreck unfähig, irgendetwas zu tun. Außer den beiden Porzellanpuppen landeten auch Die unendliche Geschichte und ein Frühstücksteller auf dem Boden. Der Teller zerbrach. Das brachte Marco auf eine Idee: Er nahm das Buch und schlug damit fest die unfertige Puppe. Sie zerbarst und blieb liegen. Sandra nahm, einen großen Bogen um die tote Puppe machend, die traumatisierte Dáiya Mondo in den Arm und wich wieder zurück, als die Glasmurmelaugen in dem zerbrochenen Kopf sich ihr zuwandten. Der unbemalte dämonische Mund erklärte mit zorniger, doch erstickender Stimme: >>Wir Puppen sind Modelle von Menschen. Oder die Menschen sind Puppen, wie man es nimmt. Unser Meister ist unser Gott. Euer Gott ist euer Meister. Er hat euch gemacht, jetzt seid ihr ihm egal. Und deshalb seid ihr wie wir, wie ich. Ihr missgünstigt einander und bringt euch deshalb gegenseitig um. Weil ihr egal seid. Einfach vergessen. Das ist nicht schön. Vielleicht hatte der Meister diesen Hintergedanken, als er mich nicht mehr wollte. Lernt daraus. Ich will nicht umsonst gestorben sein.<< Der auf dem Stuhl liegende Arm griff nach der Packung des unfertigen, unten im Zimmer vergessenen Kampfjetmodells und danach bewegte sich nichts mehr. Dáiya Mondo vergrub den Kopf in Sandras Armen und fragte: >>Bekomme ich Liebe von euch?<<. Diese versicherte: >>Ja, bekommst du.<< Dann deutete sie auf die Scherben und meinte traurig: >>Sie hat ein schöneres Grab verdient als den Mülleimer.<< Sie starrten noch lange den Haufen Scherben an, der für sie die Bedeutung einer Leiche hatte, eines gestorbenen Menschen. Marco flüsterte: >>Wie Claudia. Fast wie Claudia.<< und Sandra bestätigte: >>Auch sie konnte nichts dafür. Eine unschuldig Verdammte.<< Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)